Von Retterrad bis Hip-Hop

das ist ein GNM+ ArtikelSo viele Wege gegen Lebensmittelverschwendung

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von | 16. Juni, 2023

Siehst du manchmal keine andere Lösung, als Essen wegzuwerfen? Eine vergessene Toastbrotscheibe hier, ein altes, nur halb aufgegessenes Pesto-Glas da, und schnell entstehen große Mengen an Lebensmittelabfällen. In deutschen Privathaushalten landeten im Jahr 2020 auf diese Weise, Daten des Statistischen Bundesamtes zufolge, pro Person circa 78 Kilogramm im Müll – und insgesamt, Außer-Haus-Verpflegung, Handel, Verarbeitung und Primärproduktion auch noch dazugerechnet, rund 11 Millionen Tonnen. 

11 Millionen Tonnen, das ist ganz schön viel – besonders, weil ein Teil der weggeworfenen Lebensmittel eigentlich noch genießbar wäre. Mittlerweile gibt es jedoch zahlreiche Ideen, Initiativen und Innovationen, die sich gegen die Verschwendung und für mehr Wertschätzung von Lebensmitteln einsetzen. Einige davon stellen wir auf den nächsten Seiten vor.

Das ist ein Beitrag aus unserem dritten Printmagazin mit dem Thema „Perspektivwechsel“. Diesen und weitere exklusive Beiträge gibt’s im GNM+ Abo

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Digital und analog: Rettermärkte

Rettermärkte retten Lebensmittel mit Schönheitsfehlern, einem kurzen oder abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdatum direkt von den Hersteller:innen oder Großhändler:innen und verkaufen sie vergünstigt. So gibt es zum Beispiel Online-Supermärkte wie Veggie Specials, welches sich auf vegane und Bio-Produkte spezialisiert, oder SIRPLUS, wo gerettetes Obst, Gemüse, Trockenwaren und mehr auch als Box oder im Abonnement angeboten werden. Oder etwa die kleinen Läden des RESTLOS e. V. in Bielefeld, in denen die Kund:innen selbst entscheiden, wie viel sie für die geretteten Lebensmittel zahlen.

Erste Community Kitchen in Deutschland

In einem ehemaligen Bürogebäude in München bereitet das Team der Community Kitchen Food GmbH aus geretteten Zutaten frische Mahlzeiten zu und verkauft diese vor Ort in der Kantine oder als Catering in Unternehmen und Schulen. Auch gibt es Suppen, Marmelade und anderes Eingemachtes im eigenen Online-Shop.

Kochen nach Beat

Paul Denkhaus ist Koch, Sozialarbeiter, Doktorand und Hip-Hop-Musiker. Bereits im Dezember 2021 berichteten wir darüber, wie er Kindern und Jugendlichen durch Rap  nachhaltige Ernährung und Kochgrundlagen näherbringt. Und auch über den Kampf gegen Lebensmittelverschwendung: 2020 nahm er beispielsweise mit Schüler:innen aus Berlin ein Lied namens „Reste in Peace“ sowie ein dazugehöriges Musikvideo auf, in dem es um Lebensmittelrettung und das kreative Kochen mit Essensresten geht.

„Ich kenn‘ da so ’nen Typen, der hat voll das gute Rezept“: Erfahrt mehr über Paul Denkhaus und sein einzigartiges Konzept in unserer ersten Good Food Story.

Aus Regalen und Rädern retten

In der baden-württembergischen Kleinstadt Tettnang öffnete im November 2022 Retty seine Türen. Zu allen Tageszeiten können Menschen noch essbare Lebensmittel, die sie selbst nicht mehr brauchen oder wollen, in den dunkelblauen Metallspind legen, oder sich etwas kostenfrei daraus mitnehmen. 

Ähnliche Initiativen gibt es auch anderswo in Deutschland. An mehreren Standorten in Deutschland stehen sogenannte Fairteiler – Regale, Kühlschränke oder sogar Fahrräder, zu denen Menschen Lebensmittel bringen und mitnehmen können.


Im Gespräch mit RESTLOS GLÜCKLICH e. V.

