Die Grundannahmen der universitären Wirtschaftsforschung gelten vielerorts als unantastbar. Im Netzwerk Plurale Ökonomik diskutieren Studierende über alternative Theorien – und wie sie unsere Welt verbessern können.
Das ist ein Beitrag aus unserem fünften Printmagazin mit dem Thema „Auf der Suche nach dem guten Geld“. Diesen und weitere exklusive Beiträge gibt’s im GNM+ Abo
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„TINA” – „There Is No Alternative“. Das war in den 80er- und 90er-Jahren das Credo von Politiker:innen wie Margaret Thatcher. Wie kein anderer steht dieser Slogan für die ernüchternde Alternativlosigkeit neoliberaler Wirtschaftspolitik. In den letzten Jahrzehnten wurde dieser Konsens – durch die ökologischen und ökonomischen Krisen und die stetig zunehmende Ungleichheit – immer wieder infrage gestellt. Mit dem Blick darauf, fragen sich immer mehr Menschen, welche Veränderungen es braucht, um die Gesellschaft und Wirtschaft sozial-ökologisch zu transformieren.
Von Modellen zur Realität
Im deutschsprachigen Raum hat sich dafür das Netzwerk Plurale Ökonomik gegründet. Mit über 500 Mitgliedern und fast 40 Lokalgruppen gibt es besonders Studierenden und Nachwuchsökonom:innen die Möglichkeit, sich aktiv an der Debatte über Wirtschaftspolitik zu beteiligen und von Universitäten vernachlässigte Inhalte (selbst) zu erlernen.
Denn zumindest während des Bachelors ist das VWL-Studium häufig auf das Berechnen marktbasierter, optimaler Ergebnisse innerhalb weniger Modelle beschränkt. Eine Diskussion über reale und aktuelle ökonomische Fragestellungen und die Anwendung anderer Theorieschulen findet, wenn überhaupt, nur am Rande statt.
Dadurch entsteht der Eindruck, dass nur eine Betrachtungsweise der Wirtschaft von Bedeutung ist. An alternativen Konzepten mangelt es allerdings nicht. So gibt es zum Beispiel die Ökologische, die Feministische oder auch die Postkeynesianische Ökonomie. Aber dazu später mehr.
Die Bewegung strebt eine wirtschaftswissenschaftliche Debatte an, die offener und breiter geführt wird. Dabei sollen die vielen verschiedenen ökonomischen Denktraditionen auf Augenhöhe gebracht werden, um „die Vielfältigkeit ökonomischen Wissens für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nutzbar zu machen”, wie das Netzwerk Plurale Ökonomik in seinem Impulspapier schreibt.
Umdenken mit Keynes?
Dazu organisieren die Lokalgruppen unter anderem Lesekreise oder Vorträge und stehen in Austausch mit Professor:innen. Auch der Bundesverband Netzwerk Plurale Ökonomik selbst veranstaltet verschiedene Projekte, beispielsweise eine Sommerakademie, verschiedene Vorlesungen sowie die frei zugängliche E-Learning-Plattform Exploring Economics.
Doch wie sehen andere und progressive ökonomische Ideen in der Praxis aus? Um zu verstehen, wie alternative Denkschulen in der Realität helfen können, ist es sinnvoll, sich den Postkeynesianismus anzuschauen. Dieser ist für die Plurale Ökonomik besonders wichtig und bezieht sich auf den Ökonomen John Maynard Keynes.
Der britische Wirtschaftswissenschaftler gilt als einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Keynes wurde stark durch die größte Krise des Kapitalismus in den 1930er Jahren geprägt. Trotzdem blieb er bezüglich ökonomischer Fragen zeitlebens optimistisch eingestellt. Im April 1942, einem Zeitpunkt, zu dem der Großteil Europas unter faschistischer Herrschaft stand und London in Trümmern lag, richtete er sich in einer Radioansprache an die britische Öffentlichkeit, um die Frage der Finanzierbarkeit des Wiederaufbaus nach dem Krieg zu diskutieren. Dabei sagte er folgenden Satz: „Anything we can actually do we can afford“.
Unsere Welt unterscheidet sich, glücklicherweise, stark von der Keynes, aber sein Mantra gilt immer noch: Alles, was wir wirklich tun können, können wir uns auch leisten. Aber was genau bedeutet dieser Satz und warum ist er für das Nachdenken über Wirtschaft so wichtig?
Anything we can actually do
In einem Staat wird jedes Jahr eine Vielzahl an Dingen produziert und Dienstleistungen erbracht. Wie viel produziert werden kann, hängt davon ab, wie viele arbeitende Menschen es gibt, wie gut diese ausgebildet sind und welche Maschinen sie bei der Arbeit einsetzen können.
