Was haben alle Menschen gemeinsam? Sie werden älter. Lebenszeit ist begrenzt und der Körper verändert sich. Ein Mehrgenerationen-Tanzprojekt verändert die Sicht auf “unvermeidliche” Gebrechen im Alter und die Choreografin Fe Martin erzählt von ihrem persönlichen Stein der Weisen.
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Für alle Mitglieder: ePaper #6 – Mobilität – Leben ist Bewegung
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Roswitha Wahl und Renate Recknagel sind über 80 und die Stars im Show-Turnen. Durch die deutschen Zeitungen gehen derzeit Berichte über die Bremer “Turn-Omas”. Inspirierend, fit und überaus gut gelaunt traten sie auch im deutschen TV in der Show Das Supertalent auf. Denn die beiden sind außergewöhnliche Talente. Ihre Karriere als Turn-Duo nahmen sie auf, als ihre Kinder erwachsen und die beiden Freundinnen bereits über 50 Jahre alt waren. Nach eigenen Aussagen war ihnen damals bei der ersten Rolle schwindelig und beim Radschlagen haben sie gedacht, “es reiße ihnen die Bauchdecke auseinander”. Doch Training und vor allem die gegenseitige Motivation und Freude an dem Sport ließen sie nicht aufgeben. “Von der Wiege bis zur Urne; turne, turne, turne”, ist ihr Motto. Auch heute treten sie weiterhin auf und geben außerdem Kurse für Senior:innen.
Wie an dem Medienrummel zu sehen, sind “Rosi und Renate” gefeierte Ausnahmen und im professionellen Kunstturnen sind weltweit nicht viele in ihrer Altersklasse zu finden. Und doch beweisen sie eins: Es ist möglich. Oder sagen wir; es kann möglich sein. Denn das Alter und seine Gebrechen sind eine Realität für viele Menschen. Studien zufolge sorgt sich in Deutschland jede:r Zweite vor dem Älterwerden. Ein Grund ist die finanzielle Unsicherheit, ein weiterer ist schlicht die Angst vor Krankheit und Einschränkung im Alter. Die AOK Krankenkasse schreibt: “Alter wird in der Öffentlichkeit, aber auch im privaten Umfeld häufig gleichgestellt mit Verlust, einer beginnenden Abhängigkeit von anderen, körperlichen Beeinträchtigungen bis hin zur Pflegebedürftigkeit. Manche fürchten sich, dass die geistige Leistungsfähigkeit sinkt, andere, dass sie zu einer Last für die Gesellschaft werden.”
Wie sieht es also für die vielen anderen Rosis und Renates, Werners und Wilfrieds aus? Vor einigen Jahren war ich selbst eine der jungen Teilnehmenden bei einem Mehrgenerationen-Tanzprojekt in einem Altersheim in Köln. Die Leitung, Felicitas Martin, hat ein Projekt auf die Beine gestellt, das Begegnung über Bewegung geschaffen hat. Sie ließ die Teilnehmenden im Alter von 19 bis 96 Jahren eigene, persönliche Bewegungen in die Choreografie einbringen. So wurde im Tanz “das Mäh gedroschen” oder “das Telefon bedient”. Ich erinnere mich gut an meine damalige Tanzpartnerin. Sie saß nach einer OP im Rollstuhl, war 85 Jahre alt und hatte so großen Spaß an dem Tanz und unseren Treffen. Bevor wir unser Stück auf dem Sommerblut Festival aufführen konnten, verstarb sie. Am Tag der Aufführung symbolisierte ein leerer Rollstuhl ihre Präsenz. Ihre biografischen Bewegungen wurden von mir dargestellt und es fühlt sich noch heute an, als wären wir dadurch für immer verbunden. Diese Erfahrung hat meine Sicht auf das Altern verändert. Es macht mir Hoffnung, dass die individuelle und gefühlte Freiheit nicht zwangsläufig im Alter gänzlich verschwinden muss. Doch wie kann sie uns erhalten bleiben? Was kann auf gesellschaftlicher und auf persönlicher Ebene geschehen, damit Mobilität nicht nur “für die jungen Menschen” Realität ist? Mit meinen 33 Jahren habe ich selbst noch den Luxus, über die Antwort zu spekulieren oder auch zu romantisieren, daher spricht hier die Choreografin des Tanzprojektes selbst.
Das sind ihre Worte über Mobilität im Alter:
“Ich bin Felicitas Martin, 73 Jahre alt, verheiratet, vier Enkel, heute Performerin und ausgebildete Tanzpädagogin, ehemalige Managerin und Firmenchefin. Mein Studium der Tanzpädagogik habe ich mit 62 Jahren abgeschlossen. Ich bin Feministin und politisch aktiv ( Klima – und Frauenpolitik). Und ich gehe heute noch ab und zu auf die Bühne, um zu performen, wenns auch knirscht …
Mobilität im Alter heißt für mich auf die Kurzform gebracht: Lebenslanges Lernen, geistig und körperlich.
Das ist nicht immer einfach, da der Körper seinen Tribut möchte und immer mehr Fürsorge braucht – was ich manchmal vergesse, weil mein Temperament gern mal (viel) mehr will. Dann heißt: Mobil bleiben, neue Kommunikationsformen mit mir zu finden. Also schon mal meditieren statt agieren, Menschen begeistern, statt selbst sofort loszulegen. Das ist nicht immer die einfachste Übung. Lohnt sich aber. Für alle!
Eine zentrale Fähigkeit, die ich pflege, ist Netzwerken, so ganz live, mit Nachbar:innen, alt und jung, mit Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen, ein offenes Haus führen, Menschen zum Essen einladen, zusammen kochen und tanzen, hochpolitische Begegnungen und Kontaktorte, am besten im eigenen Haus. Wir haben einen kleinen Tanzraum, der auch gerne für Gäste aus aller Welt genutzt wird. Manchmal allerdings brauche ich auch meinen Rückzug, dann gehe ich aufs Land in den Wald und beobachte die Natur, und ich entdecke viel Neues für eine Städterin. Neue Wege, neue Insekten, ja das gibt es, neue (alte) Lebensformen z.B. Selbstversorgerhöfe, die nicht vor sich hin wurschteln, sondern schlaues Catering machen.
Also mal ganz ehrlich: Altern ist nichts für Feiglinge. Das ist eine Riesenaufgabe, aber auch das hält mich mobil – nicht immer fit, aber eben geistig mobil. Nicht alle alten Menschen haben diese Gabe oder auch Möglichkeit, aber dann erzähle ich denen von mir und wie ich mal wieder zäh geblieben bin und vielleicht auch nerve, wenn ich was möchte. Das erntet meist Lacher und Freude. Mit Humor kann man die Dinge auch sehen. Exemplarisch möchte ich das Beispiel einer Nachbarin erzählen. Sie ist knapp 90 Jahre alt und hat Parkinson. Und was macht sie? Sie näht für soziale Organisationen! Taschen, Kissenbezüge, Schürzen usw. Meine Frau und ich sind auf die Idee gekommen, all unseren lieben Menschen zu Weihnachten, Schürzen aus Stoffresten zu schenken. Diese Frau hat ca. 35 Schürzen genäht, bunt lustig, resteverwertend. Das war der Knüller, eine Win-Win-Lerngeschichte. Sie konnte ihre Hände beim Nähen beruhigen, hatte Spaß und eine Aufgabe. Stoffe wurden wiederverwertet und heute haben wir schon „Nachforderungen“. Denn das sind Kultteile geworden. Natürlich erzählen wir den Menschen auch die Geschichte der Schürzen, und sofort haben wir ein Thema und die Menschen haben einen Kultgegenstand, der durch die Geschichte dazu wurde.
Eine meiner Lebenslinien zum Erhalt von Mobilität ist auch die lebendige Kommunikation mit allen Menschen. Lebendig heißt für mich vor allem: Durch Bewegung kommunizieren. Als spätberufene Tanzpädagogin, Choreografin und Performerin leite ich Menschen von ganz jung bis alt und auch durchaus mit Einschränkungen, z. B. im Rollstuhl, an, sich der Welt zu zeigen und zu tanzen. Das Ensemble “Mambo Moves – Tanz der Generationen” hat drei Jahre lang (2016 bis 2018) im öffentlichen Raum getanzt und die Resonanz war großartig. Unsere Tänzer und Tänzerinnen sind in Stücken aufgetreten, die wir alle gemeinsam entwickelt haben. Das eine Stück behandelte das Thema Rausch und wurde auf einem Kunst-Schrottplatz in Köln gezeigt. Wir überwanden viele Hürden, aber das Stärkste war die so fühlbare Lebensfreude aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer (die Älteste war 96!!!). “Lebensrauschen” hieß das Stück und hat eine große Menge an Lebenslust, Lebensfreude, aber auch Schmerz gezeigt – in ganz unverstellter Weise! Ein Jahr später traten die “Mambos” im Theaterraum auf: “Am eigenen Leib“ hieß dieses Stück, ebenfalls eine Stückentwicklung von 16 Menschen mit und ohne Handicaps und die Altersspanne war von 19 bis 95 Jahre. Wir sind wohl an die Grenzen gegangen, aber es hat sich für alle gelohnt. Das sagen mir nach wie vor die noch lebenden Performer:innen; wir haben es gewagt! Und mich hält sowas jung, es hilft mir auch Alltagsfragen und körperliche Malessen besser zu meistern. Und jetzt gleich werde ich zu meinem Tanzprofessor aus Guadeloupe gehen und zwei Stunden abtanzen! Und in Bewegung bleiben.”
Bilder: Meyer Originals, “Mambo Moves – Tanz der Generationen”
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