Bestatter Gyan Härri erklärt, warum die Bestattung mit dem Lastenrad besondere Nähe schafft und einen offeneren Umgang mit dem Tod fördert.
Als Bestatter erlebt Gyan Härri Menschen ganz offen und nah. Diesen besonderen Gefühlen möchte er Raum geben, indem er Verstorbenen und ihren Angehörigen genau die Bestattung ermöglicht, die sie sich wünschen. Dazu gehört seit einiger Zeit auch das Angebot, den letzten Weg mit dem Lastenrad zurückzulegen. Für Härri bietet das “Bestattervelo” eine besonders intime Art des Abschiednehmens – und die Möglichkeit, den Tod wieder zu einem Teil des Lebens zu machen.
Mit dem Lastenrad zur letzten Ruhestätte
Für viele Menschen ist es sicher zunächst ein ungewöhnliches Bild, wenn Gyan Härri mit seinem Bestattervelo durch die Straßen fährt. Dabei ist Bern nicht der einzige Ort, an dem ein Lastenrad für den letzten Weg zur Ruhestätte eingesetzt wird. Bereits seit 2014 bietet eine Bestatterin in Dänemark diesen Service an, jüngst erregte die französische Bestatterin Isabelle Plumereau mit ihrem Corbicyclette auf den Straßen von Paris Aufsehen. Auch in Deutschland bieten inzwischen Bestattungsunternehmen, etwa in Halle und Hannover, ein Lastenrad als Alternative zum Leichenwagen an.
Manch eine:r fragt sich, ob denn nun also alles “grün” werden müsse. Die Bestatter:innen sind sich jedoch einig: Der Umweltaspekt steht für sie nicht im Vordergrund. Sie wollen vielmehr den Verstorbenen und ihren Angehörigen eine sehr persönliche Art der Verabschiedung ermöglichen. Auch für Gyan Härri entfaltet die Bestattung mit dem Lastenrad eine ganz besondere Wirkung.
“Ich sage immer, das Velo kann zaubern. Es bewirkt etwas, das man sich vorher nicht vorstellen kann”
Bestatter Gyan Härri
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Eine letzte gemeinsame Fahrt
Um die Bedeutung des Lastenrads zu verdeutlichen, erzählt Härri die Geschichte eines jungen verstorbenen Mannes. Da er zu Lebzeiten immer mit dem Rad gefahren war, sollte auch seine letzte Fahrt mit dem Rad stattfinden. Doch seine letzte Fahrt war etwas ganz Besonderes, denn der junge Mann war dabei nicht allein: Seine Freund:innen hatten sich dazu verabredet, das Bestattervélo auf der Fahrt zu begleiten. So fuhren 30 Menschen gemeinsam zum Krematorium und anschließend weiter zu einer Feuerstelle im Wald, wo sie feierten – genau so, wie sie es mit ihm immer gemacht hatten.
“Es war genau das, was für ihn gepasst hat”, erklärt Härri. Solche Momente zu ermöglichen, ist für ihn das Ziel seiner Arbeit: “Wir wollen den Verstorbenen und ihren Angehörigen das geben, was sie sich wünschen und was ihnen guttut. Wir zeigen ihnen, dass wir sie ernst nehmen und ihre Wünsche umsetzen.” Seine Erfahrung ist, dass es letztendlich oft gerade für die unkonventionellen Entscheidungen großen Zuspruch von außen gibt, weil sie der Persönlichkeit des geliebten Menschen entsprechen. Seine Botschaft ist darum: “Seid mutig! Seid mutig, es genau so zu tun, wie es für euch richtig und wichtig ist!”
Es ist diese Philosophie, die Aurora Bestattungen, Härris Arbeitgeber, ausmacht. “Das andere Bestattungsunternehmen”, wie sich Aurora bezeichnet, setzt alles an eine individuelle Begleitung im Trauerfall und die Umsetzung aller Wünsche, wo möglich – von der Aufbahrung zuhause über mehrere Tage bis zur Bestattung in der Natur.
“Ich wollte das Geschenk, das ich für mich selbst gefühlt habe, weitergeben. Ich wollte den Verstorbenen und den Angehörigen das Gefühl geben, getragen zu sein.”
Bestatter Gyan Härri
Die Geschichte hinter dem Bestattervelo
Doch wie ist gerade das Lastenrad Teil dieser Philosophie geworden? “Der Gedanke ist mir schon vor langer Zeit gekommen”, berichtet Härri. Zu seiner Hochzeit habe er sich ein Lastenrad gewünscht, um “meine Familie durchs Leben tragen zu können”. Dieses Gefühl wollte er weitergeben und so ergab sich bald die Idee für ein Bestattervelo. Zuerst mussten jedoch einige logistische Herausforderungen überwunden werden, denn das Velo muss deutlich länger sein als ein herkömmliches Lastenrad. Seit eineinhalb Jahren verfügt das Bestattungsinstitut nun über ein eigens umgebautes Rad – mit Elektroantrieb.
