Eine Bibliothek der Menschen

das ist ein GNM+ ArtikelRadikale Offenheit: Der Erfolg der Human Library Organization

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von | 21. November, 2022

Der Mensch als Buch: In der Human Library öffnen sich menschliche Bücher den Fragen ihrer “Leser:innen” und klären so über Tabuthemen auf.

Dabei sind wirklich alle Fragen erlaubt und erwünscht. Und zwar gerade die unangenehmen. Denn in der Human Library geht es darum, genau das zu thematisieren, was in unserer Gesellschaft sonst tabu ist. Das Ziel? Ein offener Austausch, der unsere Gesellschaft verständnisvoller macht und Stigmata abschafft. Im Interview erklärt Gründer Ronni Abergel, was die Human Library ausmacht, wie sie funktioniert und vor allem: Warum unsere Gesellschaft sie braucht.

Neu und schockierend anders

Ronni Abergel hat die Human Library Organization nicht nur ins Leben gerufen, sondern dafür gesorgt, dass inzwischen Menschen aus der ganzen Welt an ihren Veranstaltungen teilnehmen. Schon kurz nach dem Beginn unseres Gesprächs kann ich nachvollziehen, wie er das geschafft hat. Denn der Mann, der mir virtuell gegenübersitzt, ist unglaublich energiegeladen und voller Begeisterung. Obwohl wir uns nur am Bildschirm sehen und mehrere 100 Kilometer Luftlinie zwischen uns liegen, fühle ich mich davon angesteckt. Jetzt verstehe ich, wie dieser Mann es geschafft hat, aus einer Idee eine erfolgreiche Organisation zu machen.

Denn am Anfang stand genau das: eine Idee. Im Frühjahr 2000 wurden Ronni Abergel, sein Bruder Dany und ihre Kolleg:innen Asma Mouna und Christoffer Erichsen gebeten, einen Beitrag für das Roskilde Festival, das größte Festival für Musik und Kunst in Nordeuropa, zu konzipieren. Das Ergebnis ihrer Überlegungen war das Konzept einer menschlichen Bibliothek.

Ronni Abergel
Gründer Ronni Abergel steht mit vollster Überzeugung hinter der Human Library. Foto: Human Library Organization

“Wir wollten etwas machen, das neu und anders ist, ja sogar schockierend”, sagt Ronni Abergel später. Die Idee: Menschen, die Erfahrung mit gesellschaftlichen “Tabu-Themen” haben,, öffnen sich im Gespräch wie ein Buch und beantworten alle Fragen ihres Gegenübers. Durch den ehrlichen Austausch sollen die Leser:innen dazu gebracht werden, die Vorurteile, die sie gegenüber Menschen mit einem bestimmten Hintergrund oder Stand in der Gesellschaft haben, zu hinterfragen. 

“Da kam zum Beispiel dieser Mann zu mir und meinte: ‘Ich habe noch keinen Tag in meinem Leben gearbeitet, ich bin ein Außenseiter, ein Randmitglied der Gesellschaft’”, erzählt Ronni Abergel, “und ich dachte mir: perfekt!”. Die Zahl der Bücher stieg stetig an, am Ende stellten sich über 75 Personen zu mehr als 50 verschiedenen Themen den Fragen der Lesenden. Diese nahmen das Angebot wahr: “Wir waren komplett ausgebucht, vier Tage lang, acht Stunden am Tag!” schwärmt Abergel. Tatsächlich besuchten mehr als 1000 Menschen im Lauf des Festivals die menschliche Bibliothek.

Von Roskilde in die ganze Welt

Für Ronni Abergel war danach klar, dass dies nicht der letzte und einzige Auftritt der Human Library bleiben konnte. So setzte er alles daran, aus der Idee ein Konzept zu machen, das sich selbst tragen konnte. Am Anfang war es nicht immer einfach, wie er erzählt. Denn in den ersten Jahren wuchs die Bekanntheit der menschlichen Bibliothek nur langsam. Heute sieht das anders aus: Die Human Library Organization veranstaltet Events in verschiedenen Ländern, von den USA über Großbritannien bis nach Deutschland. Gerade in den letzten Jahren ist die Zahl der Bücher und Leser:innen, aber auch die der Mitarbeitenden rasant gewachsen. “In zehn Jahren könnten wir 200 Angestellte haben, wenn es so weitergeht!” begeistert sich Abergel.

