Ich weiß, dass ich nichts weiß!

das ist ein GNM+ ArtikelWarum wir gelassen mit den Grenzen des menschlichen Wissens umgehen sollten

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von | 10. Juni, 2023

Ein Artikel über die Grenzen des Wissens sollte mit jenem geflügelten Satz der Antike beginnen, der es seit Jahrtausenden auf den Punkt bringt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß”, soll der große griechische Philosoph Sokrates gesagt haben.

Das ist ein Beitrag aus unserem dritten Printmagazin mit dem Thema „Perspektivwechsel“. Diesen und weitere exklusive Beiträge gibt’s im GNM+ Abo

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Nicht zuletzt die Pandemie mit all ihren Fakten und Fake-Fakten zu einem komplexen neuen Themenfeld zeigten allerdings: Die Diskussionen wurden schärfer und unfairer, es wurden Verschwörungen gewittert, jede:r wusste etwas zum Pro und Contra von Masken, Impfungen und Lockdowns. Wissen bildet Meinungen. Das heißt aber nicht, dass Meinung gleich Wissen ist. Eine Meinung kann kompletter Unsinn sein. Was einem in Zeiten einer kaum noch existenten Diskussionskultur niemand sagt? Man braucht nicht alles zu wissen. Man kann nicht alles wissen. Eine Diskussion kann umso gelassener gestaltet werden, wenn man sich der Grenzen des eigenen Wissens bewusst ist und diese zugeben kann. Wieso sollten wir uns anmaßen, zu glauben, wir wüssten alles, wenn selbst die intelligentesten Köpfe unserer Zeit noch so viele Fragen haben, die sie nicht beantworten können? Denn nicht alles zu wissen, ist ganz natürlich – laut dem Fachmagazin New Scientist gibt es fünf Grenzen des Wissens. Allein diese Grenzen zu kennen, kann Druck von uns nehmen um ganz gelassen und selbstsicher zu sagen: „Ich weiß es nicht!“

Grenze #1 – Weil es zu komplex ist

Wir wissen, dass es unmöglich ist, die Zukunft vorherzusagen. Zugleich gibt es aber allerhand physikalische Modelle, die mir genau berechnen können, wo ein Ball landet, wenn ich seine Ausgangsflugbahn und die auf ihn wirkenden Kräfte kenne. Das ist doch schon eine Art der Zukunftsvorhersage?

Dass es nicht so einfach ist, lässt sich am Wetter wohl am besten veranschaulichen. Das Wetter wird von so vielen Dingen bestimmt, die sich gegenseitig beeinflussen, dass eine exakte Berechnung des Wetters zum lang ersehnten Urlaubsbeginn in zehn Tagen schlicht unsere technologischen Rechenkapazitäten übersteigt. Das Chaos regiert. Nicht im bildlichen Sinne, sondern in einem völlig natürlichen: In der immensen Komplexität der Natur können kleine Veränderungen große Nachwirkungen haben.

Genauere Messungen und schnellere Computer sorgen dafür, dass wir schon sehr viel mehr über das Wetter und andere komplexe Systeme wie den menschlichen Körper oder die Finanzmärkte wissen – aber das immer nur bis zu einem gewissen Grad. Mit dem Fortschreiten der künstlichen Intelligenz werden sich zumindest diese Grenzen innerhalb kürzester Zeit verschieben können.

Grenze #2 – Weil es unmöglich zu messen ist

Es gibt diese wunderbaren optischen Illusionen zweier Linien. Welche davon ist größer? Meist entscheiden wir uns für die obere. Und sind dann doch überrascht, wenn ein Nachmessen uns eine gleiche Länge beider Linien bestätigt. Erst das Messen schafft oder bestätigt Wissen. Doch einige Dinge werden wir womöglich nie messen und damit nicht verstehen können. 

Wenn sich nichts schneller als mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen kann, werden wir niemals über den Rand des beobachtbaren Universums hinaussehen können. Denn das ist die maximale Entfernung, die das Licht seit Beginn des Universums zurückgelegt haben kann, um unsere Teleskope zu erreichen.

Und dann gibt es da noch all die Gesetze der Quantenphysik, die wir gar nicht erst versuchen, zu erklären (oder zu verstehen), die aber viele bisherige Annahmen der Physik auf den Kopf stellten. Wenn die klügsten Physiker:innen der Welt noch immer vergebens daran arbeiten, diese beiden unvereinbaren Säulen der modernen Physik, die Quantentheorie und die allgemeine Relativitätstheorie, in Einklang zu bringen, dann sollte es uns „Normalos“ umso leichter fallen, die Grenzen unseres Wissens zu akzeptieren.

Grenze #3 Weil Mathematik unzuverlässig ist

In der Schule mag man es oder hasst es abgrundtief: das Fach Mathematik. Diejenigen, die es lieben, schätzen daran, dass es keinen Interpretationsspielraum zulässt (ganz anders als eine Gedichtanalyse). Wenn man nicht gerade Pippi Langstrumpf nacheifert, macht 2×3 eben 6. Mathematik ist zuverlässig.

Oder ist sie das?

Nein. Denn Mathematik in sich selbst ist unzuverlässig. Das Fach baut auf Axiomen auf – jenen Grundsätzen einer Theorie, die innerhalb dieses Systems weder begründet noch abgeleitet werden müssen, sondern als Grundlage willentlich akzeptiert oder gesetzt werden. Dass 2 + 3 das Gleiche ist wie 3 + 2, ist ein Axiom, das uns überhaupt erst das Rechnen ermöglicht. So sehr sich Mathematiker:innen bemühen, werden sie niemals beweisen können, dass diese Axiome wahr sind (oder falsch).

Mathematiker:innen liefern zwar das Fundament, auf dem viele wissenschaftliche Erkenntnisse beruhen, aber sie können keine hundertprozentige Garantie dafür geben, dass es sich niemals verschieben oder verändern wird. Ein Beispiel sind Linien zwischen zwei Punkten. Diese haben auf gekrümmten und ebenen Oberflächen andere Eigenschaften. Das heißt, dass die zugrunde liegenden Axiome in verschiedenen Geometrien unterschiedlich gestaltet sein müssen. Und Mathematiker:innen können uns dabei etwas über die Gelassenheit angesichts der Grenzen des Wissens beibringen: Sie akzeptieren die Axiome und machen so lange weiter, bis etwas anderes bewiesen ist.

Grenze #4 – Weil wir die Erfahrungen anderer nicht teilen können

Diese Grenze sollte eigentlich am einfachsten zu akzeptieren sein, da sie uns ständig im Alltag begegnet. Und dennoch haben wir gerade damit große (zwischenmenschliche) Probleme: Wir können die subjektiven Erfahrungen eines anderen Menschen nicht teilen. Ich weiß nicht, welche Schmerzen meine Freundin gerade hat. Oder warum für meinen Kollegen Koriander eben nicht nach Seife schmeckt. Je größer die Diskrepanz, desto größer das Konfliktpotential – wenn wir uns dieser Grenze nicht bewusst sind.

Wir alle erinnern uns, als 2015 über „das Kleid“ in den sozialen Netzwerken gestritten wurde: Die einen sahen das zweifarbige Kleidungsstück als weiß/gold, die anderen als blau/schwarz. Andererseits ist es zugleich auch beruhigend, denn egal, wie die technologische und wissenschaftliche Entwicklung voranschreitet: Ein kleiner Teil Erfahrungswissen wird immer nur in diesem einen Organismus, in diesem einen, uns eigenen Hirn verfügbar sein.

Grenze #5 – Weil die Logik selbst fehlerhaft sein könnte

Ein ganz einfaches Paradoxon zeigt uns bereits die Grenzen der Logik: „Dieser Satz ist falsch!“ Wenn wir sagen, dass der Satz wahr ist, ist er falsch. Wenn wir sagen, er ist falsch, ist er richtig. Bäm, