Demokratie für die Zukunft wappnen

das ist ein GNM+ ArtikelWellenbrecher gesucht!

von | 19. Juli, 2023

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Beginnen wir diesen Text etwas großspurig. Und zwar mit einem Zitat des Friedensnobelpreisträgers und ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt. In der ersten Regierungserklärung nach seiner Wahl im Jahr 1969 kündigte er mit folgenden, mittlerweile legendären drei Worten an, er wolle „mehr Demokratie wagen“. Hinter dieser Formel versteckte sich der Wunsch nach mehr Diskurs, mehr Mitbestimmung und die Herabsetzung des Wahlalters und der Volljährigkeitsgrenze von 21 auf 18 Jahre. Willy Brandt prägte diese Formel in einer Zeit, die der Professor für Zeitgeschichte Klaus Schönhoven als eine Zeit der „politischen Verunsicherung und des parlamentarischen Gezeitenwechsels“ beschreibt. 54 Jahre später scheint die Demokratie — die Stichworte Trumpismus, Populismus und Autokratisierung erinnern uns unweigerlich daran — erneut vor solchen Herausforderungen zu stehen. Wie also können wir — auf die Gefahr hin, noch großspuriger zu werden — im Jahr 2023 wieder mehr Demokratie wagen?

Warum Demokratie?

Keine Frage: Demokratie ist ein hohes Gut. Sie gibt uns die Chance, Einfluss auf Politik zu nehmen, schützt Minderheiten und kontrolliert die Mächtigen. Sie ist Ergebnis langwieriger Selbstbestimmungskämpfe und Vorbedingung für eine plurale, offene, kompromissbereite Gesellschaft. Kein Wunder also, dass Demokratie in Deutschland auf Platz drei der wichtigsten politischen und sozialen Werte steht — gleich hinter Frieden und Menschenrechten. Über dieses Idealbild hinaus zeigt sich außerdem: Demokratien schneiden in vielen Bereichen tatsächlich besser ab als andere Systeme. Nach Berechnungen des renommierten V-Dem Institutes, das weltweit unterschiedlichen Regierungssystemen auf den Zahn fühlt, gibt es in gut entwickelten Demokratien 23 Prozent mehr Zugang zu sauberem Wasser, die Kindersterblichkeitsrate ist um bis zu 94 Prozent geringer und 70 Prozent mehr Kinder besuchen weiterführende Schulen als in Autokratien oder Diktaturen. Zudem führen Demokratien fast nie gegeneinander Kriege, sind weniger konfliktanfällig, senken ihren CO₂-Ausstoß schneller und weisen bessere Gendergerechtigkeit auf.

Trotzdem sind Demokratien gerade nicht auf dem Vormarsch. Das Gegenteil ist der Fall. Während im Jahr 2012 noch mehr als die Hälfte aller Menschen in demokratischen Systemen lebte, waren es im vergangenen Jahr nur noch ein Viertel. Unglaubliche 5,2 Milliarden Menschen leben in Autokratien. Politikwissenschaftler:innen sprechen von einer sogenannten Autokratisierungswelle.

Wellenbrecher gesucht

Aktuell gehen also mehr Demokratien in Autokratien über als umgekehrt. Aber das war nicht immer so. Samuel P. Huntington, Politikwissenschaftler an der Harvard-Universität, prägte 1991 zunächst den Begriff der Demokratisierungswellen. Die erste Welle, beginnend mit den USA, reichte bis ins 20. Jahrhundert und brachte insgesamt 29 Demokratien, etwa in Frankreich, Australien, Argentinien und Deutschland, hervor. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die zweite Welle, die zahlreiche Diktaturen wieder in das demokratische Spektrum brachte. Sie reichte bis zum Ende der 1960er-Jahre. Das Ende der Kolonialherrschaft in Lateinamerika und Teilen Afrikas läutete dann die letzte weltweite Demokratisierungsphase ein.

Auffällig dabei: Bislang wechselten sich Autokratisierung und Demokratisierung immer wieder ab. Wie also brechen wir die aktuelle Welle? Und wie treiben wir eine neue an? Gehen wir dazu einen Schritt zurück. Was ist Demokratie eigentlich? Eine Regierungsform? Ein Entscheidungsmodus? Eine Werteordnung? Selbst die Politikwissenschaft ist sich in dieser Frage nicht einig. Denn Demokratien tauchen in zahlreichen Formen und Farben auf. Einen ersten Anhaltspunkt liefert die Übersetzung aus dem Altgriechischen: Der Demos, also das Volk, übt Herrschaft, kratien, aus. Im engsten Sinne bezieht sich diese Idee auf den Prozess, der zu Entscheidungen führt. Konkret also auf die Abstimmung über politische Ideen und Vorhaben und die Wahl politischer Vertreter:innen. Demokratien, die ihrem Volk also einen fairen und zuverlässigen Wahlprozess ermöglichen,werden auch als elektorale Demokratien bezeichnet. Wer oder was dieses Volk ist, also beispielsweise ob auch Frauen oder gesellschaftliche Minderheiten Teil dieses Volkes sind, darüber trifft dieses enge Demokratieverständnis keine Aussage. In der westlichen öffentlichen Debatte existiert allerdings ein deutlich breiteres Demokratieverständnis. Wenn wir von Demokratien sprechen, meinen wir liberale Demokratien. Sie zeichnen sich nicht mehr nur durch verlässliche Wahlen aus, sondern garantieren darüber hinaus Bürgerrechte, politische Freiheiten, Gewaltenteilung und -kontrolle, und so weiter. Während die elektorale Demokratie den Menschen nach bestimmten Kriterien das Recht einräumt, mitzubestimmen, ist in der liberalen Demokratie dieses Kriterium das Menschsein selbst. Und dieses Menschsein gilt es zu schützen.

