„Wir sind der homo hoffnorum“

das ist ein GNM+ ArtikelWarum wir nur mit Hoffnung weiter kommen

von | 28. Juni, 2023

Klimakrise, Demokratiekrise, Menschenrechtskrise — im Angesicht der vielen metaphorischen und echten Brände rund um den Globus scheint schnell alles ziemlich aussichtslos. Der Grundtenor in vielen Gesprächen: Warum gegenlenken, wenn wir sowieso über die Klippe rasen? Und trotz allem suchen Unzählige den Bremsschalter und kämpfen für die gute Sache. Wir haben deshalb Menschen aus Aktivismus, Politik, Medien und Wissenschaft gefragt, wie sie Hoffnung bewahren und welche Rolle diese für ihre tägliche Arbeit spielt.

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„Alexandra Ocasio-Cortez hat gesagt: ‘Hoffnung ist nicht etwas, das man hat oder nicht hat. Hoffnung ist etwas, das man schafft, indem man etwas tut.’ Die großen Fragen unserer Zeit werden sich nicht mit einzelnen Maßnahmen lösen lassen. Aber alle Maßnahmen zusammen verändern das große Ganze. Ich bin besonders hoffnungsvoll, wenn ich selbst etwas bewegen kann. Und das nicht erst, seitdem ich im Bundestag bin! Wir alle können uns für die Themen einsetzen, die uns wichtig sind – egal ob in der Schule, auf der Arbeit oder im Verein.“

Emily Vontz sitzt seit diesem Jahr für die SPD im Bundestag und ist mit 22 Jahren die jüngste Abgeordnete.

„Ich glaube fest an das Gute im Menschen und an die Möglichkeit positiver gesellschaftlicher Veränderung. In Zeiten des Zweifels führe ich mir vor Augen, wie viel sich etwa in den letzten Jahrzehnten in Bezug auf die Akzeptanz und Gleichstellung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen sowie allen queeren Menschen (LSBTIQ*) getan hat, wie weit wir schon gekommen sind. Sehr inspirierend sind für mich auch die zahlreichen Mitstreiter:innen und Verbündeten. Kraft und Mut geben mir die vielen bestärkenden Nachrichten, mit denen mir Menschen mitteilen, dass sie es toll und wichtig finden, dass ich mich als Queer-Beauftragter für sie und eine offene Gesellschaft einsetze.“

Sven Lehmann ist Queer-Beauftragter der Bundesregierung.

„Wichtig ist, dass wir auch einmal das Handy beiseitelegen und uns nicht von Algorithmen von einer schlechten Nachricht zur nächsten schicken lassen. Die Nachrichtenlage wird nicht besser, wenn wir uns schlecht fühlen. Wer eine Antwort auf die Frage, was ihn glücklich macht, gefunden hat, der kann auch besonnener handeln und wieder hoffnungsvoll in die Welt blicken.“

Constantin Schreiber ist Sprecher der tagesschau. In seinem neuen Buch ‘Glück im Unglück’ erklärt er unter anderem, warum er trotz der schlechten Nachrichten, die er täglich vorliest, hoffnungsvoll auf das Weltgeschehen blickt.

„Als jemenitische Künstlerin stand ich vor vielen Herausforderungen. Trotzdem habe ich mir immer Hoffnung bewahrt. Sie gab mir die Kraft, meine Träume zu verwirklichen. Während des Konfliktes waren die Bedingungen für Künstler:innen besonders schwierig, ohne echte Perspektiven. Aber Hoffnung hat mich immer wieder angetrieben, trotz allem an meiner Kunst zu arbeiten und sie mit der Welt zu teilen. Sie hat mir geholfen, positiv zu bleiben und meine Ziele nicht aus den Augen zu verlieren – auch in den Zeiten, in denen die Zukunft am unsichersten war. Dazu hat mich vor allem die Resilienz und die Stärke der jemenitischen Bevölkerung inspiriert. Deshalb verarbeite ich sie immer wieder in meiner Kunst. Auch meine Familie und Freundinnen haben mich immer wieder bestärkt und mir gezeigt, wie ich als starke Frau Dinge verändern kann. So hat mir Hoffnung die Stärke gegeben, nicht aufzugeben.“

Eman Mohammed ist eine jemenitische Künstlerin, die mittlerweile in Berlin lebt. In ihrer Kunst verarbeitet sie den Charakter und die Stärke jemenitischer Frauen.

