Das Alarm Phone organisiert Rettung für geflüchtete Menschen, die auf dem Weg in Not geraten und fordert eine neue Perspektive auf Migration, auch politisch. Wie eine andere Migrationspolitik aussehen könnte und warum sie so große Chancen birgt.
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Für alle Mitglieder: ePaper #6 – Mobilität – Leben ist Bewegung
Vor 60.000 Jahren verließen mehrere Gruppen von Menschen den afrikanischen Kontinent und wanderten nach Asien und weiter in alle Winkel der Welt. Vielleicht begann diese Wanderung auch schon vor über 120.000 Jahren. Klar ist in jedem Fall: Bevölkerungsbewegungen hat es schon immer und auch in großem Stil gegeben. Die Welt, in der wir heute leben, ist damit das Ergebnis menschlicher Migration. Auch die Karte des heutigen Europas ist das Ergebnis von Wanderungen, unter anderem der German:innen, Slaw:innen und Türk:innen. Vergessen wird zudem schnell, dass aus Europa über Jahrhunderte vorwiegend Menschen auswanderten; erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Kontinent eine Zuwanderungsregion*.
Europa: Ein Migrationskontinent
“Historisch gesehen wurde Europa geschaffen, überworfen und neu geschaffen durch Bewegungen von Menschen(gruppen)“, so der Migrationsforscher und Soziologe Adrian Favell. Dass Migration nicht mehr als Grundpfeiler der europäischen Gesellschaft gesehen wird, ist eine vergleichsweise junge Entwicklung, bedingt durch die Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch durch die darauffolgende wirtschaftliche und zunehmend politische Kooperation zwischen europäischen Staaten. Mit dem Schengen-Abkommen von 1985 und der Einführung des Binnenmarkts 1993 wurde das freie Reisen innerhalb der Europäischen Union möglich, gleichzeitig aber eine feste Außengrenze für Nicht-EU-Bürger:innen geschaffen. Mit dem Vertrag von Amsterdam wurden 1999 Maßnahmen zur Verschärfung der Kontrollen an den Außengrenzen und zur Schaffung eines “Gemeinsamen Europäischen Asylsystems” (GEAS) eingeführt.
Diese Zuwanderung ist in den letzten Jahrzehnten vermehrt zum Gegenstand hitziger Debatten geworden. Dabei kommt ein Fakt häufig zu kurz: Zuwanderung birgt, sofern richtig umgesetzt, große Vorteile – und ist in Staaten wie Deutschland sogar dringend notwendig. Dafür jedoch braucht es eine andere Migrationspolitik.
Der demographische Wandel bedingt in vielen westlichen Ländern eine zunehmende Überalterung der Gesellschaft und damit einen erhöhten Bedarf an Arbeitskräften, besonders im Bereich der Pflege und Versorgung, aber auch allgemein. In Deutschland sorgt der sogenannte “Generationenvertrag” zusätzlich dafür, dass durch die schrumpfende arbeitende Bevölkerung das Sozialsystem bzw. die Rentenfinanzierung immer mehr wankt.
400.000 Migrant:innen brauche Deutschland pro Jahr, argumentierte 2021 der Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, um diese Entwicklung aufzufangen und besonders dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Bereits jetzt füllen Menschen aus Nicht-EU-Ländern wichtige Lücken gerade in den Sektoren der Pflege, Gastronomie und im Baugewerbe. Doch auch in anderen Sparten, die oft eine hohe Qualifizierung voraussetzen, werden Arbeitskräfte gebraucht. Auch diese Arbeit könnte von Migrant:innen geleistet werden. 96 Prozent der Männer und 86 Prozent der Frauen wollen unbedingt arbeiten, so der Migrationsforscher Herbert Brücker. Es liegt also an den Staaten, die richtigen Voraussetzungen zu schaffen.
Wie kann eine andere Migrationspolitik aussehen?