Stärkung von Innen

Die Herausforderungen, vor denen Demokratien heute stehen, betreffen vor allem diese liberalen Elemente. Wer in Länder wie Polen, Ungarn, die Türkei, aber auch die USA oder Israel blickt, sieht schnell: Dort, wo die Demokratiequalität aktuell rückläufig ist, werden diese Elemente nicht mit einem großen autokratischen Geniestreich abgeschafft, sondern vielmehr in einem schleichenden Prozess ausgehöhlt — bewusst oder unbewusst. Die Demokratie der Zukunft muss also eine Demokratie sein, die sich gegen solche Aushöhlungsprozesse schützt. Aber wie?

Viele sehen eine Möglichkeit in der Integration basisdemokratischer Elemente. Die Größe und Komplexität politischer Systeme hat die Notwendigkeit geschaffen, die Macht des Volkes an Vertreter:innen abzutreten. Die Herrschaft des Volkes wird also streng genommen indirekt ausgeübt. Bei Bundestagswahlen stimmen wir nicht unmittelbar über Gesetze ab, sondern über Abgeordnete, die diese Aufgabe für uns — und im Idealfall auch in unserem Sinne — übernehmen. Diese repräsentative Demokratie führt dazu, dass sich viele Menschen vom politischen Prozess ausgeschlossen fühlen. Umgekehrt wünschen sich in der Gruppe der 14- bis 49-Jährigen fast zwei Drittel der Deutschen einen stärkeren Einfluss auf politische Entscheidungen. Diesen Wunsch sollen hierzulande neue Bürgerräte erfüllen.

Die Idee dahinter ist einfach: Um konkrete Empfehlungen für die Politik zu erarbeiten, sollen Menschen aus allen Bereichen unserer Gesellschaft zusammenkommen — Jung und Alt, Arm und Reich, Stadtmensch und Dorfkind — und mit der Hilfe neutraler Expert:innen und Moderator:innen über bestimmte Themen diskutieren. Die erarbeiteten Ergebnisse kann der Bundestag dann in den parlamentarischen Prozess aufnehmen. So wird sich in diesem Herbst erstmals ein Bürgerrat ergebnisoffen mit der Ernährungspolitik beschäftigen. Auch ein Bürgerrat Klima wird folgen. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) — hinter dem Bundespräsidenten das zweithöchste Staatsamt der deutschen Demokratie — gilt als eine der prominentesten Unterstützer:innen der Bürgerräte. Für sie ist klar: „Bürgerräte ergänzen und bereichern unsere repräsentative Demokratie. Sie können nicht an ihre Stelle treten, aber unseren parlamentarischen Verfahren einen wichtigen Schub geben. Am Ende treffen die gewählten Abgeordneten die Entscheidungen und übernehmen die Verantwortung für politisches Handeln.“

160 Menschen für mehr Demokratie

Entwickelt wurde das Konzept für das neue Demokratieinstrument vom Verein Mehr Demokratie e.V. Für das Auswahlverfahren der 160 Teilnehmenden hat die Initiative ein Losverfahren entwickelt: Zunächst werden zufällig 84 Gemeinden ausgewählt, aus denen dann per Los ein Pool aus 20.000 möglichen Personen entsteht, die von der Bundestagspräsidentin eingeladen werden. Eine finale „Bürgerlotterie“ am 21. Juli entscheidet letztendlich darüber, wer tatsächlich Teil des Bürgerrats werden kann.

„Die Politik erhält somit eine weitere Meinung neben eigenen Experten, der Fraktionsposition oder sonstigen Meinungsumfragen. Durch die Zusammensetzung, den Austausch und die Moderation in der Versammlung bietet der Bürgerrat die Chance, Positionen zu entwickeln, die in der Bevölkerung tatsächlich konsensfähig sein könnten”, so Claudine Nierth, Vorsitzende von Mehr Demokratie e.V.. Neu ist das Konzept der Bürgerräte natürlich nicht. So hat das von den Vereinten Nationen unterstützte Global Assembly schon 2021 eine Erklärung zur effektiven Bekämpfung der Klimaund Umweltkrise verabschiedet. Im vergangenen Jahr diskutierten jeweils 200 EU-Bürger:innen in vier unterschiedlichen Foren über die Zukunft der Union. Ähnliche Modelle finden sich überall auf der Welt, von Armenien über Frankreich und Spanien bis hin zu Chile, Singapur und Australien. Auch in zahlreichen deutschen Bundesländern und Städten wirken bereits Bürgerräte an Stadtentwicklung, Digitalisierung, Jugendpolitik oder Klimaschutz mit. Als Instrument auf Bundesebene wurden sie bislang allerdings noch nicht eingesetzt.