„Hoffnung ist für mich der Glaube daran, dass am Ende alles ein gutes Ende findet, auch wenn der Weg dahin oft beschwerlich ist. Als LGBTIQ*-Aktivist mit einem Schwerpunkt in meiner Arbeit auf Mittel- und Osteuropa habe ich in den letzten Jahren vielfach gesehen, wie grundlegende Bürger- und Menschenrechte meiner Community mit Füßen getreten werden. Russland und Ungarn versuchen, queere* Menschen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. In Polen erklären sich Gemeinden zu ‘LGBT-freien Zonen’. All das sieht schrecklich aus und ich frage mich oft, wie es dort weitergehen soll. Was mich aber antreibt, ist der Wille und die Hoffnung, dass alle Mitglieder meiner Community irgendwann frei und selbstbestimmt leben können. Dass Veränderung möglich ist, sehe ich jeden Tag in meinem Job als Kampagnenleiter der Petitionsplattform change.org. Ich erlebe, wie normale Menschen große Dinge erreichen, und bin froh, dass ich diese Menschen begleiten darf. Ein Beispiel ist Michelle Franco, eine junge Studentin, die letztes Jahr mit der Hilfe von change.org und 1,6 Millionen Unterstützer:innen Gesundheitsminister Lauterbach dazu gebracht hat, das Pflegegesetz zugunsten von Hebammen zu verändern. Ich schöpfe Kraft und Hoffnung aus solchen Beispielen und trage diese Kraft in meinen Aktivismus.“

Erik Jödicke ist LGBTIQ*-Aktivist und Kampagnenleiter der Petitionsplattform change.org.

„Die ostukrainische Industriemetropole Saporischschja wurde wegen des größten Kernkraftwerks Europas bekannt, das mittlerweile unter russischer Kontrolle steht. Die Stadt wird zudem von einem mächtigen Staudamm geprägt, den wir während des Einsatzes überqueren müssen. Dabei verbiete ich mir die Vorstellung, welche desaströsen Folgen die Zerstörung dieser Infrastruktur hätten. Als ich zuvor eine unserer ukrainischen Ärztinnen in Dnipro nach der Stadt befragte, meinte sie, da sei nichts Besonderes und sie sei sicher. Als ich entgegnete, Saporischschja habe im Rest der Welt nicht den besten Ruf, fragte sie zurück: ‘Wird nicht Tschernobyl als die Hölle gesehen?’ Darauf sagte ich: ‘Tschernobyl ist die alte Hölle, Saporischschja die neue.’ Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort waren sehr gelassen, das Leben sei eigentlich normal, besondere Sorgen haben sie keine, sagten sie. Dass hier die Stromausfälle, Bombenalarme und Kriegsspuren zu erleben sind, wird akzeptiert. Immerhin ist unsere medizinische Hilfe weiterhin möglich. Nachdem ich wohlbehalten nach Dnipro zurückkehre, fragt mich die Ärztin interessiert: Wie war’s? Ich berichte, dass es ruhig war, dass die Stadt noch funktioniere, trotz Frontnähe. Die Resilienz und pragmatisch gelebte Hoffnung der Menschen in der Ukraine ist immer wieder beeindruckend.“

Tankred Stöbe ist Notfall-Mediziner und seit 20 Jahren im Einsatz für Ärzte ohne Grenzen. In der Ukraine war er bereits zwei Mal, zuletzt im Januar 2023.

„Die Klimakrise ist oft frustrierend und der Kampf für Klimagerechtigkeit ist es manchmal auch. Aber gerade der Aktivismus gibt mir Hoffnung. Es motiviert mich zu sehen, wie viele Menschen mit uns auf die Straße gehen oder uns anderweitig unterstützen, und das weltweit. Außerdem finde ich die Arbeit vieler Mitaktivist:innen inspirierend: Mit immer neuen, kreativen Ideen kämpfen sie für eine klimagerechte Welt und bauen Projekte auf, die verdeutlichen, dass ein solidarisches und nachhaltiges Zusammenleben möglich ist; zum Beispiel zuletzt in Lützerath. Es gibt mir viel Kraft, all diese Menschen zu haben: Wir arbeiten zusammen, lernen voneinander und sind füreinander da.“

Darya Sotoodeh ist Klimaaktivistin und Bundessprecherin von Fridays for Future.