Auch Online-Veranstaltungen gibt es inzwischen und Abergel strahlt, als er die Namen der Länder aufzählt, aus denen sich regelmäßig Lesende zur virtuellen Human Library zuschalten: Afghanistan, Indien, Brasilien, Südafrika, … “Eine Bücherei ist für mich der einzig wirklich inklusive Ort auf der Welt”, erklärt er, “und indem wir das Internet nutzen, können wir noch inklusiver werden”. Darum soll das Online-Angebot weiter ausgebaut werden, derzeit arbeitet das Team an einer Software, “einem virtuellen Bücherregal, wo man sich einloggt, eine Büchereikarte bekommt und dann kann man ein Buch auswählen und erhält Zugang von überall auf der Welt.”  

Zugänglichkeit, Nachhaltigkeit, Qualität

Projekte wie das virtuelle Bücherregal sind nur möglich, weil die Human Library Organization inzwischen die nötigen Ressourcen hat. Ronni Abergel ist stolz darauf, dass die Organisation inzwischen finanziell auf eigenen Füßen steht. Denn zu Beginn hatte das Projekt kaum eigene Mittel, den Großteil der Kosten bezahlte Abergel aus eigener Tasche. Um das Überleben der Human Library zu sichern, entschloss er sich darum, das Konzept der menschlichen Bibliothek an Unternehmen heranzutragen.

Heute gibt die Human Library Organization Workshops zu Themen wie Inklusion und Diversität am Arbeitsplatz. Die Nachfrage ist groß: “Willst du wissen, wie viele Unternehmen ich im letzten Jahr selbst angerufen habe? Null! Sie kommen ganz von selbst auf uns zu!”, freut sich Abergel und beantwortet die Frage nach dem Warum gleich selbst: “Wo würdest du lieber arbeiten? Doch sicher an einem Ort, wo du wertgeschätzt und verstanden wirst!”

Die finanzielle Eigenständigkeit ist für Abergel so wichtig, weil sie eine unabhängige und langfristige Zukunftsplanung ermöglicht. Die Human Library soll weiter wachsen, Abergel träumt von Standorten in LA, Chicago, San Francisco. Dafür ist ein strukturiertes Konzept nötig, das die Grundprinzipien der Human Library an jedem neuen Standort umsetzbar macht. Ronni Abergel fasst das in drei Schlagworten zusammen: Zugänglichkeit, hohe Qualität, Nachhaltigkeit. 

Nicht umsonst ist die Human Library inzwischen ein geschützter Begriff. Nur, wenn der Ansatz in all seiner Inklusivität und Diversität und entlang der festgelegten Leitlinien umgesetzt wird, so Abergel, kann sichergestellt werden, dass die Erfahrung bereichernd ist, für die Lesenden genauso wie die Bücher. Denn bei allen Erfolgen und Zukunftsplänen bleibt eines unumstößlich: Im Zentrum stehen immer die Bücher. 

Wahre Helden

Die Bücher sind das Herz der Human Library. Darum gibt es für Ronni Abergel keine Zweifel, als ich ihn frage, was die Human Library Organization so besonders macht. “Wir haben einige der mutigsten Menschen überhaupt gefunden. Menschen, die bereit sind, sich Fragen zu den schwierigsten Themen unserer Gesellschaft zu stellen und ehrlich von sich und ihren persönlichsten Erfahrungen zu erzählen”,  antwortet er ohne zu zögern. 

“Die Bücher sind die wahren Helden.”

Ronni Abergel

Denn gerade die Persönlichkeit des Austauschs macht wahres Verständnis für ihn erst möglich. Darum wünscht er sich auch von den Lesenden den Mut, ihre Komfort-Zone zu verlassen: “20 Jahre lang ging es beim Thema Inklusion um Repräsentation und Statistiken. Jetzt ist es Zeit für eine hands-on Erfahrung. Redet mit den Menschen, schaut ihnen in die Augen und fragt sie die Fragen, auf die wir alle gerne Antworten hätten. Fragen, die mit Stigmata verbunden sind, die tabu sind, sogar mehr als tabu. Fragen, die ihr in einem Gespräch in einem normalen sozialen Kontext niemals stellen würdet.” 

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„Unjudge someone“, auf Deutsch in etwa „lass deine Vorurteile gegenüber jemandem fallen“, ist das Motto der Human Library. Dabei ist absolute Offenheit von Büchern und Lesenden gefragt. Foto: Human Library Organization.

Geschichten, die aufrütteln

Durch den ehrlichen Austausch habe es im Laufe der Jahre viele bewegende Momente gegeben, erzählt Ronni Abergel. Doch es gibt Geschichten, die ihm besonders im Gedächtnis geblieben sind. Eine davon teilt er mit mir. 