Auf diese abstrakte Größe spielt Keynes im ersten Teil seines Satzes an: „Anything we can actually do“. In einer stabilen Wirtschaft muss die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen in etwa dem entsprechen, was produziert werden kann. Wenn es zu viel Nachfrage gibt, steigen die Preise. Stichwort: Inflation. Zu wenig Nachfrage resultiert in Arbeitslosigkeit und einer Unterauslastung der Produktionskapazitäten. Um das zu verhindern, ist es aus Keynes Sicht die Aufgabe der Politik, für eine optimale Auslastung dieses Produktionspotenzials zu sorgen.
Dies geschieht durch staatliche Maßnahmen zur Steigerung beziehungsweise der Senkung der Nachfrage. Auch heute wird besonders in Krisenzeiten auf staatliche Nachfragepolitik zurückgegriffen. So wurde beispielsweise während der Corona-Pandemie die Mehrwertsteuer temporär gesenkt, um Menschen dazu anzuregen, weiter Geld auszugeben. Oder anders gesagt: Die Nachfrage wieder zu erhöhen.
Doch kann der Staat es sich leisten, viel Geld auszugeben, wenn die Wirtschaft sich gerade in einer Krise befindet und die Steuereinnahmen sinken? Ja, denn wie schon Keynes wusste, ist das Handlungsvermögen des Staates nur durch das reale Produktionspotenzial der Wirtschaft beschränkt. An Geld hingegen mangelt es ihm theoretisch nie. Die Begründung dafür lässt sich unter anderem in der Modern Monetary Theory (MMT) finden.
Sie hat sich in den vergangenen Jahren aufbauend auf dem Wirtschaftsverständnis von Keynes entwickelt. Sie ist ein in der Pluralen Ökonomik viel diskutiertes Thema. Eines der grundlegendsten Argumente setzt sich damit auseinander, wodurch Geld seinen Wert erhält. Wieso benutzen wir in Europa Euros und nicht Dollar oder Goldmünzen, um unsere Rechnungen zu bezahlen? Dies liegt der MMT zufolge daran, dass Staaten ihre Steuern in der eigenen Währung erheben. Da sich die Staaten der Eurozone darauf geeinigt haben, eine gemeinsame Währung zu verwenden, bedeutet das für uns, dass wir Euro benötigen, um unsere Steuern zu bezahlen.
Einfach Geld drucken?
Aufgrund der Kontrolle der eigenen Währung unterscheiden sich Staats- und Privathaushalte grundlegend. Wenn Privatpersonen oder Unternehmen langfristig mehr Geld ausgeben als sie einnehmen, müssen sie irgendwann Insolvenz anmelden. Dies kann einem Staat, solange er in der eigenen Währung verschuldet ist, nicht passieren. Warum? Im Zweifel kann er selbst Geld drucken, um sich zu finanzieren.
Das bedeutet aber nicht, dass Staaten einfach beliebig viel Geld ausgeben sollten. Denn das Produktionspotenzial einer Wirtschaft ist, wie schon erwähnt, begrenzt. Wenn der Staat aber zu viel Geld ausgibt und dadurch die Nachfrage das übersteigt, was produziert werden kann, führt dies zu Inflation. Um dieser Gefahr vorzubeugen, lassen fast alle Staaten die Geldschöpfung von Zentralbanken kontrollieren.
Was wir von Keynes und der MMT lernen können, ist letztendlich eines: Geld sollte bei politischen Fragen niemals der limitierende Faktor sein. Kluge Wirtschaftspolitik muss sich damit auseinandersetzen, wie es möglichst gut gelingen kann, die real existierenden Produktionskapazitäten auszunutzen.
Ob diese Ideen wirklich Antworten liefern, die andere Wirtschaftsmodelle nicht bieten können, muss letztlich die Politik entscheiden. Aber um Teil dieser Entscheidung zu sein, brauchen sie eine Plattform und Menschen, die sich konstruktiv mit ihnen auseinandersetzen. Diese Plattform ist das Netzwerk Plurale Ökonomik.
Moritz Kapff studiert Economics/Politische Ökonomik in Heidelberg. Er ist aktiv beim Netzwerk Plurale Ökonomik und schreibt in seiner Freizeit zu ökonomischen und gesellschaftlichen Themen. Seine Interessen umfassen Zentralbanken, die sozial-ökonomische Transformation und ökonomische Ideengeschichte.
Lennard Fredrich studiert Philosophie in Heidelberg. Er ist aktiv beim Netzwerk Plurale Ökonomik und schreibt in seiner Freizeit zu ökonomischen und gesellschaftlichen Themen.
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Beitragsbild: sinaaramwong | Depositphotos