„Lebensmittelwertschätzung soll Mainstream werden“

Neukölln, Berlin. 2015 eröffnen hier zwei Frauen das erste Restaurant Deutschlands, das Gerichte aus aussortierten Zutaten serviert. RESTLOS GLÜCKLICH, so nennen sie es. Über die Jahre entwickelt sich daraus ein Verein, dem es um mehr geht als die „Mägen der zahlenden Kundschaft“. Wenke Heuts spricht mit uns über die Anfänge, Mission und Vision von RESTLOS GLÜCKLICH.

„Das kleine Restaurant in Neukölln gibt es heute nicht mehr. Doch der Verein ist aktiver denn je. Noch immer klappern Töpfe, brutzelt es in den Pfannen. Noch immer werden mehrmals wöchentlich Lebensmittel wie krummes Gemüse, Brot vom Vortag oder falsch etikettierte Ware von kooperierenden Supermärkten gerettet und zu extravaganten Menüs verarbeitet”, erzählt Wenke.

Mission: Raus aus der „Öko-Nische“

Die Menge an Nahrungsmitteln, die in Deutschland im Müll landet, sei laut Wenke „so viel, dass man damit eine Lastwagenkarawane von Berlin nach Kapstadt befüllen könnte. Jahr für Jahr.“ 

Und „[w]as vielen dabei nicht bewusst ist: Es sind nicht nur die Lebensmittel, die im Müll landen. Auch wertvolle, teils limitierte Ressourcen wie Ackerfläche oder Wasser werden mit jedem weggeworfenen Nahrungsmittel verschwendet. Alle Lebensmittel müssen produziert und transportiert, oft weiterverarbeitet, gekühlt, verpackt und gelagert werden. Dabei werden Treibhausgase freigesetzt, die das Klima stark belasten.“ 

All dem wirkt RESTLOS GLÜCKLICH entgegen – und verfolgt das Ziel, „gesunde, klimafreundliche Ernährung aus der Öko-Nische [herauszuholen] und zu einem neuen Standard unserer Esskultur zu etablieren. Lebensmittelwertschätzung soll Mainstream werden.“

Ernährungsbildung und eine große Prise Spaß


Der Verein spezialisiert sich auf Bildung rund um Lebensmittelwertschätzung und klimaverträgliche Ernährung. Das Team aus rund 20 Haupt- und circa 40  ehrenamtlich Aktiven organisiert Vorträge, Kochkurse über kreative Resteverwertung bis hin zum klimaverträglichen Ernährungsplan und Mitmach-Caterings, bei denen zum Beispiel auch die Teilnehmer:innen eines Events mitschnippeln. 

„Uns ist dabei sehr wichtig, dass bei all unseren Veranstaltungen und Workshops auch der Spaß nicht zu kurz kommt“, betont Wenke. „Wir möchten nicht belehrend und mit erhobenem Zeigefinger daherkommen, sondern freuen uns, wenn wir die Menschen inspirieren, überraschen und begeistern.” 

Ein Rezept, das zu funktionieren scheint: Auf der Website von RESTLOS GLÜCKLICH finden sich zahlreiche positive Stimmen von jungen und alten Teilnehmenden, die „etwas gelernt“, sich „köstlich amüsiert“, „sehr viel Spaß am kreativen Kochen mit gerettetem Essen“ hatten oder „restlos glücklich nach Hause gegangen“ sind. 

Von Krümelkisten und Zauberwesen

„Der Umgang mit Lebensmitteln prägt sich bereits früh“ – deswegen arbeitet RESTLOS GLÜCKLICH auch verstärkt daran, Kindern näherzubringen, was Lebensmittelverschwendung bedeutet, wie sie nachhaltiger mit Lebensmitteln umgehen und gesünder und klimaverträglicher essen können.

So startete im Oktober 2020 das preisgekrönte Bildungsprojekt „Bis auf den letzten Krümel“, mit einem Konzept und einer „Krümelkiste“ voller Lehrmaterialien und -inspirationen für Erzieher:innen, um Vorschulkindern Lebensmittelwertschätzung spielerisch beizubringen. 