Ein Ansatz, der in vielen Ländern dafür bereits greift, ist selektive, statt restriktive Migration, das bedeutet, dass gezielt qualifizierte Menschen aus anderen Ländern angeworben werden und über einen vergleichsweise schnellen und einfachen Weg eine Arbeitserlaubnis und ein Visum erhalten. Ein anderer Weg wäre, gerade junge Migrant:innen besser in das deutsche Bildungssystem einzugliedern, um ihnen eine Ausbildung oder ein Studium zu ermöglichen und bereits vorhandene Qualifikationen schneller anzuerkennen. Sprachkenntnisse sind ebenso essentiell und auch hier betont Brücker: “Die Motivation der Migrant:innen für Sprachkurse ist unglaublich hoch”. Solange ihnen eine Perspektive gegeben werde.
Im wirtschaftlichen wie im gesamtgesellschaftlichen Kontext gilt darum: Weniger Bürokratie, mehr Sicherheit und die Möglichkeit, für die Zukunft zu planen sowie eine schnellere Eingliederung in das Bildungssystem, den Arbeitsmarkt und in Freizeitangebote führen dazu, dass Menschen binnen kurzer Zeit einen positiven Beitrag zum Wirtschaftssystem leisten können und auch in der lokalen Gesellschaft besser vernetzt sind.
Die Telefonnummer, die Rettung organisiert
Die derzeitige europaweite Migrationspolitik verfolgt jedoch eine andere, zunehmend restriktive Linie mit dem Ziel, die Zuwanderung nach Europa deutlich zu verringern. Die Verschärfung der Grenzen führt dazu, dass die Routen für die flüchtenden Menschen immer gefährlicher werden. Initiativen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie das Alarm Phone stehen Menschen auf der Flucht in akuten Notsituationen bei und helfen so, Leben zu retten.
Das Alarm Phone ist ein 2014 gegründetes, selbstorganisiertes Call-Center für Geflüchtete, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten. Die 300 Aktivist:innen am Ende der Leitung des Alarm Phone stammen aus verschiedenen Städten in Europa und Nordafrika, darunter Tunis, Melilla, Tanger, Marseille und Berlin. Rund um die Uhr empfangen sie Anrufe von geflüchteten Menschen in Not und wenden sich an Küstenwachen, aber auch NGOs und Schiffe in der Nähe von Booten in Seenot, um in Echtzeit “Rettungsaktionen zu initiieren, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern”. Gleichzeitig üben die Aktivist:innen des Alarm Phone offen Kritik an der Grenz- und Migrationspolitik der Europäischen Union. Sie setzen sich für eine Migrationspolitik ein, die die Chancen von Zuwanderung hervorhebt, legale Migration erleichtert und den Weg nach Europa für geflüchtete Menschen sicherer macht.
Rubi ist eine der Mitgründer:innen von Alarm Phone und langjährige Aktivistin im Bereich Flucht und Migration. Im Interview teilt sie ihre Einschätzung über die aktuelle Situation, berichtet von Möglichkeiten, geflüchteten Menschen auf der Route über das Mittelmeer beizustehen und woraus sie Hoffnung für ein politisches Umdenken zieht.
Wer ist Alarm Phone und wie würdest du eure Arbeit und euren Ansatz beschreiben?
“Wir sind ein Zusammenschluss aus Initiativen, die grundsätzlich gleiche Bewegungsfreiheit für alle Menschen wünschen und fordern. Gegründet haben wir uns nach zwei großen Schiffsunglücken, wenn man das so nennen mag, bei denen 2013 viele Menschen ertrunken sind. Später konnte durch Recherchen nachgewiesen werden, dass viele Schiffe in der Nähe waren, die hätten eingreifen können und dass die Küstenwachen von Malta und Italien sich gegenseitig die Verantwortung zugeschoben haben, wodurch erst viel zu spät Hilfe kam. Wir wussten dann: Wir wollen nicht länger später nachkonstruieren, was passiert ist, sondern wir wollen in Echtzeit eingreifen können. So ist das Alarm Phone entstanden.
Wir wollen die Stimmen der Menschen in Seenot auf dem Mittelmeer verstärken und Druck auf die Behörden ausüben, sie zu retten. Dabei sind wir oft die Einzigen, die tagelang mit Menschen auf dem Meer in Kontakt stehen, die parteiisch für sie sind und ihnen in dieser langen Zeit auf dem Wasser beistehen, wo niemand zur Hilfe kommt. Wir versuchen so gut wie möglich, ihnen möglichst realistische Beschreibungen der Situation zu geben und sie vor allem nicht hoffnungslos werden zu lassen.”
