Das Start-up My Molo stattet im Sommer Veranstaltungen mit mobilen Hotelzimmern aus. Im Winter werden diese zu Notunterkünften für obdachlose Menschen.
Er war immer da, wenn ich diese eine Straße auf dem Weg zur Innenstadt überquerte. Stets auf einem Schlafsack sitzend, stets mit Buch in der Hand, stets von Bücherstapeln umgeben. Eine geradezu wohnlich anmutende Festung aus Synthetikfasern und Papier, die ihn dennoch nicht vor den Blicken Vorübergehender bewahrte. Eine feste Instanz in dieser Stadt. Ich sah ihn oft. Und genauso oft wie ich ihn sah, fragte ich mich, was seine Geschichte ist, was er liest, was in seinem Kopf passiert. Und genauso oft ging ich an ihm vorüber, die Fragen unausgesprochen in meinem Kopf, die Scham für mein Verhalten ein unhandlicher Klumpen in meinem Bauch. Die letzten Monate war ich nicht mehr in dieser Stadt, der obdachlose Lesende nicht mehr präsent. Als ich kürzlich erfuhr, dass er im November verstorben war, traf es mich dennoch unerwartet hart. Menschen teilten online Trauerbekundungen, ihre persönlichen, augenblickhaften Erinnerungen mit ihm. Mit André, so war sein Name.
André wurde zur traurigen Galionsfigur eines Problems, das in selbem Maße von Verdrängung wie allgemeiner Omnipräsenz geprägt ist und durch ihn blitzlichtartig an Sichtbarkeit gewann. Denn André war einer von viel zu vielen. Allein in Berlin gibt es nach inoffiziellen Schätzungen bis zu 20.000 obdachlose Menschen. Dem gegenüber stehen gerade einmal 1.000 Übernachtungsplätze, in denen die Menschen vor allem im Winter vor Kälte geschützt sind. Ein unhaltbarer Zustand, den die Gemeinschaft Brot des Lebens gemeinsam mit dem Start-up My Molo dringend ändern will. Mit ihrem Kältehilfeprojekt geben sie obdachlosen Menschen einen sicheren Ort, an den sie in den kalten Monaten immer wieder zurückkommen können und erlauben uns als Good News Magazin damit einen Blick dorthin, wo es trotz allem doch Hoffnung gibt.
Im Sommer Festival-Hotel, im Winter Notunterkunft
Seit 2016 arbeitet die Gemeinschaft Brot des Lebens mit dem Start-up My Molo zusammen. Im Sommer stattet das junge Unternehmen Festivals mit mobilen Tiny Houses aus, die den Besuchenden einen besonders luxuriösen Festivalaufenthalt ermöglichen. Doch für Fritz Ramisch, Co-Founder von My Molo, kam es nie infrage, die mobilen Hotelzimmer in den Wintermonaten ungenutzt zu lassen: „Daher war für uns klar, dass wir einen Teil der Unterkünfte für Hilfsprojekte zur Verfügung stellen wollen“, erzählt er. Über den Wohlfahrtverband Caritas seien sie schließlich bei Wolfgang Willsch gelandet, Pionier der Berliner Kältehilfe und Obdachlosenseelsorger des Erzbistums Berlin.
„Wolfgang war verrückt genug, dieses etwas unkonventionelle Kältehilfe-Projekt gegen viele Widerstände mit uns auf die Beine zu stellen. Unser Projekt ist mittlerweile nicht nur etabliertes Angebot der Berliner Kältehilfe, sondern in der Stadt auch Ideen- und Impulsgeber.“
Fritz Ramisch, Co-Founder von My Molo
Acht der mobilen, knapp fünf qm-großen Lodges werden von November bis März so zu Notschlafplätzen für obdachlose Menschen auf dem Hof der St. Piuskirche in Friedrichshain, zusätzlich zu den je vier Fünf-Bett-Zimmern im Pfarrhaus. Weitere Lodges fungierten während der Pandemie zeitweise als Test- und Quarantänestation, um obdachlose Menschen separat und geschützt unterzubringen. „Heute kann ich mir nicht vorstellen, wie wir ohne die „Molos“ durch diese Zeit gekommen wären“, so Obdachlosenseelsorger Willsch heute.
Denn während sich ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung auf Social Media mit ästhetischen Schnappschüssen von Bananenbroten und DIY-Projekten im eigenen Zuhause profilierte, wurden die rund 263.000 Menschen wohnungslosen Menschen in Deutschland weitestgehend vergessen. Sie alle haben keinen festen Wohnort, leben entweder auf der Straße, in Notunterkünften oder zeitweise bei Familie oder Freund:innen. Das gut gemeinte #stayathome-Narrativ – eine Aufforderung, die an Zynismus kaum zu überbieten ist.
Baldiges Ende der Obdach- und Wohnungslosigkeit?
Wie es tatsächlich um viele der Menschen steht, die teils beispielsweise in leerstehenden Häusern unterkommen, zeigt ein kürzlich auf dem YouTube-Kanal Strg_F veröffentlichter Film von Susanne Blank, Michael Trammer und Gunnar Krupp. Die Journalist:innen stellen sich die Frage, ob die 2020 beschlossene EU-weite Resolution, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden, realistisch ist. Ihre schnelle Erkenntnis lautet vor allem: Bis dahin gibt es noch viel zu tun.
Allein 2021 fanden bundesweit mehr als 29.000 Zwangsräumungen statt, wie aus einer Statistik des Justizministeriums hervorgeht. Gleichzeitig sinkt die Anzahl der Sozialwohnungen: von knapp 2.100 im Jahr 2006 auf circa 1.100 im Jahr 2021. Nicht nur Werena Rosenke der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe stellt aus diesem Grund klar: Nur durch eine Zunahme an bezahlbarem Wohnraum könne das Problem Obdachlosigkeit angegangen werden. Hier besteht starker Handlungsbedarf, denn statt 100.000 benötigter Sozialwohnungen pro Jahr realisierte die Bundesregierung im Jahr 2021 weniger circa 21.000, also weniger als ein Viertel. Ein neuer Aktionsplan verspricht hier nun Besserung – mit Wohngemeinnützigkeit als wichtiges Stichwort. Demnach soll es Steuernachlässe und Zuschüsse für Sozialbauprojekte geben, um das Schaffen günstigen Wohnraums attraktiver zu machen.
Ein eigenes Zuhause, aber auf Zeit
Doch zurück zu Ramisch und den temporären Unterkünften. Sie schaffen zumindest zeitweise das, was so dringend fehlt: eine Unterkunft, inklusive Bett, Strom, Heizung, Betreuung, Verpflegung – und vor allem Sicherheit, auf der Straße ein seltenes Gut. Denn selbst in vielen Notunterkünften sind Schutz und ruhiger Schlaf nicht garantiert. Wirkliche Schutzräume sind selten, weiß auch Ramisch, und weist auf Anfeindungen und Übergriffe hin, die obdachlose Menschen tagtäglich erfahren. Ab 18 Uhr können die Bewohner:innen ihr Winterquartier beziehen, um acht Uhr morgens müssen sie die Schlüssel abgeben und die Lodges verlassen. Ihre persönlichen Gegenstände können sie tagsüber dort lassen.
Doch wieso müssen die Bewohner:innen überhaupt die Unterkunft tagsüber verlassen? Diese Frage bekommt Diakon Willsch häufig gestellt. Er erklärt, dass die Notunterkunft auf dem Gelände der St. Piuskirche nur von abends bis morgens betreut werde, tagsüber allerdings keine Betreuung gewährleisten könne. Doch: „Wo Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, oft auch psychischen Auffälligkeiten oder Suchterkrankungen, zusammen sind, geht es leider nicht ohne Begleitung.“ Allerdings fügt er hinzu, dass bei Härtefällen wie bei Krankheit bereits vereinzelt die Aufenthaltszeit über die Nachtstunden hinaus erweitert werden konnte.
16 Betreuende organisieren bei der Notübernachtung St. Pius die Aufnahme und Begleitung der Hilfesuchenden. Schwester Martha, so erklärt Willsch, leite dieses Team und entscheide in Rücksprache mit den Betreuenden, welche Gäste in den Lodges aufgenommen werden.
„Zum Teil sind dies Gäste, die wir kennen und die Notunterkunft in St. Pius wegen den Lodges aufsuchen. Die Fähigkeit der Gäste, ohne Drogen oder Alkohol durch die Nacht zu kommen und eine gewisse Bereitschaft zur Eigenverantwortung, sind Voraussetzung. Bei der Entscheidungsfindung spielt die Erfahrung, das Einfühlungsvermögen, aber auch das Vertrauen der Mitarbeiter.innen zu den Hilfebedürftigen eine wichtige Rolle.“
Wolfgang Willsch, Obdachlosenseelsorger im Erzbistum Berlin/ Gemeinschaft Brot des Lebens
Breite Unterstützung für den Housing First-Ansatz
Knapp 1.100 Euro koste eine Unterkunft für fünf Monate im Unterhalt, inklusive Transport, Auf- und Abbau, Instandhaltung, Wartung sowie Stromkosten. Besonders glücklich sind das My Molo-Team und die Gemeinschaft Brot des Lebens darüber, dass das Projekt in Berlin-Friedrichshain seit 2017 durch eine Spendenkampagne auf der Plattform betterplace.org finanziert werden kann: “Wir sind jedes Mal überwältigt, wie viele Menschen sich trotz vieler anderer Sorgen – wie Corona oder Inflation – beteiligen und spenden”, so Ramisch. Willsch unterstreicht diesen Dank für die Unterstützung, hält allerdings zugleich fest: “Seit Februar erhält der Krieg in der Ukraine und die damit verbunden Fliehenden viel öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung. Das ist gut! Wir sollten dabei aber die vor Ort in Not geratenen nicht übersehen.” Für diesen Winter fehle es noch an knapp 2.600 Euro, um alle acht Lodges zu finanzieren. Nun hoffen die Betreuenden, dass auch dieses Spendenziel bald erfüllt wird, um das Projekt fortsetzen zu können.
