Wer über Geld spricht, muss auch über Wohlstand sprechen. Aber wie gut beschreibt das eine das andere? Und wie beeinflusst unser Verständnis von Wohlstand unsere Art zu leben?
Das ist ein Beitrag aus unserem fünften Printmagazin mit dem Thema „Auf der Suche nach dem guten Geld“. Diesen und weitere exklusive Beiträge gibt’s im GNM+ Abo
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Eine der wohl bekanntesten politischen Formeln ist der Ruf nach dem berühmten Wohlstand für alle. Sie entstammt einem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1957, in dem der damalige Wirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard seine Ideen für eine soziale Marktwirtschaft entwirft. Heute sind diese untrennbar mit dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit verbunden.
Man muss kein Politik-Nerd sein, um zu wissen, wie wichtig diese Ideen für die Geschichte der Bundesrepublik waren und sind. Oder um zu wissen, dass Wohlstand als solches eine der wichtigsten Einflussgrößen für unser gesellschaftliches Zusammenleben ist. Denn mit Wohlstand kann man so einiges anstellen: Messen, Erreichen, Sichern, Verteilen, Instrumentalisieren oder Maximieren. Er entscheidet über den Ausgang von Wahlen, löst Streit in Koalitionen aus und bestimmt über politische Entscheidungen.
Aber was ist das eigentlich, dieser Wohlstand?
Das messbare Etwas
Wie so oft gibt es darauf leider keine einfache Antwort. Und ein Disclaimer ist wichtig: Auch dieser Text wird diese Antwort nicht liefern können. Möchte er auch nicht. Aber sich dem anzunähern, wie wir Wohlstand verstehen und wie sich dieses Verständnis auf unser Leben auswirkt, das wird er versuchen.
Wo also anfangen? Natürlich mit Wikipedia. Das Online-Lexikon definiert Wohlstand als „positiven Zustand, der individuell wahrgenommen wird und sich sowohl aus materiellen als auch immateriellen Faktoren zusammensetzt”. Ist das zufriedenstellend? Eher nicht. Aber klar wird: Wenn wir über Wohlstand sprechen, dann denken wir an etwas, das mit einem guten und glücklichen Leben zusammenhängt. Und was dieses gute Leben ausmacht, ist nicht klar festgemacht, sondern kann für jede:n von uns ganz unterschiedlich sein.
Neuer Versuch. Worauf berufen sich Politiker:innen, wenn sie – wie so oft – von Wohlstand und dessen Entwicklung sprechen? In der Regel darauf, was die großen Behörden und Wirtschaftsinstitute regelmäßig ermitteln und prognostizieren. Also auf etwas, das mit mehr oder minder großem Aufwand und Expertise gemessen und analysiert werden kann. Genau dieses messbare Etwas prägt nicht nur, wie wir über den ominösen Wohlstand denken und sprechen, sondern auch, wie die Politik ihn gestaltet. Denn schließlich soll ja eines immer gelten: Wohlstand für alle.
Kein Maßband für Gemütlichkeit
Wohlstand kann also nicht ohne Wohlstandsmessung gedacht werden. Und spätestens hier wird es endlich konkreter. Das mit Abstand einflussreichste Wohlstands-Messinstrument (zumindest wird es als solches verwendet, dazu später mehr) ist das sogenannte Bruttoinlandsprodukt (BIP). Darin werden – Achtung, hier wird es kurz technisch – alle Waren und Dienstleistungen abgebildet, die in einem bestimmten Zeitraum innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft hergestellt werden. In der echten Welt bedeutet das: Bezahlst du ein Getränk in deinem Lieblingscafé, lässt deine Nachbarin eine neue Wärmepumpe installieren oder baut das Handwerksunternehmen in deiner Kleinstadt ein neues Betriebsgebäude, steigt das Bruttoinlandsprodukt. So kamen beispielsweise in Deutschland im Jahr 2021 etwa 3,8 Milliarden Euro zusammen.