Wie läuft es ab, wenn ihr einen Anruf erhaltet?
“Die Menschen, die uns anrufen, beschreiben meist erschreckende Situationen. Überfülltes Boot, oft funktioniert der Motor nicht mehr oder das Benzin droht auszugehen.
Wir sind dann erst einmal dabei, die Fakten herauszufinden, also: Wie viele Menschen sind da? Wo sind sie überhaupt? Es ist oft sehr schwer, eine GPS-Position zu erfahren, dazu kommt, dass die Verbindung oft sehr schlecht ist und es auf dem Boot sehr laut ist. Außerdem gibt es Sprachbarrieren.
Wir sind oft die Einzigen, die tagelang mit den Menschen auf dem Meer in Kontakt stehen und auf ihrer Seite sind.
Rubi von Alarm Phone
Die Menschen sagen dann oft: “Wir brauchen sofort Hilfe, bitte rettet uns!” Aber wir haben selbst natürlich kein Schiff zur Verfügung, wir sind ja nur eine Telefonhotline. Wir sammeln Informationen und leiten sie weiter. Allein die erste GPS-Position zu bestätigen, kann manchmal mehrere Stunden dauern. Wenn wir alles zusammen haben, informieren wir die Küstenwachen und NGOs. Besonders schwierig ist, dass, wenn wir die Behörden informieren, eben auch die sogenannte libysche Küstenwache informiert wird, die die Menschen oft einfach wieder an die Orte zurück schafft, von denen sie eigentlich fliehen wollen. Solche Entscheidungen zu treffen und zu vermitteln ist unglaublich schwer.
Oft ist es auch so, dass kein Schiff in unmittelbarer Nähe ist und die Rettungskräfte mehrere Stunden brauchen. Es kann passieren, dass Menschen zwei Tage auf dem Wasser sind. Und die Nächte sind natürlich besonders bedrohlich. Wir etablieren dann regelmäßigen Kontakt mit den Menschen, einmal die Stunde, immer zu einer festen Zeit und versuchen, den Kontakt zu halten, damit wir wissen, wie die Situation auf dem Boot ist und die Menschen dort wissen, in einer Stunde gibt es wieder einen Kontakt. Das machen wir möglichst so lange, bis wirklich Hilfe kommt.”
Wie groß sind eure Möglichkeiten, Druck auf die Behörden aufzubauen und zu veranlassen, dass Menschen in Not Hilfe erhalten?
“Im Regelfall, wenn ein Boot sich noch uneingeschränkt fortbewegt, ist die libysche Küstenwache meist sehr schnell zur Stelle, auch wegen der Informationen, die die Behörden von den Flugzeugen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex erhalten***. Dieselbe Küstenwache kommt aber erstaunlicherweise gerade, wenn es einen akuten Notfall direkt vor der Küste gibt – in den Territorialgewässern, wo auch Frontex nicht fliegen darf – entweder gar nicht oder zu spät. Uns sagen sie oft, sie könnten aufgrund des Wetters nicht rausfahren oder sie sagen, sie fahren raus, tun das aber nicht.
Wege nach Europa (?)
Allgemein werden drei hauptsächliche Migrationsrouten über das Mittelmeer unterschieden: die westliche Route über Algerien und Marokko nach Spanien, die zentrale Route über Libyen nach Italien und Malta sowie die östliche Route in der Ägäis, von der Türkei nach Griechenland. Eine Verschärfung des Grenzregimes führt nicht dazu, die Zahl der flüchtenden Menschen zu reduzieren, sondern verändert nur die Routen und macht sie im Zweifel noch gefährlicher, wie Rubi erklärt: “Die Routen passen sich immer dem Druck an, den das Grenzregime gerade auf spezielle Routen ausübt. Das kann man gut daran sehen, dass weniger Menschen von der westtürkischen Küste auf die griechischen Inseln fahren, sondern zunehmend direkt nach Italien. Auf der Strecke gibt es viel mehr Schiffswracks, weil die Distanzen natürlich viel größer und gefährlicher sind. Wir erleben auch gerade, dass viele Menschen aus Syrien und Palästina über die gefährliche Route von Westlibyen nach Lampedusa fahren, anstelle der vorigen Route über die Türkei und den Balkan.”
