Containern bezeichnet nach deutscher Rechtsauffassung bisher den Diebstahl weggeworfener Lebensmittel aus Abfallcontainern. Doch ist es Diebstahl? Ein paar Gedanken dazu in unserem Good News Thought des Monats.
Mitte Januar kündigten Landwirtschaftsminister Cem Özdemir und Justizminister Marco Buschmann an, dass sie das sogenannte Containern straffrei stellen wollen, sofern dabei nicht gewaltsam vorgegangen wird.
„Wenn sich Menschen weggeworfene Lebensmittel mit nach Hause nehmen, ohne dabei eine Sachbeschädigung oder einen Hausfriedensbruch zu begehen, dann muss das nach meiner Meinung nicht weiter strafrechtlich verfolgt werden. Ich hielte daher eine Anpassung der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren durch die Länder für sinnvoll. Dort, wo aber ein Hausfriedensbruch oder eine Sachbeschädigung begangen werden, muss das Strafrecht das sanktionieren. Am besten ist es sowieso, wenn Lebensmittel gar nicht erst im Müll landen.“
Bundesminister Dr. Marco Buschmann
„In Deutschland landen leider noch viel zu viele Lebensmittel im Müll. Wer Lebensmittel vor der Tonne rettet, sollte dafür nicht weiter strafrechtlich verfolgt werden. Das Containern nicht strafrechtlich zu verfolgen, ist einer von vielen Bausteinen im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung. Hier können auch die Bundesländer einen konkreten Beitrag leisten. Unser gemeinsames Ziel sollte es sein, dass Nahrungsmittel dorthin kommen, wo sie hingehören: auf den Teller und nicht in die Tonne.“
Bundesminister Cem Özdemir
Nach Auffassung der Bundesregierung stellt das hohe Aufkommen von Lebensmittelabfällen und -verlusten – auch vor dem Hintergrund der Folgen für Klima, Umwelt und Biodiversität – eine große gesellschaftliche Herausforderung dar. Allein in Deutschland entstehen pro Jahr ca. elf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle, 0,8 Mio. Tonnen davon im Handel. “Ziel der Bundesregierung ist es daher unter anderem, gemeinsam mit allen Beteiligten die Lebensmittelverschwendung verbindlich branchenspezifisch zu reduzieren, haftungsrechtliche Fragen zu klären und steuerrechtliche Erleichterung für Spenden zu ermöglichen”, so die offizielle Mitteilung.
Wie schaut es weltweit aus?
Das Containern oder auf Englisch “Dumpster Diving” (wörtlich: “Mülltonnentauchen”) bewegt sich in vielen Ländern in einer rechtlichen Grauzone. Legal ist es laut Wikipedia nur in einem Ort: dem kanadischen Montreal. Hier gibt es sogar eine Karte, die die verschiedenen Container auflistet. Ob Containern in Montreal und in Kanada allgemein aber tatsächlich legal ist, wird in keinem Gesetzestext explizit festgelegt. So kommt es – wie in anderen Ländern auch – oft auf die Art des Containerns an, wie der Schweizer Tagesanzeiger 2019 informierte: “Erlaubt ist Containern aber nur, wenn die Mülltonne frei zugänglich ist, also wenn man beispielsweise nicht zuerst über einen Zaun oder eine Absperrung klettern muss. Wer abgeschlossenes Gelände betritt, begeht Hausfriedensbruch. Ist die Mülltonne verschlossen, ist es verboten, sie aufzubrechen. Tut man es trotzdem, ist dies Sachbeschädigung.”
Ähnlich handhaben es viele andere Länder: Containern selbst bleibt in einer rechtlichen Grauzone, wenn es nicht zusätzlich zu Hausfriedensbruch oder Sachbeschädigung kommt. Dennoch muss eine eindeutige Gesetzeslage her, sonst kann es zu Verurteilungen wegen Diebstahls kommen. Erst 2020 bewertete das Bundesverfassungsgericht das Containern zweier Studentinnen im Jahre 2018 in letzter Instanz als illegal und verurteilte sie wegen Diebstahls, da der Container auf Firmengelände gestanden habe und verschlossen gewesen sei.
Wer “containert” eigentlich?
