In Heidelberg haben junge Studierende und Auszubildende ein selbstverwaltetes und nachhaltiges Wohnheim gebaut. Ihr Ziel: Nachhaltigen, inklusiven und bezahlbaren Wohnraum schaffen. Die Geschichte einer Utopie, die Wahrheit wurde.
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Wer kennt ihn nicht, den leidigen Weg der Wohnungssuche? Tausende Anfragen an tausende Vermieter:innen, die fast genauso oft unbeantwortet bleiben. WG-Castings, die sich bestenfalls wie ein unangenehmes Einstellungsgespräch, meistens aber eher nach einem Verhör an einem amerikanischen Flughafen anfühlen. In der baden-württembergischen Studierendenstadt Heidelberg ist das anders. Zumindest, wenn man in das nachhaltige Wohnheim einziehen möchte, das dort gerade im Stadtteil Rohrbach entsteht.
Hier erleben potenzielle Mitbewohner:innen einen ganz anderen Bewerbungsprozess. In einem großen Online-Meeting lernen sie sich mit Spielen und in lockerer Atmosphäre kennen. Anschließend machen sie sich in Kleingruppen Gedanken darüber, wie sie den Alltag nach ihrem Einzug mitgestalten könnten. Einige von ihnen waren sogar schon einmal vor Ort und haben Hammer, Besen oder Bohrer in die Hand genommen, um selbst an dem Wohnheim mitzuarbeiten, in das sie gerne einziehen möchten. Was ist hier eigentlich los?
Nachhaltig und selbstverwaltet
Blick zurück in den vergangenen Juli. Fast 40 Grad Celsius, heißester Tag des Jahres. Besuch auf der Baustelle auf dem Gelände eines alten US-Hospitals. Im Schatten des großen Altbaus, den das Collegium Academicum gerade parallel renoviert, sitzen etwa 30 junge Menschen in einem großen Kreis. Den ganzen Tag haben sie auf der “partizipativen Baustelle” gearbeitet, jetzt ist Zeit für Abendessen und Abkühlung. Ihre Highlights neben dem heute abgeschlossenen Latinum, gehaltenen Präsentationen und Ausbildungszeugnissen: Geleimte Bretter, geschleppte Küchen und die Idee, Holzwolle zu schieben statt zu stopfen.
Seit 2013 arbeiten die CAler:innen (so nennen sie sich selbst gerne) an dem Holz-Neubau, mit dem sie nachhaltigen, inklusiven und vor allem bezahlbaren Wohnraum schaffen möchten. Vier Etagen, 46 Wohngemeinschaften, Dachterrasse, Aula und Gemeinschaftsräume – all das soll den Menschen zur Verfügung stehen, die ab August hier einziehen werden. Und nicht nur das: Das gesamte Gebäude ist schon in seiner Bauweise auf einen nachhaltigen und inklusiven Lebensstil ausgerichtet – und entsteht selbstverwaltet von den jungen Menschen, die hier leben. Sie sind die Handwerker:innen, Bauleiter:innen und Finanzplaner:innen hinter dem Projekt.
Die Suffizienz wird groß geschrieben
Unterstützt und angeleitet werden sie dabei natürlich von Profis. Der mehrfach ausgezeichnete Diplom-Architekt Hans Drexler hat den Holzbau mit modularen Zimmern, die bei Bedarf vergrößert und verkleinert werden können, entworfen. “Die Holzbauweise bietet eine Reihe von Vorteilen: Holz hat einen geringen Primär-Energiegehalt und geringe Kohlenstoffdioxid-Emissionen. Es kann einfach verwendet werden und durch regionale Lieferketten lokale Wirtschaftskreisläufe stärken und logistisch umweltschonend auf kurzen Wegen transportiert werden. Holz ist der zukunftsfähigste Baustoff. Er kann regional produziert werden und wächst natürlich nach”, erklärt Drexler. Nicht zuletzt sei es das Holz, meint er, das den zukünftigen Bewohner:innen ermögliche, Trennwände, Möbel und andere Inneneinrichtung selbstständig herzustellen.
Über Holz und Bauweise hinaus werden eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach, Zisternen für Regenwassernutzung, ein Teich mit Flachwasserzone sowie Hochbeete und Permakulturen auf der Dachterrasse den ökologisch verträglichen Lebensstil der Wohngemeinschaften prägen. “Hier wird es enorm leicht gemacht, ein nachhaltiges Leben zu führen. Gemeinsam in der Gruppe und als Vorbild nach außen”, antwortet Hannah Weiser auf die Frage, warum sie in das Collegium Academicum ziehen möchte. Die 23-Jährige studiert Geographie im Master. “Plötzlich merkt man, dass man vielleicht doch gar nicht so viel braucht”, meint sie. Suffizienz, also die Idee, dass auch wenig mehr als genug sein kann, ist das Stichwort, das hier immer wieder fällt.
Ein riesengroßer Bienenstock
Wer sind die Menschen, die in “das CA” ziehen wollen? Tatsächlich studieren die meisten Menschen, die in das Wohnheim einziehen. Von Physik bis Sonderpädagogik ist von allem etwas dabei. In einer Universitätsstadt wie Heidelberg ist das unvermeidbar. Aber das Wohnheim will keine Studierenden-Blase werden. Mindestens zehn bis 20 Prozent der Bewohner:innen sollen Auszubildende sein, möglichst viele einen internationalen Hintergrund haben. Am liebsten sollen hier alle Menschen so unterschiedlich wie möglich sein. “Das Ding am CA ist, dass es keine typische CA-Person gibt. Außer der Offenheit für die Gemeinschaft gibt es eigentlich nichts, was man mitbringen muss”, sagt Sara Faß.