Vor einigen Jahren, berichtet Abergel, sei ein Leser zu einer Veranstaltung der Human Library gekommen. Das Buch, das er wählte, war Opfer von Inzest. Der Leser stellte sich dem Buch vor mit seinem Namen und den Worten: “Ich bin pädophil. Ich brauche deinen Rat, wenn du damit einverstanden bist, mit mir zu reden.” 

So erzählte er dem Buch seine Geschichte. Nach dem Missbrauch seines eigenen Kindes war er mehrere Jahre im Gefängnis gewesen, inzwischen in psychologischer und medikamentöser Behandlung. Nun war er hier, mit einer großen Bitte: “Ich brauche deine Hilfe. Wie kann ich irgendwie den Schaden verringern, den ich meinem Kind zugefügt habe?” Und das Buch erklärte sich bereit zum Gespräch.

Während er erzählt, wird Ronni Abergel ruhig, sein vorheriger Übermut ist verflogen. Aus seiner Stimme klingen Bewunderung für sein Buch und Respekt, als er sagt: “Diese Geschichte hat mich aufgerüttelt und mich zum Nachdenken gebracht. Wer bin ich, zu urteilen?”

Ehrliche Antworten auf schwere Fragen

Aufrütteln und zum Nachdenken bringen, das ist das Ziel der Human Library Organization. Denn die Bücher sind Menschen, die aufgrund ihrer Stellung, aufgrund von Krankheiten oder Erfahrungen in ihrer Biographie besonders häufig mit Vorurteilen konfrontiert werden. Sie bewerben sich als Freiwillige bei der Human Library, um das zu ändern. 

Manche der Bücher sind Leser:innen vergangener Veranstaltungen, die nun selbst etwas beitragen wollen, berichtet Abergel, doch viele andere hören über andere Wege von der Human Library und wollen Teil davon sein. “Jeden Tag erhalten wir Nachrichten von Menschen aus aller Welt, die bei uns mitmachen wollen”, schwärmt er. “Sie wollen Bücher sein, sie wollen ihr Wissen verbreiten und mehr Verständnis schaffen”. 

Dabei geht es nicht darum, andere Menschen zu bekehren, betont er. Vielmehr steuern die Fragen der Lesenden das Gespräch. Die Aufgabe der Bücher ist es, sie so offen und aufrichtig wie möglich zu beantworten. Wie fühlt es sich an, auf der Straße angestarrt zu werden, weil man komplett tätowiert ist? Was bedeutet Polyamorie und wie schafft man es, mehrere Beziehungen gleichzeitig unter einen Hut zu bringen? Wie fühlt es sich an, transgender zu sein? Und auch die emotionalen, schweren Fragen werden gestellt und beantwortet: Wie macht man weiter, wenn man ein Kind verloren hat? Was treibt einen Menschen dazu, einen Suizidversuch zu begehen? 

Es sind Themen, bei denen viele von uns wahrscheinlich erst einmal schlucken müssen. Aber genau darum, davon ist Abergel überzeugt, braucht es den offenen Austausch darüber. 

“Wir kümmern uns um unsere Bücher”

Dass der Austausch schwierig sein kann, für Buch und Leser:in, ist ihm jedoch durchaus bewusst. Darum gibt es bei jeder Veranstaltung der Human Library Organization eine Einführung, bei der die Lesenden über das Konzept und den Ablauf aufgeklärt werden. Zudem ist immer geschultes Personal anwesend, an das sich Leser:innen wenden können, wenn die Erfahrung zu intensiv wird. 

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Freiwillige erklären neuen Leser:innen am Anfang jeder Sitzung das Prinzip der Human Library und führen sie durch die Themen, die zur Auswahl stehen. Foto: Human Library Organization

Auch die Bücher werden umfangreich geschult. Übungseinheiten, Prüfungen und Supervisionen sind Teil der Vorbereitung, zudem “lesen” sich die Bücher gegenseitig, um ein Gefühl für die Erfahrung zu bekommen. Vor jedem Event werden die Bücher gefragt, wie es ihnen geht und ob sie sich für den Austausch bereit fühlen. Wenn nicht, können sie sich jederzeit spontan gegen die Teilnahme entscheiden. Wenn ja, gibt es im Anschluss eine Nachbesprechung. Zudem können die Bücher sich jederzeit an ein Team aus Psycholog:innen wenden.

“Wir kümmern uns um unsere Bücher”, stellt Abergel klar und betont mehrmals: “Das Allerwichtigste ist, dass es unseren Büchern gut geht!”

“Sein, wer ich bin”

Dass es Abergel mit dieser Aussage ernst ist, wird spürbar, als ich ihn bitte, mir mehr über die Menschen zu erzählen, die sich im Bücherregal der Human Library als menschliches Buch aufstellen lassen. Strahlend berichtet er von dem Buch, das innerhalb eines Jahres von einem schüchternen Mann mit sozialen Ängsten zu einem der engagiertesten, offensten Bücher der Bibliothek wurde. Oder von einer Frau, die innerhalb von fünf Jahren als Buch bei der Human Library immense Fortschritte im Kampf gegen ihr Übergewicht machte, ihre Medikamente gegen Schizophrenie absetzen konnte und nach sieben Jahren Arbeitslosigkeit wieder anfing zu arbeiten.

“Die persönliche Entwicklung unserer Bücher ist unglaublich mitzuverfolgen und wir sind so stolz, dass wir manchen dieser Menschen beistehen können. Diese Arbeit kann kathartisch sein.”

Ronni Abergel

Freundschaften und sogar Liebesbeziehungen hätte die Human Library hervorgebracht, so Abergel, auch wenn das natürlich nicht das vordergründige Ziel sei. Wichtig sei für die Bücher vor allem die Erfahrung, dass sie gehört und angenommen werden: “Was die Bücher uns sagen, ist: ‘Das hier ist mein Safespace, wo ich mich akzeptiert fühle. Das ist der einzige Ort, an dem ich wirklich sein kann, wer ich bin’. Und ist das nicht das, was wir alle wollen?”

Ein Konzept voll Gewinner

Genau weil uns dieses Ziel eint, ist die menschliche Bibliothek auch für alle so bereichernd. Denn im Austausch gewinnen beide Seiten, erklärt Abergel: “Die Bücher erfahren, dass sie verstanden werden. Und sie verstehen sich auch selbst besser. Die Leser:innen überwinden ihre Hemmungen, gewinnen immer mehr Verständnis, finden Gemeinsamkeiten und erkennen und hinterfragen ihre unbewussten Vorurteile.” 

Doch damit nicht genug. Wenn nämlich Verständnis und Respekt allgegenwärtig werden, fragt Abergel rhetorisch, “wer gewinnt am Ende? Die Gesellschaft!”

“In den 49 Jahren, die ich auf diesem Planeten bin, habe ich noch nie etwas gesehen, wo es so viele Gewinner gibt, es gibt niemanden, der verliert! Normalerweise muss es immer jemanden geben, der verliert, aber nicht hier. Es ist ein triple-win: Für die Leser, die Bücher und die Gesellschaft.”

Ronni Abergel

Hier, weil wir gebraucht werden

Wer noch gewinnt, ist die Human Library Organization. Die wachsende Zahl der Bücher und Lesenden, das Interesse von Menschen aus aller Welt und zunehmend auch von Organisationen und Unternehmen ist für Ronni Abergel die Bestätigung “dass wir gebraucht werden. Wir haben Erfolg, weil die Menschen sich das wünschen, was wir ihnen geben können.”

Dennoch gibt es auch einen Teil von ihm, der sich wünscht, dass die Human Library gar nicht nötig wäre: “Ich hoffe, dass ich eines Tages meinen Job los bin, nicht, weil wir alles verloren haben, sondern weil wir es geschafft haben. Mission erfüllt.” Ob das wohl realistisch sei? Vielleicht nicht in den nächsten zehn bis 20 Jahren, schätzt Abergel, “aber wir sind auf einem richtig guten Weg!” Auf dem Weg zu einer Gesellschaft, in der wir keinen Anstoß von außen brauchen, um Verständnis für unser Gegenüber zu entwickeln. Sondern eine, “in der wir diese Menschlichkeit jeden Tag zeigen und leben”. 

Organisationen wie die Human Library bringen uns diesem Ziel jeden Tag ein Stück näher. 

Neugierig, wie ein Besuch der Human Library abläuft? Unsere Redakteurin Pia war online als Leserin dabei und berichtet von ihren Eindrücken. Den Artikel findet ihr in unserem Print Magazin.

Beitragsbild: Human Library Organization

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    Luisa Vogt

    Luisa Vogt ist stellvertretende Print-Chefredakteurin beim Good News Magazin und liebt Sprachen, Reisen und das kennenlernen verschiedenster Kulturen. Beim Good News Magazin lebt sie ihre Leidenschaft für Sprache und für spannende, schöne Berichte aus aller Welt - weil die Welt viel mehr realistischen Idealismus braucht. Außerdem studiert sie nach ihrem Bachelor in Englisch und Französisch inzwischen im Master Asien- und Afrikastudien in Berlin und arbeitet als Lerntherapeutin.

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