Menschen ohne Auto zahlen bis zu 91 Prozent der Umsätze im Einzelhandel. Weltweit experimentieren Städte mit autofreien Straßen.
Der Umsatz ist für den Einzelhandel entscheidend. Die Konkurrenz durch Online-Shops wird immer größer, während die Kosten für Ladenmieten steigen. Einzelhandel ist herausfordernd und harte Arbeit. Lösungen werden weltweit gesucht.
Vorwurf Umsatzeinbußen
In vielen Städten wird gefordert, den Verkehr einzuschränken, Parkplätze umzuwidmen, Pop-Up-Radwege oder sogar autofreie Zonen zu schaffen. Sofort gehen beim Einzelhandel die Warnlampen an. Der Vorwurf lautet: Weniger Parkplätze würden den Umsatz mindern. “Wo immer das Auto weichen soll, stößt die Idee auf Ablehnung: Das sei geschäftsschädigend, enorme Umsatzeinbußen und menschenleere Innenstädte seien die Folgen.”
Irrglaube ans Auto
Immer mehr Studien zeigen hingegen, dass der Einzelhandel die Rolle des Autos in Städten überschätzt und gleichzeitig die Chancen diverser Mobilität für das Einkaufserlebnis unterschätzt. “Händler glauben, dass nur Autofahrer/innen bei ihnen einkaufen. Und die kämen nicht mehr, wenn sie nicht in der Straße parken könnten. Stimmt aber nicht. Denn statt der paar Autofahrer, kommen ganz viele andere. Und der Umsatz steigt.” Bereits 2003 wurde in sechs Französischen Städten gemessen: “Auf die Woche gesehen machen die Händler mit Autofahrern den geringsten, mit Fußgängern den höchsten Umsatz.”
70 bis 91 Prozent Umsatz ohne Auto
Eine aktuelle Umfrage belegt dasselbe für das Einkaufen am Kottbusser Damm und in der Hermannstraße in Berlin. Nur sieben Prozent der Kundinnen und Kunden fahren mit dem Auto und 93 Prozent der Käufer:innen kommen zu Fuß, mit dem Rad oder in Bussen und Bahnen. Auch in den Umsätzen spiegelt sich dieses Ergebnis wider. 91 Prozent der Umsätze zahlen Menschen, die ohne Auto gekommen sind. Und “eine Erhebung in Leipzig zeigte, dass 70 Prozent der Einkäufe von Umweltverbundkunden getätigt werden – also von Kund:innen, die mit ÖPNV oder Taxis, mit dem Fahrrad oder zu Fuß kommen.”
Berliner Flaniermeile
Die „Flaniermeile Friedrichstraße“ läuft seit August 2020 bis Oktober 2021 und ist ein Experiment. 500 Meter zwischen Französischer und Leipziger Straße sind für Fußgänger und Fahrräder reserviert, und Pflanzenkübel begrünen den kargen Teer. Das Kaufhaus Lafayette hatte zuvor explizit mit einem Umsatzrückgang von 25-30% gedroht. Doch „die Zahl unserer Kunden ist seit der Wiedereröffnung am 27. April stetig gewachsen und ist seit dem Start des Verkehrsversuchs nicht gesunken“, so Philipp Hugot, Geschäftsführer der Galeries Lafayette Berlin im Oktober 2020.
Madrids Weihnachtswunder
In Madrid wurde 2019 mit autofreien Einkaufsstraßen experimentiert. Der Umsatz wuchs in den Straßen ohne Autoverkehr. Eine Studie der Banco Bilbao (BBVA) belegt die Verbesserung der Luftqualität und die wachsenden Umsätze der Geschäfte in den gesperrten Zonen. „In der Einkaufsstrasse Gran Vía im Herzen der Stadt kletterten die Verkaufszahlen im Vergleich zu Vorjahr um stattliche 9,5 Prozent.“ Die Verantwortlichen der Stadtregierung von Madrid äußerten sich zufrieden, da der Umsatz nicht zurückging, sondern überdurchschnittlich stieg.
In Pontevedra im Nordwesten Spaniens ist die gesamte Altstadt seit 1999 autofrei. Damals traf die Veränderung auf viel Widerstand. Auch in León, Santiago de Compostela, Bilbao und San Sebastian sind die großen Altstädte weitestgehend autofrei. Nur Lieferant:innen, die Stadtreinigung und Anwohner:innen dürfen mit dem Auto hineinfahren.
Dass nur sieben Prozent der Käuferinnen und Käufer mit dem Auto kommen „deckt sich mit Studien, die 2019 über die Innenstädte von Offenbach, Gera, Erfurt, Weimar und Leipzig erschienen sind. Auch die Forschung über Mobilität und lokale Wirtschaft aus anderen Europäischen Ländern, Nordamerika und Australien spiegeln die gleichen Erkenntnisse wider“, sagt IASS-Wissenschaftler Dirk von Schneidemesser.
Weltweit wird mit Mobilität experimentiert
Bereits 2016 wurden Umsatzsteigerungen durch veränderte Mobilität in Bern und Bristol gemessen. „Auf Deutschland übertragen ergäbe sich nach diesem Rechenmodell bei einer Verdopplung des Radverkehrsanteils auf 25% ein Umsatzplus von 8,7 Millarden Euro für den Einzelhandel.“ Auch wenn diese Ergebnisse nicht allgemein gelten, zeigen sie neue Wege für den Einzelhandel in Großstädten auf. Eine treffende Zusammenfassung bringt Prof. Dr. Wolf R. Eisentraut: „Für wen sind denn die Städte gebaut? Nicht für die Fortbewegungsapparate, sondern für die Menschen. Also muss Berlin eine Menschenstadt sein.“ Der Einzelhandel kann von einem menschfreundlichen Städte-Design profitieren und sollte sich zukünftig an Planungen beteiligen, um die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.
Beitragsbild: Radfahrer in Bilbao von Martin Gaedt