„Hoffnung füllt eine Lücke zwischen Angst und Wunsch. Egal, wie du das Brot belegst, Hoffnung ist die Butter. Hoffnung ist konstruktiv sein, sich nicht den Unzulänglichkeiten des Lebens passiv hingeben. Hoffnung ist etwas Aktives, ja, Hoffnung ist sehr stark. Ich glaube daran, dass wir mit Hoffnung unser volles, soziales Potenzial entfalten können. Wir sind der homo hoffnorum.“

Ali Can ist Antirassismus-Trainer, Buchautor und leitet das Diversity Lab bei Berlin. Für sein Engagement wurde er 2021 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 

Hoffnung geht davon aus, dass die Erfüllung einer wünschenswerten Zukunft zwar möglich, aber keinesfalls selbstverständlich ist. 

Die Ereignisse der letzten Jahre — Pandemie, Krieg, Energiekrise, Inflation und politische Spannungen — haben bereits tiefe Spuren in der Bevölkerung hinterlassen und versprechen nichts Gutes für die Zukunft. Besonders im deutschsprachigen Raum geht eine große Mehrheit der Bevölkerung davon aus, dass sich die allgemeine Lebensqualität in Zukunft spürbar verschlechtern wird. Gerade weil sich ein Großteil der Bevölkerung ohnmächtig und desillusioniert fühlt, muss der Blick wieder auf das Positive im Leben gerichtet werden.

Bereits seit 2009 erheben wir mit dem Hoffnungsbarometer die Wünsche und Hoffnungen der Bevölkerung für die kommenden Jahre. Die jährlichen Ergebnisse von rund 10.000 Befragten aus vierzehn Ländern zeigen nicht nur ein düsteres Bild. Je stärker sich Menschen mit Krisen wie der weltweiten Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und den Folgen von Umweltkatastrophen konfrontiert sehen, desto wichtiger wird für sie die Hoffnung.

Gemäß den Ergebnissen des Hoffnungsbarometers wünschen sich die Menschen eine bessere Lebensqualität durch gute Gesundheit, eine glückliche Ehe, Familie oder Partnerschaft, vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen, Harmonie im Leben sowie eine sinnerfüllende Aufgabe. Die gemeinsame Hoffnung besteht aus dem kollektiven Wunsch nach einer besseren Zukunft nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte Menschheit, dem Glauben daran, dass eine bessere Zukunft für alle möglich, aber nicht unbedingt garantiert, ist, und dem Vertrauen in die menschliche Fähigkeit, durch gemeinsames Handeln entgegen aller Widrigkeiten und Herausforderungen eine bessere Welt zu schaffen.

Damit die Menschen sich angesichts bestehender und zukünftiger Probleme und Schwierigkeiten engagieren, braucht es den Glauben daran, dass ein guter Ausgang zwar nicht unbedingt wahrscheinlich, aber in jedem Fall möglich ist.

Viele Menschen fragen sich allerdings, was uns in diesen schwierigen Zeiten noch hoffen lässt. Zu den wichtigsten Quellen von Hoffnung zählen an erster Stelle die Verbindung zur Natur und die Unterstützung von Familie und Freunden, gefolgt von der Erfahrung, schwierige Probleme gelöst und etwas Gutes für einen sinnvollen Zweck getan zu haben. Um in Zeiten der Unsicherheit neue Wege gehen zu können, bedarf es an Werten wie Offenheit für Neues und Einfallsreichtum, gepaart mit Solidarität und Hilfsbereitschaft. Demut und Geduld machen uns empfänglich für die Fähigkeiten anderer Menschen oder einer höheren Macht und fördern in turbulenten Zeiten eine innere Ruhe. Weil die großen Wünsche und Ziele der heutigen Zeit nicht von heute auf morgen erreicht werden können, benötigt die Hoffnung auch Engagement und Ausdauer zur Überwindung von Schwierigkeiten und Rückschlägen. Damit man sich für das Neue einsetzen kann, werden Mut, Entschlossenheit und Willenskraft gebraucht.

Hoffnung ist schließlich mit dem Glauben an das Gute verbunden, denn würde man nicht an das Gute glauben, gäbe es keinen Grund, sich dafür zu engagieren.

Dr. Andreas Krafft, Hoffnungsforscher an der Universität St. Gallen, Schweiz


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Beitragsbild: Eman Mohammed

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Paul Esser

Paul Esser ist stellvertretender Chefredakteur beim Good News Magazin. Wenn er gerade keine Medien macht oder konsumiert, studiert er Politikwissenschaften und Psychologie. Warum das alles? Lösungen waren schon immer spannender als Probleme!

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