Die Ursprünge des BIP liegen bereits in der Aufklärung des 17. Jahrhunderts. In seiner heutigen Form entsprang es allerdings den Krisenzeiten der 1930er- bis 50er-Jahre. Als Instrument war das BIP seitdem ziemlich erfolgreich. Denn es kann einige Dinge erstaunlich gut: Es bildet die wirtschaftliche Entwicklung in nahezu allen Ländern über sehr lange Zeiträume ab, macht verschiedenste Volkswirtschaften miteinander vergleichbar, steht – weil es schon so lange so penibel gemessen wird – im Zentrum zahlreicher Forschungsprojekte und dominiert wirtschaftspolitische Entscheidungen. So hat das BIP seit fast 100 Jahren einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf unser Leben. Nicht umsonst hat der Wirtschaftswissenschaftler Philipp Lepenies ein ganzes Buch der Macht der einen Zahl gewidmet.
Aber Achtung: Obwohl das BIP häufig so verwendet wird, misst es keinen Wohlstand. Denn der hat ja, wir erinnern uns, etwas mit einem guten und glücklichen Leben zu tun und nicht direkt mit der Summe von Waren und Dienstleistungen. Die ist ohne Frage wichtig für das, was wir unter Wohlstand verstehen. Aber eben nicht das Gleiche. Mit einem Maßband kann ich die Länge meines Bettes messen. Aber nicht, ob es gemütlich ist. Problematisch wird dieser Fehlschluss dann, wenn ich für mehr Gemütlichkeit immer längere Betten kaufe – aber das Zimmer irgendwann zu klein ist.
Genau das passiert allerdings in der politischen Praxis. Wenn sie sich am Wohlstand ausrichtet, dann richtet sie sich an dessen Messung aus. Das ist nicht das Gleiche, hat aber entscheidende Auswirkungen. Um es mit den Worten des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz zu sagen: “Was wir messen, entscheidet darüber, was wir tun.”
Das bringt uns zur nächsten Frage: Wie erweitern wir unseren Instrumentenkasten, um gutes und glückliches Leben präziser zu messen?
Vom BIP zum umfassenden Reichtum
Glücklicherweise ist dieser Text längst nicht der erste, der sich dieser Frage widmet. Schon vor Jahren haben deutlich schlauere Köpfe das Potential von alternativen Wohlstandsindikatoren erkannt.
Die Idee: Verändern wir die Messung Wohlstand und Reichtum, verändert sich nicht nur unsere Perspektive, sondern werden auch neue Anreize für politische Entscheidungen und Investitionen geschaffen. In unbezahlte Care-Arbeit, Geschlechtergleichstellung oder den Reichtum an Meeren, Wäldern und Tierarten, der besonders in Ländern mit weniger Wirtschaftskraft die Grundlage für das Leben der meisten Menschen bildet. Die Liste der Faktoren, die das gute Leben ausmachen, könnte unendlich fortgeführt werden. Und mit solchen Indikatoren endlich neue Aufmerksamkeit erlangen.
So hat beispielsweise das International Institute for Sustainable Development (IISD) mit Sitz in Kanada einen Indikator für umfassenden Reichtum entwickelt. Der berücksichtigt nicht nur die Produktionskapazitäten oder die finanzielle Stärke von Ländern, sondern auch soziales Kapital, natürliche Ressourcen und die Fähigkeiten der Menschen, die dort leben. Enge Beziehungen zu Freund:innen und Familie, Spaziergänge in gesunden Wäldern und die Möglichkeit, unterschiedliche Bildungsangebote wahrzunehmen, macht – zumindest unterstelle ich das hier ganz ungeniert – für viele Menschen ein gutes und glückliches Leben aus. Dem BIP ist all das ziemlich egal.