Auf anderen Routen ist das anders. Das Alarm Phone arbeitet ja auf verschiedenen Routen, von der Ägäis bis zum Channel und den kanarischen Inseln und es ist sehr unterschiedlich, inwieweit man Druck ausüben kann. Am schlimmsten ist es in der Ägäis, man kennt die Bilder von Pushbacks** der Küstenwache. Die maltesische Such- und Rettungszone ist riesig, aber die maltesische Küstenwache fährt eigentlich gar nicht raus. Wenn ein Boot in der Nähe von Malta ist, kann man sie aber mit viel Druck dazu bewegen, dorthin zu fahren. Italien wiederum ist direkt im Umkreis der italienischen Territorialgewässer sehr zuverlässig. Es gibt durchaus ein gewisses Maß an Druck, das wir auf bestimmte Behörden und Küstenwachen ausüben können.
Abgesehen von den Küstenwachen gibt es ja auch Schiffe von NGOs wie Seawatch. Wie ist die Rolle und Situation der NGOs gerade und wie arbeitet ihr zusammen?
“Es gibt im Moment so viele NGO-Schiffe wie nie zuvor, rund 20 Stück. Sie sind nur alle ein bis zwei Tage vor Ort und auch nur auf der Route zwischen Westlibyen und Italien, aber grundsätzlich gibt es da viel Rotation. Was problematisch ist, ist, dass nach einem neuen Dekret aus Italien alle Schiffe angewiesen sind, nach einer Rettung nach Norditalien zu fahren und viele der Menschen von dort zurück nach Libyen geschafft werden. Viele Boote können auch gar nicht erst aus Libyen ablegen. Es gibt ohne Ende Razzien und Festnahmen, aber mehr wissen wir nicht, weil es sehr wenige unabhängige Informationen von dort gibt.
Grundsätzlich ist die Arbeit der NGO-Schiffe unglaublich hilfreich und notwendig, um Menschenleben zu retten, aber auch, um zu schauen, was da passiert. Genau wie die zwei Flugzeuge der zivilen Seenotrettung, also “Seabird” und “Kolibri”.
Das gibt auch noch einmal die Gelegenheit, auf die Finger zu schauen…
“Genau, das ist natürlich total wichtig! Es gibt einen großen Trend dahin, dass Behörden und Staaten bestimmte Informationen nicht mehr öffentlich teilen. Gerade NGOs bekommen keine Auskunft mehr. Es braucht immer spezielle Wege, um überhaupt an Informationen zu kommen und es ist schwierig herauszufinden, ob ein Boot, von dem uns jemand kontaktiert hatte, von der libyschen Küstenwache zurückgeschafft wurde oder irgendwo in Italien oder Malta angekommen ist.
Ganz besonders extrem ist das bei der Route nach Kalabrien und Sizilien. Diese Route wird aus politischen Gründen kaum thematisiert, auch wenn viele Menschen aus der Türkei oder dem Osten Libyens dort ankommen. Das sind eigentlich auch immer große Schiffe. Wir verlieren oft den Kontakt zu Booten auf dem Weg und dann ist es sehr schwierig zu erfahren, ob die Boote in Italien angekommen sind. Umso wichtiger ist es, dass es NGO-Schiffe und Flugzeuge vor Ort gibt, die das Schicksal der Menschen und das, was passiert, verfolgen und die Aufmerksamkeit darauf lenken.”
Nun seid ihr auch eine Organisation, die sich ganz bewusst als politisch einordnet. Warum sind Organisationen wie eure gerade im politischen Kontext so wichtig und wie positioniert ihr euch im Spannungsfeld Migration?
“Wir verstehen uns in erster Linie als ein politisches Netzwerk, das auch sehr transnational und heterogen ist. Das ist enorm wichtig, weil es teilweise gar nicht so leicht ist, all die verschiedenen Erfahrungen zu vereinen, wir aber unglaublich viel aus unserer Unterschiedlichkeit lernen. Das gibt uns auch Energie für viele neue Projekte wie das Captain Support Netzwerk, das Menschen unterstützt, die auf der Flucht kriminalisiert werden****. Ich glaube, dass eine starke politische Präsenz und ein starkes politisches Bewusstsein hilft, diese Arbeit zu machen, aber auch Sichtbarkeit zu schaffen und ein mögliches Umdenken anzustoßen.
Dabei sind wir parteiisch auf der Seite der Menschen, die sich ihr Recht auf Bewegungsfreiheit nehmen. Wir unterstützen sie auf ihrem Weg und setzen im Seenotfall die Behörden unter Druck, diese Menschen auch zu retten. Eigentlich fordern wir Bewegungsfreiheit und Fähren statt Frontex. Durch das Visa-Regime gibt es gerade kaum noch legale Wege in die EU. Als Resultat nimmt die Anzahl der Schleuser:innen zu. Unsere Position ist: Wenn es legale Wege zur Migration gäbe, bräuchte es auch die Schleuser:innen nicht. Darum unterstützen wir den Kampf der Menschen um Bewegungsfreiheit.”
Wobei ihr auch sagt, ihr ermutigt niemanden grundsätzlich zur Migration.
Genau. Wir ermutigen niemanden dazu, sprechen aber auch niemandem das Recht auf Migration ab. Wir stellen Informationen zur Verfügung, unterstützen die Menschen, die auf dem Weg in Not sind, und machen auch viel Arbeit im Nachhinein. Denn es gibt natürlich auch viele Menschen, die sich im Nachhinein an uns wenden und nach Menschen fragen, die niemals angekommen sind. Hier versuchen wir, an Informationen zu kommen – auch wenn es schwierig ist – und den Menschen Klarheit zu geben.
Weil wir gerade im politischen Bereich sind: Wo siehst du im Moment den größten Bedarf zu handeln und etwas zu verändern?
Grundsätzlich ist die Flucht nach Europa ein umkämpftes Feld. Was wir sehen können ist, dass trotz einer rechtskonservativen Regierung in Italien letztes Jahr so viele Menschen wie noch nie zuvor dort angekommen sind. Gleichzeitig ist die Gewalt und Ignoranz deutlich größer geworden und Menschen haben sehr viel durchzustehen, bis sie überhaupt irgendwann an einem sicheren Ort angekommen sind. Das hört ja nach der Ankunft an Land nicht auf. Auch die Situation in Deutschland, mit den ganzen Verschärfungen, ist dramatisch. Dabei gibt es ja sogar zahlreiche Studien von Wissenschaftler:innen, die beweisen, dass die Verstärkung von Grenzen, so wie sie EU-weit gerade erfolgt, nicht dazu führt, dass weniger Menschen migrieren. Eigentlich wissen wir auch, dass das Narrativ, dass durch die Migration eine “Bedrohung” für Europa bestehe, absolut falsch ist. Auch der Gedanke, dass alle Menschen nur nach Deutschland wollen, weil es hier so toll ist, ist absurd. Diese Belege, dass das aktuelle Grenzregime nicht funktioniert, müssen sich nur noch weiter durchsetzen.
Es bräuchte außerdem natürlich ein ganz anderes Verständnis von Mobilität, von einer diversen Gesellschaft hier in Deutschland und Europa. Das ist eine Frage der Zeit. Gerade sind wir leider an einem Zeitpunkt, wo die Grenzen und auch die Gewalt an den Grenzen immer weiter verschärft wird und wo nationalistische Tendenzen wachsen. Aber viele Menschen in unserer Gesellschaft haben schon ein positives Verständnis von Migration und wissen, was es braucht. Ich bin darum überzeugt, dass wir weiter dafür streiten müssen und über die Zeit Erfolg haben werden.
Wie sähe eine Utopie aus, in der die Gesellschaft schon umgedacht hat?