Eine kanadische Studie aus dem Jahr 2014 in Montreal zeigte, dass nicht nur “ernährungsunsichere Menschen” das Containern nutzen. Es ist vielmehr eine heterogene Gruppe. Ja, einige Menschen würden das Dumpster Diving aus der Not heraus praktizieren, um die Lebensmittel aus Sozialhilfeprogrammen zu ergänzen oder die Stigmatisierung im Zusammenhang mit diesen Programmen zu vermeiden.
“Es kommt jedoch immer häufiger vor, dass sich Menschen, deren Ernährung gesichert ist, dazu entschließen, in Müllcontainern zu tauchen. (…) Wir fanden heraus, dass sich zwar einige Diver als nahrungsunsicher und extrem arm bezeichneten, die meisten jedoch nicht; in erster Linie waren die Diver Weiße, Universitätsstudierende, mit einer „alternativen“ Identität und ohne Vollzeitjob oder Kinder. Die Diver benötigten spezielle Kenntnisse und verwerteten meist Lebensmittelabfälle aus Lebensmittelgeschäften und Bäckereien (z. B. Brot, Obst, Gemüse, Fleisch, Milchprodukte), die die Zusammensetzung und Qualität ihrer Ernährung erheblich verbesserten.”
Auszug aus der Studie
Die Beschreibung der Diver erinnerte mich sofort an die mir wohl bekannteste Dumpster Diverin: Meine Schwester. Um also das Containern besser zu verstehen, wurde es Zeit für ein familieninternes Interview. Denn bevor sie mir 2018 erstmal vom Dumpster Diving erzählte, hatte ich selbst noch nie davon gehört.
Meine Schwester, Johanna Franke (26), studiert Polar Law an der University of Akureyri in Island. Da auch Umweltrecht und die Entwicklung der arktischen Regionen eine wichtige Rolle in dem Studium spielen, wollte ich wissen, wie ihre Erfahrungen beim Containern waren.
Good News Magazin: Johanna, wie oft seid ihr in Island beim Dumpster Diving unterwegs?
Johanna Franke: Sicher ein- oder zweimal die Woche mindestens. Man weiß auch irgendwann, welcher Tag am besten geeignet ist.
Wie bist Du darauf gekommen?
2018, als ich hier das erste Mal auf einem Erasmus-Semester in Akureyri war, haben mich ein paar französische Studenten drauf gebracht. Als ich dann ab 2020 voll hier studiert habe, hat uns sogar eine deutsche Professorin beim ersten Mal mitgenommen und rumgefahren. Es gibt sogar eine Facebook-Gruppe nur zum Dumpster Diving in Akureyri, um Tipps und auch gerettete Lebensmittel auszutauschen.
Seid ihr dabei jemals gestoppt worden?
Nein. Es sind schon manchmal Mitarbeiter:innen aus den Läden gekommen und haben gefragt, was wir da machen. Aber wir haben ihnen das mit der Lebensmittelverschwendung erklärt und gezeigt, was wir nehmen – das haben bisher alle verstanden.
Du studierst nun auch Recht – ist Containern für dich nicht illegal?
Das ist es, wenn Sachbeschädigung oder Hausfriedensbruch ins Spiel kommt. Das ist für mich dann etwas ganz anderes. In Island sind einige Container frei zugänglich und offen, andere abgeschlossen. Da würden wir uns nie ran wagen. In Deutschland zum Beispiel findet man die Container teilweise gar nicht oder müsste über Zäune klettern. Das würde ich nicht mitmachen. Wir machen in Island daraus auch keine Nacht-und-Nebel-Aktion, sondern fahren bewusst die Läden ab und das auch tagsüber.
Was findet ihr in den Containern so?
Vor allem Nahrungsmittel, die wir uns so als Student:innen nicht hätten leisten können. Fleisch, Fisch, Käse – das ist alles sehr teuer in Island. Wir haben aber auch schon 20 verschiedene Smoothies gefunden oder richtig tolles Chili-Öl.
Bilder: Johanna Franke
Ist das alles abgelaufen?
Ja, das meiste schon. Es war auch noch nie was Verdorbenes dabei. Nimmt man Fisch oder Fleisch vom Tag oder Vortag, ist der Vorteil des isländischen Winters: Es ist eh alles gefroren geblieben. Was ich nicht verstehe, ist manchmal das Obst oder Gemüse, das weggeworfen wurde. Perfekte Zwiebeln oder Kartoffeln: Wir haben uns natürlich riesig gefreut, aber keine Ahnung, warum die aussortiert wurden.
