Das studentische Projekt Differgy setzt sich durch Aufklärung in Unternehmen für eine bessere Inklusion von Autist:innen im primären Arbeitsmarkt ein. Gesine Müller und Klara Vorwerk beteiligen sich an Differgy, um Arbeitgeber besser für inklusive Unternehmensprozesse auszustatten.
Das ist ein Beitrag aus unserem dritten Printmagazin mit dem Thema „Perspektivwechsel“. Diesen und weitere exklusive Beiträge gibt’s im GNM+ Abo
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Bei dem Wort Autismus haben die meisten von uns typischerweise durch Medien initiierte Stereotype im Kopf. Ähnlich geht es oft auch Entscheidungsträger:innen, die für die Einstellung neuer Mitarbeitenden verantwortlich sind. Deshalb hat Differgy es sich zur Aufgabe gemacht, Unternehmen in Bezug auf die Autismus-Spektrum-Störung aufzuklären und ihnen bei der Umstellung zu inklusiven Bewerbungsprozessen zur Seite zu stehen.
Differgy wurde 2021 gegründet und zählt heute sechs ehrenamtliche Mitglieder. Als Teil des Enactus Mannheim e.V. setzen sich Studierende für soziale und ökologische Probleme ein und bieten durch Social Entrepreneurship Lösungen für diese.
Was versteht man unter Autismus?
Weltweit leben circa ein Prozent der Bevölkerung mit der neurologischen Entwicklungsstörung Autismus. In Europa betrifft das etwa sieben Millionen Menschen und in Deutschland 800.000. Hinter dem Sammelbegriff Autismus verstecken sich drei verschiedene Ausprägungen: frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und atypischer Autismus. Da heutzutage zunehmend auch abgeschwächte Formen der verschiedenen Störungen diagnostiziert werden, stellen viele Expert:innen die klare Abgrenzung dieser Formen infrage.
Sie sprechen deshalb auch von einer Autismus-Spektrum-Störung. Dieser Begriff inkludiert alle Menschen mit einer autistischen Störung. Auch wenn Autismus offiziell nur einen geringen Teil der Bevölkerung ausmacht, wird von einer deutlich höheren Dunkelziffer ausgegangen. Laut Differgy-Expertin Gesine Müller ist der Weg zur Diagnose oft langwierig. Nicht jede:r Autist:in ist bereit oder in der Lage, diesen auf sich zu nehmen.
Für den inklusiven Bewerbungsprozess
Differgy unterstützt Unternehmen durch drei konkrete Maßnahmen: innere Vorarbeit, den Bewerbungsprozess und das Onboarding. Darüber hinaus unterstützt das Team Unternehmen langfristig bei der Inklusion von Autist:innen in Unternehmen. Bei der inneren Vorarbeit liegt der Fokus auf der Kommunikation mit Personalverantwortlichen sowie Mitarbeiter:innen. Das Ziel ist es, Stereotype zu brechen und Autist:innen so in die Arbeitswelt zu inkludieren, dass sie sich wohlfühlen können. Dazu gehören unter anderem Vorträge für Teams, in die Autist:innen inkludiert werden sollen, aber auch das Überarbeiten von Stellenausschreibungen.
Das Projektteam von Differgy hat durch die Arbeit mit Unternehmen und den Kontakt zu Autist:innen verschiedene Erkenntnisse gewonnen. Offene Stellen sprechen laut Gesine und Klara in der Regel eher Menschen an, die den Verfasser:innen ähnlich sind. Sprache ist dabei in der Regel unterbewusst voreingenommen. Autist:innen können sich zum Beispiel durch Superlative und männlich konnotierte Wörter abgeschreckt fühlen. Inklusive Sprache sowie eine allgemeine Sensibilität für normabweichende Sichten auf das Arbeitsleben bei Personalverantwortlichen kann hier sehr viel bewirken.
„Bei den Bewerbungsgesprächen ist es zudem wichtig zu verstehen, dass Fähigkeiten und fachspezifische Kompetenzen von Bewerber:innen nicht mit bestimmten sozialen Kompetenzen korrelieren. Autist:innen haben zum Beispiel Probleme, den Blickkontakt mit anderen Menschen zu halten oder ihnen die Hand zu geben.“ Auch hier kann laut den beiden Projektverantwortlichen Aufklärung den Bewerbungsprozess erleichtern.
Beim Anlernen von Autist:innen ist ein ähnliches Umdenken gefordert. Statt der gemeinsamen Mittagspause könnte durch eine fachlich fokussierte Einarbeitung Autist:innen eine psychische Belastung genommen werden.
Wichtig ist es vor allem, einen offenen Diskurs herzustellen. Denn durch Pauschalisierungen werden die Wahrnehmungen von Autist:innen nur unzureichend abgedeckt. Stattdessen sollte es einen Kanal geben, über den Autist:innen ihre Wünsche und Ängste äußern können.