Momente, die unter die Haut gehen
Verbundenheit und Nähe sind das, was bei der Bestattung mit dem Velo im Vordergrund steht. Durch die andere Fortbewegungsform wird alles langsamer, ruhiger, intimer. So bleibt Zeit, nach innen zu gehen und das Ritual gewinnt eine ganz andere Bedeutung: “Der Transport im Auto ist oft sehr technisch. Die Berührung mit dem Velo ist ungleich größer”, erklärt Härri. Und die Bewegung in seiner Stimme ist hörbar, als er berichtet, wie ein Mann darum gebeten habe, seine Frau selbst mit dem Rad zum Krematorium fahren zu dürfen. Die letzte Fahrt, die sonst der Bestatter übernimmt, gemeinsam machen zu können, schuf so einen letzten Moment besonderer Nähe.
Genau das macht die Fahrt mit dem Velo so persönlich und bedeutsam: So gehen können, wie wir es uns wünschen und für die, die zurückbleiben, spüren lassen zu dürfen, dass es sich die Person, die ihnen so nahe war, so gewünscht hätte. Wie bei der Frau, die in ihrem ganzen Leben kaum Auto gefahren ist, weil sie es nie wollte. Für ihre letzte Fahrt wünschte sie sich, mit dem Bestattervelo abgeholt zu werden. Oder bei dem jungen Mann, der zu einer befreundeten Bestatterin im Scherz gesagt hatte: “mich kannst du auch mal mit dem Velo abholen”. Als er kurz darauf unerwartet verstarb, setzte die Familie alles daran, diesen Wunsch zu erfüllen. Für die Überführung war die Distanz mit dem Lastenrad jedoch zu groß. So fand sich eine andere Lösung:
“Wir haben die Urne dann hier auf das Velo gestellt, haben das Velo geschmückt und sind damit zur Kirche gefahren, sogar bis in die Kirche hinein und später mit dem Rad wieder heraus”, erzählt Härri. Die Familie, Freunde und Bekannten des Verstorbenen kamen mit ihren Rädern bis zur Kirche und schlossen sich ihnen an. So fuhren 150 Menschen gemeinsam mit dem Bestattervelo durch die Stadt bis zum Ort der Beerdigungsfeier. “Das ist einfach unter die Haut gegangen”, erinnert sich Härri sichtlich bewegt.
Dem Tod den Schrecken nehmen
Die Reaktionen auf das Velo sind laut Härri bisher unglaublich positiv. Doch natürlich gibt es auch Skepsis. Auf die Frage, wie er auf Kritik reagiert, stellt Härri klar: “Ich versuche nie, Leute umzustimmen oder sie von irgendetwas zu überzeugen”. Grundlage seiner Philosophie sei es gerade, dass alle Menschen ihren eigenen Umgang mit dem Tod haben dürften. Das Bestattervelo ist eben nicht für jede Person die richtige Lösung, erkennt er an. Darum sucht er das offene Gespräch, stellt Fragen, hört zu und erkennt: Die meisten Leute hinterfragen schnell selbst, warum sie eigentlich gegen das Velo sind.
Letztendlich, so Härri, ginge es um Offenheit in der Konfrontation mit dem Tod. Er bemerkt, dass heute ein großes Tabu um das Sterben und die Angst davor besteht, der Tod in der Gesellschaft mehr oder weniger unsichtbar gemacht wird. Früher sei das ganz anders gewesen, damals seien Traditionen wie eine Aufbahrung oder Trauerzüge Teil des Lebens gewesen. So hätte der Tod auch seinen Schrecken verloren.
Sich mit dem Tod auseinanderzusetzen erfordert Mut, erkennt Härri an: “Der Tod ist etwas Bedrohliches, da ist große Angst vor dem Verlieren, dem letzten Loslassen, die dahintersteht.” Und doch bietet die Konfrontation damit auch viel Raum für positive Gefühle, für Zusammenhalt, Liebe und für einen bewussteren Umgang mit dem Leben. Denn sich mit den eigenen Schatten und Ängsten auseinanderzusetzen kann im wahrsten Sinne des Wortes lebensbejahend sein.
“Der Tod gehört zum Leben dazu. Das ist leicht gesagt, aber wir realisieren das meistens viel zu spät. Durch die Auseinandersetzung mit dem Tod erlebt man das Leben noch einmal ganz anders.”
Bestatter Gyan Härri
Tatsächlich beobachtet Härri, dass die Bereitschaft, das Tabu um den Tod zu brechen, wächst und der Umgang mit dem Sterben wieder offener wird. Dazu tragen auch Projekte wie das Compassionate City Lab der Stadt Bern bei, die das Lebensende offen thematisieren. Sie zeigen, wie ein offener und respektvoller Umgang damit sich durch die ganze Bevölkerung ziehen kann.
Auch das Bestattervelo trägt dazu bei, dem Tod wieder offen in die Augen zu sehen, so Härri: „Plötzlich begegnet man dem Tod wieder. Natürlich ist da zuerst Überraschung, aber die macht mit der Zeit der Gelassenheit Platz. Meist sind die Leute, nachdem sie mich zwei, drei Mal gesehen haben, völlig entspannt”. Dann sei es sogar nicht ungewöhnlich, dass andere Radfahrer:innen beim Vorbeifahren den Verstorbenen einen letzten Wunsch zurufen: “eine ganz gute Reise!”