Stattdessen können sich aber Entwicklungen, die als eher kontraproduktiv für ein gutes und glückliches Leben gelten, positiv auf das BIP auswirken. Klar, der Bau einer Solaranlage treibt das BIP nach oben. Aber eben auch die Reparaturen nach einer Flutkatastrophe, die Folge der Klimakrise ist.
Vor diesem Hintergrund hat das Umweltbundesamt im Jahr 2008 den Ökonomen Hans Diefenbacher und den Politologen Roland Zieschank gebeten, einen neuen Wohlstandsmesser zu entwickeln. Das Ergebnis: Der Nationale Wohlstandsindex, der nicht nur Faktoren ehrenamtliche Tätigkeiten, Investitionen in den Gesundheitssektor oder Einkommensgleichheit positiv berücksichtigt, sondern negative Kosten von unter anderem Kriminalität, Umweltschäden und fossilen Energieträgern gegengerechnet. So entsteht kein schöneres und auch kein vollständiges Abbild von Wohlstand, aber (vielleicht) ein realistischeres.
Eine Zahl reicht nicht
Das wohl prominenteste Wohlstandskonzept ist allerdings das Bruttonationalglück, das in Bhutan zur zentralen Kennzahl geworden ist. Schon im Jahr 1972 erklärte der bhutanische König Jigme Singye Wangchuk: Die Legitimation einer Regierung sei daran zu messen, ob sie für das Glück ihrer Bürger:innen sorgen kann.
Nun ist Glück auch ein sehr diffuser Begriff, der für jeden Menschen etwas anderes bedeutet und sich unglaublich schwer messen lässt. Aber er rückt neue Faktoren in den Fokus, die politische Entscheidungen lenken. So orientiert sich der bhutanische Glücks-Index seit 2008 unter anderem an psychischer Gesundheit, gesellschaftlicher Diversität und ökologischer Resilienz.
Andere Wohlstandskonzepte wollen das gute und glückliche Leben nicht auf eine Zahl eindampfen. Das Recoupling Dashboard der Global Solutions Intiative misst unterschiedliche Zutaten: wirtschaftliche Entwicklung, Solidarität, Umwelt und die Fähigkeit von Menschen, ihr Leben selbst zu bestimmen. Anstatt diese aber in einen Mixer zu werfen, zeigt es auf, wie sie sich gegenseitig beeinflussen und zum Gesamtbild Wohlstand beitragen. So soll wirtschaftliches Wachstum und nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung wieder zusammengebracht werden.
Und jetzt?
Die Liste an alternativen Wohlstandsmessinstrumenten ist lang. Mit ziemlicher Sicherheit könnte sie ein ganzes Magazin füllen. Der Punkt, den dieser Text stark machen möchte, ist aber ein anderer. Es geht nicht darum, dem BIP seine Sinnhaftigkeit abzusprechen. Genauso wenig geht es darum, dass die zahlreichen Alternativen Wohlstand zwingend besser messen oder eine davon in Zukunft der einzige Richtstern am Himmel sein soll.
Vielmehr soll dieser Text zeigen: Was Wohlstand tatsächlich ist, kann niemand – kein Mensch, keine Regierung, nicht mal ein Autor beim Good News Magazin – genau beschreiben. Geschweige denn festlegen. Und das Gleiche gilt für die Instrumente, mit dem wir uns diesem Wohlstand trotz allem annähern wollen. All diese Instrumente, egal ob Inlandsprodukt oder Nationalglück, sind normativ. Sie bilden das ab, was wir jetzt und in Zukunft für wichtig und schützenswert halten.
Als Gemeinschaft dürfen wir diesen Anspruch nicht aus den Augen verlieren. Erst mit einer klaren Vorstellung von diesem Etwas, das wir Wohlstand nennen, können wir den Weg dorthin gemeinsam planen. Und die richtigen Instrumente dazu entwickeln. Denn: Was wir messen, bestimmt, was wir tun.
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Beitragsbild: Oliglya | Depositphotos