„Demokratie ist das Versprechen auf Gleichheit und Freiheit“

Die Weiterentwicklung der Demokratie beschäftigt nicht nur Gesellschaft und Politik, sondern auch die Wissenschaft. Überall in Deutschland widmen sich eigens eingerichtete Forschungsinstitute den großen und kleinen Fragen: Wieso schneiden Demokratien so viel besser ab als Autokratien? Wie entwickelt sich die Einstellung der Bevölkerung zum politischen System? Wie lässt sich die Idee der wehrhaften Demokratie in die Zukunft übertragen?

Simon Franzmann, Professor für Politikwissenschaft am Göttinger Institut für Demokratieforschung, legt seinen Forschungsschwerpunkt seit Jahren auf Parteien und politische Kulturforschung. Er identifiziert den Strukturwandel hin zu einer fossilfreien Wirtschaft und die Neuorientierung in einer multipolaren Weltordnung als zentrale Herausforderungen, vor denen Demokratien heute und in Zukunft stehen werden. Er fordert deshalb eine klare Abgrenzung von anderen Systemen und das Hervorheben der langfristigen Stärken von Demokratien:

„Demokratie ist das Versprechen auf Gleichheit und Freiheit – und vor allem die gegenseitige Akzeptanz. Im Bereich der Gleichstellung haben wir historisch vielleicht die beste Situation überhaupt. Selbst wenn wir noch nicht das Optimum erreicht haben, haben wir ein historisch hohes Ausmaß erreicht.”

Die Demokratie der Zukunft, betont er, sei eine Demokratie, in der hohes Vertrauen zwischen den Menschen herrsche und sich auch diejenigen, die aktuell nicht die Mehrheit stellen, aufgehoben und gesehen fühlen. „Hierzu ist eine hohe Partizipation und gesellschaftliches Engagement notwendig.“ Möglich werde das vor allem durch eine als sozial gerecht wahrgenommene Gesellschaft, für die auch wirtschaftlicher Wohlstand eine wichtige Rolle spiele.

Demokratie als öffentlicher Park

Damit erweitert der Wissenschaftler den Demokratiebegriff um ein wichtiges Element: Immer wieder werden Demokratien nicht mehr nur daran gemessen, ob sie freie Wahlen ermöglichen sowie Bürger:innenrechte schaffen und schützen, sondern auch an den Politikergebnissen, die sie produzieren. Dieses soziale Demokratieverständnis fragt also auch danach, ob tatsächlich alle Teile der Bevölkerung — egal ob Mehrheit oder Minderheit — das, was die da oben beschließen, als gerechten Kompromiss aus unterschiedlichen Interessen verstehen.

Wie werden die Demokratien der Zukunft diesem Anspruch gerecht? Mit dieser Frage setzt sich Yascha Mounk, Associate Professor an der John Hopkins Universität und Autor für die New York Times, The Atlantic und Die Zeit, in seinem Buch „Das große Experiment“ auseinander. Nicht umsonst stand es im vergangenen Sommer auf der berühmten Leseliste des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama. Seine These: Während die meisten Demokratien in der Geschichte sehr homogen waren, haben die Demokratien unserer Zeit noch nicht gelernt, das Potenzial ihrer neuen Diversität auszuschöpfen. Ein Zustand, den die Feinde der Demokratie mit dem Verweis auf angeblich unvereinbare Kulturen immer wieder nutzen, um sie systematisch zu schwächen. Mounk hingegen ist überzeugt, dass sich die Lebensrealität der meisten Menschen in den vergangenen 30 Jahren immer weiter verbessert habe. Dennoch müssen diverse Demokratien auch in Zukunft an sich arbeiten, um Zugewanderte und andere Minderheiten weiter zu integrieren, etwa durch bessere Bildungschancen und umfassenden Zugang zu sozialen Absicherungsmechanismen. Vor allem aber durch mehr Toleranz. Wichtig sei, dass aus einer diversen Gesellschaft keine fragmentierte Gesellschaft erwächst. Es brauche Respekt und Anerkennung für das Anderssein, die Kontakt und Austausch nicht ausschließen. Dafür nutzt Mounk den öffentlichen Park als Metapher für sein ideales Demokratiemodell: „Ein gemeinsamer Raum, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft sinnvolle Gelegenheiten finden, zu interagieren und zu kooperieren“, in dem alle allen erlauben, ihren Leidenschaften nachzugehen, und gemeinsam an einem neuen Gehweg oder einem schöneren Spielplatz arbeiten. Auch dann, wenn zunächst alle ein unterschiedliches Bild im Kopf haben. Treffen wir uns also alle im Park, um an der Demokratie der Zukunft zu basteln.

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Paul Esser

Paul Esser ist stellvertretender Chefredakteur beim Good News Magazin. Wenn er gerade keine Medien macht oder konsumiert, studiert er Politikwissenschaften und Psychologie. Warum das alles? Lösungen waren schon immer spannender als Probleme!

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