Weg von der neurotypischen Weltansicht
Besonders für Autist:innen, die (noch) keine Diagnose haben oder keine möchten, kann der Arbeitsalltag eine große Belastung sein. Häufig sind sie dazu gezwungen, sich an neurotypische — also der Mehrheitsgesellschaft entsprechende — Verhaltensweisen anzupassen. Das hat starke Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Laut Autworker, einer Organisation von Autist:innen für Autist:innen, fühlen sich Autist:innen oft missverstanden und isoliert im Arbeitsalltag. Zudem werden sie aufgrund von Stereotypen im Hinblick auf ihre Fähigkeiten oft unter- oder überschätzt.
In Deutschland steht oft vor allem die Leistung im Zentrum der Arbeit. Um Ressourcen beim Bewerbungsprozess zu sparen, setzen Unternehmen in der Regel auf generische Talente. Dazu gehören Menschen, die in vielen verschiedenen Fähigkeiten eine überdurchschnittliche Ausprägung haben. Im agilen Arbeitsalltag gehören soziale Kompetenzen und andere Soft Skills zum vielgefragten Repertoire von Bewerber:innen. Durch den Fokus auf soziale Skills fühlen sich Autist:innen von vornherein abgeschreckt. Unternehmen verpassen so, wie Gesine und Klara schildern, die Chance auf eine diversere Belegschaft. Da Unternehmen oft nicht wissen, welchen Mehrwert Diversität für die Belegschaft bringt, sind sie auch nicht bereit, in diese zu investieren.
Der Inklusion von Autist:innen widmen sich neben Differgy auch andere Institutionen in Deutschland. Auticon vermittelt Autist:innen basierend auf ihren individuellen Fähigkeiten an Unternehmen. Gleichzeitig klären die Autismus-Expert:innen Unternehmen über die Inklusion neurodiverser Menschen auf. Eine Studie aus dem Jahr 2022 belegt, dass nur rund 22 Prozent der Autist:innen in Deutschland einer Tätigkeit entsprechend ihrer Qualifikationen nachgehen. Oft brauchen Autist:innen deutlich länger, um einen Job zu finden. Die Arbeitslosenquote unter Autist:innen ist dabei fünfmal so hoch wie unter neurotypischen Arbeitnehmenden. Besonders betroffen sind Autist:innen mit Intelligenzminderung. Aber auch Autist:innen und unbeeinträchtigter Intelligenz – dazu zählt das Asperger-Syndrom – haben Schwierigkeiten bei der Jobsuche, auch wenn sie in der Regel hohe Bildungsabschlüsse erreichen. Eine Folge der Hürden bei der Jobsuche ist häufig die finanzielle Abhängigkeit von Autist:innen.
Genau deshalb hat es sich die Organisation Auticon zur Aufgabe gemacht, Autist:innen einen sicheren Arbeitsplatz zu bieten. Der Fokus von Auticon liegt auf der Vermittlung von IT-Spezialist:innen mit Autismus. Autist:innen zeigen oft ein stark ausgeprägtes logisches Verständnis und bringen daher für diese Tätigkeiten besonders geeignete Fähigkeiten mit. Aufgrund des wachsenden Fachkräftemangels, der die IT-Branche verstärkt trifft, entlasten inklusivere Unternehmenskulturen daher auch die Gesellschaft.
In Deutschland ist die Anzahl der Institutionen, die sich mit Autismus auseinandersetzen, zurzeit noch sehr gering. Andere Länder gehen dahingegen deutlich offener mit Autismus um. Im Vereinigten Königreich gibt es zum Beispiel ein umfassendes politisches Autismus-Rahmenwerk, das Bereiche wie Bildung, aber auch den Arbeitsplatz und Beziehungen abdeckt.
In vielen anderen europäischen Ländern liegt der Fokus oft nur auf frühkindlicher Bildung. Die Ansätze sind jedoch verschieden.
Ganzheitliche Inklusion
Gesine und Klara wünschen sich, dass hier noch viel mehr passiert: „Eine übergeordnete Herausforderung ist, zu verstehen, dass nicht die Menschen das Problem sind, sondern das System, in dem sie agieren. Es behindern nicht die körperliche oder geistige Beeinträchtigung, sondern die Hürden, die sich in der Umwelt gebildet haben. Nur neurotypische Menschen können diese überwinden.“
Die verschiedenen Sichtweisen auf die Welt sollten laut dem Differgy-Team als Bereicherung in allen Kontexten gesehen werden. Auch wenn Bildung nur einen von vielen Bereichen der Inklusion ausmacht, ist diese essenziell. Häufig lernen junge Menschen hier über verschiedene Behinderungen. Solange sie allerdings nicht von und mit Menschen mit Behinderung lernen, ist die Bildung von Stereotypen sehr wahrscheinlich. Inklusive Schulen sollten daher ein grundlegendes Standbein einer inklusiven Bildungspolitik sein.
Auf dem Weg in eine inklusive Zukunft gibt es also noch viel zu tun. Klara Vorwerk und Gesine Müller sind dennoch hoffnungsvoll. Denn mit Differgy schaffen sie es, das Thema Autismus zu entstigmatisieren. Immer häufiger stoßen sie dabei auf offene Ohren. Die Arbeitswelt scheint bereit für den so wichtigen Wandel hin zu einer inklusiveren Kultur.
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