Als wir Wenke fragen, ob ihr etwas auf dem Weg des Vereins zu weniger Lebensmittelverschwendung besonders am Herzen liegt, erzählt sie uns außerdem von dem Kinderbuch Benja & Wuse. Essensretter auf großer Mission, das im Rahmen von „Bis auf den letzten Krümel“ entstand. „Ursprünglich wollten wir den Kindern als Einstieg in das Projekt ein Buch mitbringen zum Thema Lebensmittelverschwendung. Doch das war schwieriger als gedacht. Denn es gab zu diesem Zeitpunkt keine Geschichte für Vorschulkinder oder jüngere Schulkinder zu diesem Thema. Also hatte meine Kollegin Edith Timm die Idee: Wir schreiben selbst eins.“ 

Wenke schrieb Benja & Wuse im Spätsommer 2020. „Die Geschichte rund um das Grundschulkind Benja und das kleine Zauberwesen Wuse kommt bei den Kindern sehr gut an. So gut, dass ‚Benja & Wuse‘ sogar für den Deutschen Kinderbuchpreis 2021 nominiert wurde und mittlerweile auch als Hörspiel verfügbar ist. Wir werden auch regelmäßig für Lesungen angefragt und aktuell wird das Buch auf Türkisch, Arabisch und Englisch übersetzt.“ 

„DICH RETT’ICH“

Im Mai 2023 launcht, in Zusammenarbeit mit  Lidl in Deutschland, das neueste Projekt des Vereins: Bei „DICH RETT’ICH“ werden 2.000 Grundschüler:innen zu „Lebensmittelretter:innen“ ausgebildet. Dabei können sie mehr darüber lernen, wo und wie viel Essen in Deutschland in der Tonne landet, was das für unseren Planeten bedeutet und was sie selbst dagegen unternehmen können.

„Neben all dem Wissen kommen die Kinder auch direkt mit geretteten Lebensmitteln in Berührung. Sie erforschen mit ihren Sinnen – sie riechen, schmecken, fühlen. Beim Erkunden von zweibeinigen Karotten oder überreifen Bananen können die Schüler:innen dann selbst erkennen: Egal, ob die Möhre krumm ist oder die Banane braune Pünktchen hat – jedes Lebensmittel ist wertvoll!“

Wenke von RESTLOS GLÜCKLICH hat eines ihrer liebsten Reste-Rezepte mit uns geteilt – die Brotlette:

„Die klimafreundliche Version der Boulette eignet sich ganz wunderbar dafür, Brot oder Brötchen vom Vortag zu verarbeiten.“

Brotlette

Die Basis für die Bratlinge bildet ein altes Brötchen oder 50 g Brot. Außerdem wird benötigt:

  • ½ Zwiebel
  • 1 kleine frische Rote Bete (diese gibt eine schöne Farbe – Brotletten sind aber auch mit anderem Gemüse deiner Wahl lecker)
  • frische Petersilie oder andere Kräuter
  • 25 g geriebenes Brot/Semmelbrösel
  • Salz, Pfeffer, Öl 
  1. Das Brot würfeln und in eine Schüssel geben. 
  1. Die Rote Bete (oder anderes Gemüse) und die Zwiebel reiben und unter die Brotwürfel mengen. Die Kräuter klein hacken und ebenfalls unter die Brotwürfel heben. Salz, Pfeffer und (je nach Geschmack) weitere Gewürze dazu geben. 
  1. Alles so lange durchkneten, bis eine gut formbare Masse entsteht.
  1. Ist die Masse zu weich, einfach Semmelbrösel oder Mehl hinzugeben. Ist das Brot sehr hart und die Masse trocken, etwas Wasser hinzugeben.
  1. Schließlich die Brotletten zwischen den Händen zu kleinen Bällen rollen und in der Pfanne in Öl goldbraun braten. Guten Appetit!

Auf der Website von RESTLOS GLÜCKLICH findet ihr viele weitere „Retter-Rezepte“, von bunten Pommes aus diversen Gemüseresten bis hin zu süßen Pancakes aus Bananenschalen: https://www.restlos-gluecklich.berlin/rezepte

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    Simone Hencke

    Simone ist in Deutschland aufgewachsen, in Kanada zur Schule gegangen, für ihr Bachelorstudium in die Niederlande gezogen, später für ihr Masterstudium dann nach Japan. Sie denkt oft – vielleicht zu oft? – darüber nach, wie faszinierend und spannend das Leben, unser Planet und das Universum doch sind und interessiert sich deswegen für so gut wie alles, insbesondere aber für Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz und Veganismus.

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