Die Medizinstudentin ist erst seit Kurzem dabei. Die Gemeinschaft, sagt sie, war der Grund, warum sie schon drei Wochen, bevor sie ihren Platz sicher hatte, auf der Baustelle mithalf. Kein Wunder: Wenn 176 Menschen an einem Projekt arbeiten, muss schon einiges stimmen. “Ich habe hier vor allem gelernt, meine eigenen Bedürfnisse zwar wahrzunehmen, aber auch mal zurückzustellen, für die Gruppe zu denken und Verantwortung zu übernehmen. Unser Leben wird immer mehr individualisiert, hier geht es aber wieder mehr um die Gemeinschaft, um Konsens und Lösungen für uns alle. Jede noch so kleine Aufgabe macht uns sofort zum Teil des Ganzen.”
Das Motto des Collegium Academicum lautet “Gemeinsam leben und lernen”. Nach dem Abschluss der Bauphase und dem Einzug endet hier nicht alles – es geht erst so richtig los. Samuel Caesar (21, Sonderpädagogik) strahlt über das ganze Gesicht, als er sich zum ersten Mal Gedanken über den Alltag in seiner zukünftigen CA-Heimat macht. Bislang sei dafür noch nicht so richtig die Zeit gewesen. Da sind viele offene Türen, Besuche in anderen WGs, gemeinsames Kochen mit Lebensmitteln vom Foodsharing und Kräutern aus dem eigenen Garten. Als Jonas Wahn (21, Philosophie und Germanistik) über die Baustelle führt, die zu diesem Zeitpunkt noch sehr nach einer Baustelle aussieht, zeigt er in alle möglichen Ecken: “Wenn ich abends aus der Tür gehe, werden da vielleicht Menschen sitzen und lesen, dort spielt jemand Gitarre oder lernt für eine Klausur und gleichzeitig hört man die Theatergruppe aus unserer Aula. Wie ein Bienenstock, überall wird gewuselt.” Manchmal klingt das, was die CAler:innen erzählen, ein bisschen zu schön, um wahr zu sein.
“Gemeinde der Zukunft”
Sie sind übrigens nicht die Ersten ihrer Art. Das Collegium Academicum hat in Heidelberg eine lange Tradition – und war schon immer mehr als eine Wohngemeinschaft. Direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstand im Carolinum in der Heidelberger Altstadt ein Kollegienhaus nach amerikanischem Vorbild. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der NS-Diktatur sollte hier, so das Ziel des Re-Education Programms der amerikanischen Besatzungsmächte, eine neue demokratische Studierendengeneration erblühen. Mit der Zeit verschoben sich die Schwerpunkte des schon damals selbstverwalteten Wohnheims: Bis in die 1970er nutzten die Bewohner:innen ihren Raum für gesellschaftskritisches Denken und internationalen Austausch mit anderen Studierenden – auch über den Eisernen Vorhang hinaus.
Im Februar 1975 beschloss der Senat der Universität Heidelberg allerdings, das Collegium Academicum als Institution aufzulösen und das Gebäude stattdessen der neuen zentralisierten Universitätsverwaltung zur Verfügung zu stellen. Die Idee hinter dem CA hielten die Bewohner:innen trotzdem am Leben – und zwar bis heute. Der aus Damaskus stammende Schriftsteller Rafik Schami schrieb über die Wohngemeinschaft: “Es war für mich kein Studentenhaus, sondern eine Gemeinde der Zukunft.” Und genau diese “Gemeinde der Zukunft” lebt gerade wieder auf.
“In die Gesellschaft wirken”
Das riesige Gelände am Stadtrand, Baumaterialien, Handwerker:innen – all das kostet auch dann Geld, wenn man das meiste selbst macht. Aber auch die Finanzierung für den fast 20 Millionen Euro schweren Neubau hat das Team in den vergangenen Jahren selbst auf die Beine gestellt. Einen Bärenanteil machen Fördermittel aus dem Bundesbauminisiterium und dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und ein Bankkredit der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) aus. Das Herzstück, sagen die CAler:innen selbst, seien aber die Direktkredite, die sie von Familien, Freund:innen und Unterstützer:innen des Projektes erhalten haben.
Das funktioniert in etwa so: Ohne Beteiligung einer Bank – aber trotzdem rechtssicher – leihen Privatpersonen dem Projekt eine beliebige Summe Geld und können einen Zinssatz zwischen 0 und 1,1 Prozent selbst festlegen. Zurückgezahlt werden die Kredite dann mit den Mieten, die die Bewohner:innen zahlen: etwa 315 Euro warm. Mit dieser “nachhaltigen, sozialen und sinnvollen” Geldanlage konnte das Projekt rund 2,3 Millionen Euro sammeln. “Uns gibt es nur wegen dieser Unterstützung. Und die werden wir nicht nur in Geld zurückzahlen, sondern indem wir in Zukunft in die ganze Gesellschaft hinein wirken”, erklärt Samu Caesar.
Bei dem Baustellen-Besuch im Juli ist das Projekt nicht nur wegen der hohen Temperaturen in der letzten heißen Phase. Jetzt müssen nur noch Möbel gebaut, Küchen eingesetzt und Wände gestrichen werden, dann ist der Einzug endlich möglich. Nach fast zehn sehr langen Jahren. Hannah Weiser ist zwar erst seit etwa zwei Jahren dabei, aber erzählt, dass sie vor allem eines gelernt hat: “Ich denke wieder, dass mehr möglich ist. Klar standen wir oft vor Problemen, aber irgendwie haben wir es dann doch gewuppt. Mit der Gemeinschaft. Ganz oft haben wir uns gedacht: Das ist doch utopisch. Und dann klappt es doch.”
Beitragsbild: Johannes Roßnagel