Migration ist etwas, das seit jeher auch viel selbstverständlicher stattgefunden hat. Es ist ganz natürlich, dass es diese zirkuläre Migration gibt. Vor dem verschärften Visa-Regime 1993 konnten Menschen ja auch viel leichter nach Europa und auch wieder zurück migrieren. Es wird oft vergessen, dass das noch gar nicht so lange zurückliegt, dass diese leichte Mobilität selbstverständlich war. Das zeigt auch auf, dass das politische Entscheidungen sind, die auch andersrum möglich sind. Aber die Utopie einer solchen Migrationsgesellschaft braucht ein ganz anderes gesellschaftliches Miteinander – nicht nur EU-weit, sondern weltweit. Das ist eine große Aufgabe. Es bedarf da ganz großer Veränderungen, die jetzt utopisch erscheinen mögen, aber nicht utopisch bleiben müssen.
Es ist ja etwas, was manchmal verloren geht, wieviele Menschen sich schon dafür einsetzen, dass wir näher an ein gesellschaftliches Umdenken kommen. Welche anderen Initiativen machen Hoffnung?
Wir sind natürlich sehr vernetzt mit ganz vielen Initiativen, ich denke auch hier sind Initiativen wie Bürger:innenasyl oder Anti-Abschiebekampagnen sehr wichtig, genau wie z.B. die Seebrücke, from the sea to the cities, ein sicheres Willkommen oder sichere Häfen zu schaffen, das alles gehört dazu.
Neben den NGOs auf See arbeiten wir mit vielen Initiativen zusammen, die geflüchteten Menschen Hilfe auf dem Landweg bieten. Wir erhalten derzeit viele Anrufe gerade aus der Region um den Grenzfluss Evros zwischen der Türkei, Griechenland und Bulgarien, wo viele Menschen schon EU-Staatenland erreicht haben. Sie wissen aber oft nicht, wo genau sie sind oder haben Angst vor einem Pushback. Eigentlich bräuchte es an der Stelle juristische Unterstützung, das ist aber sehr schwer zu etablieren. Wir informieren dann Organisationen wie UNHCR (das sogenannte “Flüchtlingskommissariat” der Vereinten Nationen zum Schutz geflüchteter und verfolgter Menschen) und andere NGOs. Auch an der Grenze zu Belarus sind wir ständig in Kontakt mit Initiativen, die vor Ort Unterstützung leisten können.
Gibt es konkrete Erlebnisse, die euch in eurer Arbeit ermutigen – wo sagst du: Das war einfach bestärkend. Oder auch Entwicklungen, die Hoffnung für die Zukunft machen?
Das gibt es immer wieder. Wir haben regelmäßig Fälle, bei denen wir sehr viel intervenieren müssen und die Menschen werden gerettet. Oder wir verhindern einen illegalen Pushback nach Libyen. Oder die Menschen erreichen selbstständig das Land, obwohl die Situation kritisch war und melden sich dann einige Tage später vom europäischen Festland.
Es gibt auch rechtliche Auseinandersetzungen, die Hoffnung machen. Gerade zum Beispiel gab es diese Entscheidung in Italien, wo bestätigt wurde, dass es nicht rechtens war, dass ein Frachter, die “Asso26”, Menschen zurück nach Libyen gebracht hat. Das ist ein klares Urteil und eine klare Botschaft, an die sich auch die staatlichen Akteur:innen halten müssen. Natürlich müssen wir die praktischen Auswirkungen abwarten. Aber es ist ein Zeichen. In Italien gibt es gerade immer wieder Entscheidungen, die der rechten Regierung zuwiderlaufen. Was toll war, ist der Fall, als entschieden wurde, dass drei Menschen aus Tunesien eben nicht mehr in einem Abschiebeknast festgehalten werden dürfen. Und das, obwohl die Richterin von der Regierung massiv unter Druck gesetzt wurde. Dass Gerichte für die geflüchteten Menschen entscheiden, obwohl sehr deutlich ist, dass die Regierung solche Rechtsprechungen nicht begrüßt, ist unglaublich wichtig und zeigt, dass ein anderer, menschenfreundlicher Umgang mit Migration und Flucht möglich ist.
Das ist tatsächlich ein sehr gutes Zeichen. Vielen Dank für das Gespräch!