Auch, wenn die Notschlafplätze temporär sind, betont Ramisch, will My Molo so dennoch mittelfristig dazu beitragen will, die Obdachlosigkeit in ihrer Heimatstadt Berlin zu beenden:
“Die Unterbringung in unseren Lodges kann ein erster Schritt hin zu einer festen Wohnung sein. Für viele Bewohner:innen sind die Lodges ein Ort des Ankommens, des Halts und der Hoffnung. Die Übergabe des Schlüssels für die eigenen vier Wände bedeutet ja auch mehr Eigenverantwortung und hat häufig auch die Steigerung des Selbstwertgefühls zur Folge. Damit sinkt die Hürde für die nächsten Schritte wie den bürokratischen Papierkram und Behördengänge.”
Fritz Ramisch, Co-Founder von My Molo
Wie auch andere Initiativen – etwa in Hamburg oder Finnland – sind My Molo und die Gemeinschaft Brot des Lebens überzeugt vom Housing First-Ansatz, der in einem sicheren Dach über dem Kopf die Basis sieht, um sich Stück für Stück wieder ein geregeltes Leben aufbauen zu können. Denn dass der Schritt aus der Obdachlosigkeit möglich ist, beweisen nicht nur prominente Beispiele wie Dominik Bloh. Auch einige derjenigen, die in den Notunterkünften von My Molo untergekommen waren, haben den großen Schritt aus der Wohnungslosigkeit zurück in eine feste Wohnung bereits geschafft.
“Carlos ist kein Einzelfall”
Zuletzt will mir Seelsorger Willsch von einem Bewohner erzählen, der einen besonders tiefen Eindruck hinterlassen hat: Carlos. Er war über mehrere Jahre immer wieder Bewohner der Notübernachtung in St. Pius gewesen, hatte eine der Lodges sein Zuhause genannt. Im letzten Frühjahr öffnet sich der sonst zurückhaltende Mann schließlich den Betreuenden und bittet um Hilfe. Zu diesem Zeitpunkt ist er auf einem guten Weg, den Bürokratie-Kampf zu gewinnen und seinen Aufenthaltsstatus zu regeln. Die Betreuenden ermöglichen ihm schließlich über die Sommermonate einen Schlafplatz im Gemeindehaus in St. Pius, um ihm die nächsten Schritte zu erleichtern. “Über die Sommerpause im Juli und August mussten wir allerdings schließen. Carlos wollte danach wieder kommen”, erinnert sich der Seelsorger. Ende August dann die traurige Nachricht: Carlos war völlig unerwartet verstorben. Das Team ist betroffen, war Carlos doch über die Jahre fester, wenngleich unauffälliger, Bestandteil von St. Pius geworden. Doch Willsch ist wichtig, Carlos’ Geschichte in einen Gesamtkontext zu setzen:
„Carlos ist kein Einzelfall. Die Lebenswirklichkeit der Menschen, vor allem der auf der Straße lebenden Mitbürger:innen ist manchmal sehr komplex. Vertrauen ist eine wichtige Komponente bei der Begleitung der obdachlosen Bewohner:innen. Dafür braucht es Zeit. Manchmal dauert es Jahre, bis sich ein Gast öffnet. Manchmal gelingt es, einen Weg aus der Obdachlosigkeit zu finden. Andere können erst Hilfe annehmen, wenn es überhaupt nicht mehr geht und wieder andere werden ihren Weg auch auf der Straße bis zum Ende gehen. Zum Teil ist das schmerzhaft und schwer zu ertragen. Wir wollen dran bleiben und wo wir können helfen. Hierfür sind die Lodges von My Molo absolut geeignet.“
Wolfgang Willsch, Obdachlosenseelsorger im Erzbistum Berlin/ Gemeinschaft Brot des Lebens
Auch Ramisch betont, dass eine Unterkunft allein nicht reicht. Es müsse auch ein engmaschiges Betreuungsangebot geben, das die Menschen auf ihrem Weg zurück in eine feste Wohnung begleitet. Insbesondere der bürokratische Aufwand sei eine Hürde, die für viele der Bewohner:innen nicht ohne Hilfe zu bewältigen sei.
Ich denke wieder an André. An Carlos. Und an Fritz Ramischs Worte – dass wir alle mehr tun müssten. Die Regierung: Den nationalen Aktionsplan inklusiver 100.000 Sozialwohnungen wirklich befolgen und für mehr Schutzräume und eine bessere Betreuung obdachloser Menschen sorgen. My Molo und Brot des Lebens: Weiterhin Menschen Notunterkünfte ermöglichen. Wir alle: Häufiger hinsehen.
Beitragsbild: My Molo