Hunderte Jahre Haft eingespart

Alternativen zu Ersatzfreiheitsstrafen sollen leichter zugänglich werden 

von | 20. Januar, 2023

Durch bessere Aufklärung über Alternativen zu Ersatzfreiheitsstrafen können Menschen vor einer Inhaftierung mit möglicherweise gravierenden Konsequenzen bewahrt werden.

Ins Gefängnis müssen, weil man sich eine Geldstrafe nicht leisten kann? Das klingt ziemlich hart – und doch sieht die sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe genau das vor. Seit langem steht diese Form der Strafe in der Kritik, nun soll es leichter werden, sie zu vermeiden. Zahlreiche Alternativen verhindern jährlich bereits tausende Jahre Haft. Das Saarland hat jüngst ein Programm verabschiedet, das Betroffene persönlich darüber informiert, wie sie diese Alternativen wahrnehmen können.

Was steckt hinter der Ersatzfreiheitsstrafe?

Die Ersatzfreiheitsstrafe ist definiert im Paragraph 43 des Strafgesetzbuchs (StGB). Dort heißt es: “An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe. Einem Tagessatz entspricht ein Tag Freiheitsstrafe. Das Mindestmaß der Ersatzfreiheitsstrafe ist ein Tag.”

Im Klartext heißt das also: Wer zu einer Geldstrafe verurteilt wird, diese aber nicht leisten kann oder will, muss das Strafmaß hinter Gittern absitzen – und das, obwohl es ja gerade um Vergehen geht, die eine Freiheitsstrafe nicht rechtfertigen. Darunter fallen beispielsweise Delikte wie Ladendiebstahl oder Schwarzfahren. 

Doch nicht nur stehen Ersatzfreiheitsstrafen in ihrer Schwere in einem Unverhältnis zu den begangenen Vergehen, sie betreffen auch insbesondere Menschen, die im System bereits benachteiligt sind. “Der große Teil derer, die solche Freiheitsstrafen verbüßen, sind […] Menschen, die Armutsdelikte begangen haben und die aufgrund ihrer Armut nicht in der Lage sind, die Geldstrafen zu bezahlen”, erklärt Anja Seick von der Freien Hilfe Berlin. Der gemeinnützige Verein entwickelt Angebote und Hilfestellungen für sozial benachteiligte, inhaftierte und haftentlassene Menschen. Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit ist die Aufklärung über und die Umsetzung von Alternativen zu Ersatzfreiheitsstrafen. Dabei arbeiten bundesweit gemeinnützige Vereine und Initiativen mit dem Justizsystem zusammen.

Schwitzen statt Sitzen

Tatsächlich sind sich auch die Justizministerien von Bund und Ländern darüber im Klaren, dass die Ersatzfreiheitsstrafe eine, vorsichtig formuliert, suboptimale Lösung ist. Die Berliner Justizministerin Lena Kreck fand noch deutlichere Worte: Jede Ersatzfreiheitsstrafe, die in Haft verbüßt werden muss, sei ein Scheitern des Systems, konstatierte sie Anfang 2022 in einem Interview. Bereits 2013 mahnte der damalige NRW-Justizminister Thomas Kutschaty vor den Folgen einer Ersatzfreiheitsstrafe:

“Unter Umständen verlieren die Betroffenen durch ihre Inhaftierung ihren Arbeitsplatz und ihre Wohnung. Dann ist ihnen völlig der Boden unter den Füßen weggezogen.” 

Um solche gravierenden Konsequenzen abzuwenden, gibt es inzwischen beispielsweise die Möglichkeit, eine Geldstrafe in Raten abzugleichen. Doch was, wenn eine finanzielle Leistung der Strafe einfach nicht möglich ist? Dafür gibt es seit den 1980er Jahren eine Alternative, die sich in Deutschland immer größerer Beliebtheit erfreut und die über die Jahrzehnte nunmehr in alle Bundesländer Einzug gehalten hat, nämlich das Konzept “Arbeit statt Strafe”, oder umgangssprachlich: “Schwitzen statt Sitzen”. 

Dabei leisten Menschen, die zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, stattdessen gemeinnützige Arbeit, beispielsweise bei der Pflege von Grünanlagen, der Renovierung von öffentlichen Gebäuden oder in sozialen Einrichtungen. Eine solche Arbeit ist bei Einrichtungen möglich, die eine Vereinbarung mit den Sozialen Diensten der Justiz geschlossen haben, als Faustregel gilt dabei in den meisten Fällen, dass vier Stunden Arbeit pro Tag einen Tagessatz der Geldstrafe ersetzen.

Aufklärung über individuelle Möglichkeiten schaffen

Die Erfolge können sich sehen lassen. So werden in Berlin laut der Freien Hilfe Berlin etwa 50.000 Hafttage jährlich durch Maßnahmen zur Arbeit statt Strafe eingespart. Erst jüngst gab das Land Baden-Württemberg bekannt, im Jahr 2021 rund 170.000 Hafttage für säumige Schuldner:innen vermieden zu haben, umgerechnet also über 465 Jahre. 

Ein entscheidender Faktor ist dabei die richtige Aufklärung. Denn häufig wissen die Verurteilten nicht um die Alternativen, die es gibt, um Ersatzstrafen durch Ratenzahlung oder gemeinnützige Arbeit abzuwenden. Zwar informieren die zuständigen Behörden per Brief über die verschiedenen Möglichkeiten, doch diese Informationen erreichen häufig gerade die Betroffenen nicht, die am dringendsten darauf angewiesen wären – beispielsweise, weil sie aufgrund von Vorerfahrungen die Behördenpost nicht lesen oder aufgrund von Sprachbarrieren

In vielen Ländern gibt es darum, gekoppelt mit den Maßnahmen zum “Schwitzen statt Sitzen”, Projekte zur Aufklärung, bei denen Gerichtshelfer:innen oder Sozialarbeiter:innen die Menschen persönlich über ihre Möglichkeiten informieren und so gemeinsam individuelle Lösungen erarbeiten. In Baden-Württemberg schließen Gerichtshelfer:innen zusätzlich zur reinen Aufklärung beispielsweise auch schriftliche Tilgungsvereinbarungen mit ihren Klient:innen ab und erinnern sie an Zahlungstermine.

Reformbedarf wird anerkannt

Ein solches Projekt soll nun auch im Saarland eingeführt werden. Im Dezember gab das saarländische Justizministerium den Start des Programms “Aufsuchende Sozialarbeit zur Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen” bekannt. Sozialarbeiter:innen des Kompetenzzentrums der Justiz für ambulante Resozialisierung und Opferhilfe (KARO) suchen Menschen auf, denen die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe droht und klären sie über ihre Alternativen auf. 

Die Ersatzfreiheitsstrafe treffe häufig ärmere Menschen und hätte – zum Beispiel aufgrund von Kündigung des Arbeits- oder Mietverhältnisses – oft erhebliche Folgen für das Leben der Verurteilten, auch wenn die Haftstrafe vergleichsweise kurz sei, begründete das saarländische Justizministerium seine Entscheidung.

Auch auf Bundesebene tut sich etwas. Im Dezember 2022 beschloss das Kabinett eine Reform des Systems. Demnach soll zunächst die Dauer der Ersatzfreiheitsstrafe halbiert werden, also statt einem Verhältnis von eins zu eins in Zukunft pro zwei verhängten Tagessätzen nur ein Tag Haft stehen. Die berechtigte Kritik: eine solche Verkürzung führt eben nicht zur eigentlich nötigen Vermeidung unverhältnismäßiger Gefängnisstrafen. Die im Kabinett beschlossene Reform sieht jedoch auch vor, Projekte zur Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit zu stärken und Ratenzahlungen zu erleichtern, etwa durch Unterstützung bei der Beantragung.

Dass das Justizministerium zudem anerkannte, der Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe leiste “in der Regel keinen Beitrag zur Resozialisierung der Betroffenen”, macht Hoffnung auf weitere Reformen in der Zukunft. Bereits jetzt steht fest: Projekte wie “Schwitzen statt Sitzen” und eine verstärkte Aufklärung über die Alternativen zur Ersatzfreiheitsstrafe können jedes Jahr tausende Jahre Haft einsparen. Das entlastet die deutschen Gefängnisse und Steuerzahler:innen erheblich und schützt Betroffene davor, aufgrund fehlender finanzieller Mittel und mangelnden Wissens über Alternativen eine Gefängnisstrafe ableisten zu müssen.

Beitragsbild: Frank Kinch

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Luisa Vogt

Luisa Vogt ist stellvertretende Print-Chefredakteurin beim Good News Magazin und liebt Sprachen, Reisen und das kennenlernen verschiedenster Kulturen. Beim Good News Magazin lebt sie ihre Leidenschaft für Sprache und für spannende, schöne Berichte aus aller Welt - weil die Welt viel mehr realistischen Idealismus braucht. Außerdem studiert sie nach ihrem Bachelor in Englisch und Französisch inzwischen im Master Asien- und Afrikastudien in Berlin und arbeitet als Lerntherapeutin.

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