Offene Grenzen als Lösung?
Offene Grenzen als Alternative zu restriktiven Grenzregimen werden bereits seit Jahrzehnten diskutiert. Dabei unterscheidet sich das Argument für Open Borders, also offene Grenzen, insofern von dem Argument für No Borders (keine Grenzen), dass letzteres zu großen Teilen Staaten an sich als Konstrukte ablehnt, während Open Borders das Recht aller Menschen auf globale Freizügigkeit als staatliches Migrationsregime befürwortet. Dabei sind sich Vertreter:innen mancher Schwierigkeiten in der Umsetzung bewusst. Der kanadische Politikprofessor und Open-Borders-Befürworter Joseph Carens argumentierte 1987: “Freie Migration mag nicht sofort umsetzbar sein, aber es ist ein Ziel, nach dem wir streben sollten”. Einen Einblick in die Debatte für und wider offene Grenzen, wenn auch von einer klar pro-Freizügigkeit-Perspektive, liefert die Plattform Open Borders, die wirtschaftliche, ethische, moralische und philosophische Argumente von beiden Seiten zusammenträgt: https://openborders.info/
Auch das Alarm Phone vertritt den Gedanken der Open Borders und fordert, langfristig “das Mittelmeer zu einem Ort der Solidarität zu verwandeln mit offenen Grenzen für alle Menschen.” Allerdings spielen hier weniger abstrakte ethische Argumente eine Rolle. Wie viele Organisationen, die sich für die Rechte migrierender Menschen einsetzen, argumentiert die Initiative, dass restriktive Maßnahmen nachweislich nicht zu der gewünschten Verringerung der Zuwanderung führen, den Weg für Migrant:innen aber gefährlicher und tödlicher machen. Offene Grenzen würden demzufolge die Zahl der Menschen, die nach Europa emigrieren, nicht zwangsläufig signifikant erhöhen, aber menschliches Leiden auf der Flucht drastisch reduzieren.
*Der europäische Kolonialismus, in sich eine Migrationsbewegung, erzwang in fast allen Teilen der Welt gewaltvolle Migration. Das durch den Kolonialismus verursachte Leid, die Versklavung von Millionen Menschen in Afrika in diesem Kontext oder die Verschleppung von Zwangsarbeiter:innen aus Asien kann in diesem Artikel nicht ausführlich dargestellt werden, sollte jedoch auch in der Debatte heutiger Migrationsbewegungen nie vergessen werden.
**Pushbacks bedeuten die illegale Abschiebung bzw. Zurückweisung von geflüchteten oder migrierten Menschen, ohne dass ihnen ihr Recht auf Stellung eines Asylantrags gewährleistet wird. Pushbacks sind oft mit Gewaltanwendung gegen geflüchtete Menschen verbunden.
*** Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, steht unter heftiger Kritik für ihre Vorgehensweise im Mittelmeerraum. Erst Anfang 2023 veröffentlichten Spiegel und Lighthouse Reports eine Recherche, derzufolge Frontex regelmäßig Koordinaten von Booten an die sogenannte libysche Küstenwache weiterleitet, obwohl die Verantwortlichen sich der Misshandlung der geflüchteten Menschen durch ebendiese Küstenwache voll bewusst sind.
****Regelmäßig werden geflüchtete Menschen unter dem Vorwurf des Menschenhandels oder der sogenannten Schleuserkriminalität angeklagt und verurteilt. Erst im Juli letzten Jahres veröffentlichte die Grüne Fraktion im Europaparlament ein Gutachten, aus dem hervorging, dass in griechischen Gerichtsverfahren gegen sogenannte Schleuser:innen die Standards der Rechtssprechung nicht eingehalten werden. So genügte eine einzige Zeug:innenaussage einer Person aus Polizei oder Grenzschutz zur Verurteilung. Am Ende der Verfahren, die oft nur rund eine halbe Stunde dauerten, stand eine Haftstrafe von durchschnittlich 46 Jahren. Nur zehn Prozent der Angeklagten wurden freigesprochen.
Beitragsbild: Laurin Schmidt, SOS Mediterranée