Michelle O’Bonsawin: “Alles ist möglich”

Erste indigene Richterin am kanadischen Supreme Court

von | 1. September, 2022

Die erste First Nations Richterin am Obersten Gerichtshof macht Hoffnung auf eine bessere Repräsentation indigener Gruppen in Kanadas Justiz.

Seit Jahrzehnten kämpfen Angehörige indigener Völker in Kanada für ihre Rechte. Dabei geht es ihnen um die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit, aber auch um Gleichberechtigung in der heutigen Gesellschaft. Eine Neubesetzung im kanadischen Supreme Court gilt nun als wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Denn zum ersten Mal in der Geschichte des Landes sitzt eine indigene Richterin an Kanadas Oberstem Gericht.

Repräsentation für Angehörige der indigenen Bevölkerung 

Mitte August verkündete der kanadische Premier Justin Trudeau die Nominierung von Michelle O’Bonsawin an den Supreme Court. Seit dem 1. September ist die 48-Jährige offiziell eine der neun Richter:innen des höchsten kanadischen Gerichts. 

Michelle O’Bonsawin gehört den Abenaki des Odanak-Reservats in Québec an, wuchs aber außerhalb des Reservats in der kleinen frankophonen Gemeinde Hanmer in der Nähe von Sudbury, Ontario, auf. Die bilinguale Franko-Ontarierin übernimmt den Posten des langjährigen Richters Michael J. Moldaver. 

Justizminister David Lametti bezeichnete die Entscheidung auf Twitter als einen „wichtigen Moment für das Gericht, für indigene Völker und für Kanada“ und betonte: „Die Nominierung von Justice Michelle O’Bonsawin bedeutet, dass indigene Völker sich zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes auf der Bank des kanadischen Supreme Court repräsentiert sehen.“

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„Eine historische Ernennung“

Rund 4,9 Prozent der Gesamtbevölkerung Kanadas machen indigene Völker, also Angehörige der First Nations, Inuit und Métis, aus. Für sie schafft die Berufung einer indigenen Richterin an den Obersten Gerichtshof nun Repräsentation auf höchster gerichtlicher Ebene. Doch sie hat auch wichtige praktische Implikationen. Denn wie die Präsidentin der Native Women’s Association of Canada, Carol McBride, erklärt, habe „das Oberste Gericht bislang Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen für die First Nations, Métis und Inuit getroffen, aber ohne die Berücksichtigung der besonderen charakteristischen Sichtweisen indigener Völker“. Mit der Ernennung von Michelle O’Bonsawin, die McBride als „historisch“ bezeichnet, könnte diese Wissenslücke nun geschlossen werden. 

Die neu ernannte Supreme Court Richterin bringt dazu die besten Voraussetzungen mit: Sie ist aktiv in das kulturelle Leben ihrer Gemeinschaft eingebunden und beherrscht die Abenaki-Sprache. Gleichzeitig besitzt sie weitreichende Kenntnisse über die Rechte und Herausforderungen der indigenen Bevölkerung in der Justiz, insbesondere über das  Gladue-Prinzip. Dieses verpflichtet Richter:innen dazu, in ihren Urteilen die besonderen Umstände und Herausforderungen indigener Lebenswelten berücksichtigen, um einer etwaigen Benachteiligung indigener Menschen durch das Justizsystem entgegenzuwirken.  

Doch es gibt noch einen zweiten Bereich, in dem sich die 48-Jährige für mehr Aufklärung einsetzt: Als Expertin für Mental Health Law, also der rechtlichen Betrachtung von Belangen der psychischen Gesundheit, hat sie mehrere Dokumente verfasst, um für eine bessere rechtliche Grundlage zu sorgen. Ihr Ziel, so erklärt sie, sei es, „die Justiz und die Interessenvertreter der Gemeinschaft weiterhin über verschiedene indigene und psychische Rechtsfragen aufzuklären, um sicherzustellen, dass die Stigmatisierung und die Missverständnisse begrenzt und hoffentlich eines Tages beseitigt werden.“ 

Eine starke Stimme

Auch wenn für O’Bonsawin Objektivität in ihrer zukünftigen Aufgabe an erster Stelle steht – „Ich bin immer in erster Linie Richterin und in zweiter Linie indigene Person, Mutter und Franko-Ontarierin“, stellte sie in einem Austausch mit Parlamentsabgeordneten klar – so sind ihre Wurzeln und Erfahrungen doch ausschlaggebend für die Ziele, die sie als Richterin vertritt. Denn ihre Kindheit als First Nations Frau im nördlichen Ontario machte ihr bewusst, “wie dringend wir Einzelpersonen brauchen, die eine starke, repräsentative Stimme ergreifen für all jene, die nicht für sich selbst sprechen können“.

Bereits mit neun Jahren fasste sie darum den Entschluss, Anwältin zu werden. Der Weg dorthin war alles andere als leicht: Aufgewachsen in einer Arbeiterfamilie musste sie früh mit anpacken, suchte sich Jobs als Babysitterin, Verkäuferin und Bedienung. In der Schule riet man ihr davon ab, Juristin zu werden – als Mädchen aus einer französischen Kleinstadt im nördlichen Ontario habe sie schlechte Karten. Doch das bestärkte Michelle O’Bonsawin nur in ihrer Entscheidung. Von ihrer Nominierung als Richterin des Supreme Court erhofft sie sich nun ein Zeichen:

„Ich hoffe, dass viele junge Menschen, gerade indigene Frauen, sehen: wenn wir uns etwas fest vornehmen und uns mit großartigen Menschen umgeben, ist alles möglich.”


Beitragsbild: Wikimedia Commons / D. Gordon E. Robertson

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Luisa Vogt

Luisa Vogt ist stellvertretende Print-Chefredakteurin beim Good News Magazin und liebt Sprachen, Reisen und das kennenlernen verschiedenster Kulturen. Beim Good News Magazin lebt sie ihre Leidenschaft für Sprache und für spannende, schöne Berichte aus aller Welt - weil die Welt viel mehr realistischen Idealismus braucht. Außerdem studiert sie nach ihrem Bachelor in Englisch und Französisch inzwischen im Master Asien- und Afrikastudien in Berlin und arbeitet als Lerntherapeutin.

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