Gibt es eine Alternative für die Läden?
Ich denke schon: Einer der Supermärkte hier verkauft einfach alles mit 50 Prozent Rabatt, was abläuft. Warum nicht bei allem so, was sonst weggeschmissen wird und noch sicher zu verzehren ist? Wir haben Schokolade gefunden, wo nur die Außenbox kaputt war, nicht die inneren Verpackungen. Das ist doch alles noch gut. Auch Spielzeug wird weggeschmissen, wenn die Verpackung kaputt ist. Das muss nicht sein.
Wie sehen die Alternativen aus?
Auch wenn Johanna mir versichert, dass sich keiner je beim Dive in den Containern verletzt hätte, gibt es doch sicher Alternativen, als das Herumfischen in Mülltonnen? In einer Umfrage des Handelsblatts sprach sich keiner der großen Handelsketten für eine Legalisierung des Containerns aus. Eher bedarf es sicherer Alternativen.
TooGoodToGo ist sicher die hierzulande bekannteste kommerzielle Variante, bei der Supermärkte, Bäckereien, Restaurants oder auch Tankstellen-Bistros ihre zu rettenden Lebensmittel online stellen und willigen Retter:innen zum sehr günstigen Verkauf anbieten.
Foodsharing.de wiederum ist die größte Bewegung zur Rettung von Lebensmitteln. Seit 2012 werden ehrenamtlich täglich tonnenweise gute Lebensmittel vor dem Müll gerettet. Die Lebensmittel werden kostenfrei privat, in Obdachlosenheimen, Schulen, Kindergärten und über die Internetseite verteilt. Öffentlich zugängliche Regale und Kühlschränke, sog. „Fair-Teiler“, stehen allen zur Verfügung. Über 540.000 Menschen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz nutzen regelmäßig die Internetplattform. Inzwischen engagieren sich darüber hinaus über 130.000 Menschen ehrenamtlich als Lebensmittelretter:innen, indem sie überproduzierte Lebensmittel von Bäckereien, Supermärkten, Kantinen und Großhändlern – ganz offiziell – abholen und verteilen. Das geschieht laut Foodsharing kontinuierlich über 6.000 Mal am Tag bei über 13.000 Kooperationspartnern.
Auch bei den Supermärkten selbst ist Bewegung zu spüren: (Bald) abgelaufene Lebensmittel werden vermehrt rabattiert angeboten oder an Tierparks gespendet und Einzelaktionen wie die Goldene Tonne in 14 Supermärkten in Osnabrück schaffen Alternativen. Lidl führte im Sommer 2022 deutschlandweit die Rettungstüte ein, bei der äußerlich weniger perfekten, aber verzehrfähigen Obst- und Gemüseprodukten zum Preis von drei Euro pro Tüte eine zweite Chance gegeben wird.
Und, rein subjektiv betrachtet, kommt das an: Wenn ich mich beim Einkauf entscheide, ob ich zu Edeka oder Lidl fahre, die beide gleich weit weg sind? Dann fahre ich zu Lidl und hole mir eine der Tüten, statt frisches Obst und Gemüse. So muss ich in keinen Container steigen, rette Lebensmittel und muss aufgrund der Auswahl in der Tüte ganz nebenbei noch lernen, wie man aus Bohnen, Fenchel oder viel zu vielen Äpfeln leckere Gerichte oder Säfte zubereitet.
Übrigens, genau hier fängt die Arbeit an: Zuhause. Denn während der Handel für sieben Prozent der Lebensmittelverschwendung zuständig ist, fallen 59 Prozent in Privathaushalten an – pro Verbraucher:in gut 78 Kilogramm im Jahr. Doch so wie der Handel das Lebensmittelretten ausbaut, können auch wir es tun – mit Rezepten, die älter sind als unsere Großeltern. Obst wird zu Saft, alte Brötchen zu Semmelknödeln und welke Kräuter zu Kräuterbutter. Und vor allem wird das Mindesthaltbarkeitsdatum als solches verstanden, nicht als “Wegwerfdatum”. Denn um zu eruieren, ob etwas noch gut ist, dafür haben wir drei Sinne: Schauen, Riechen, Probieren.
Guten Appetit!
Beitragsbild: Raphael Fellmer/Foodsharing.de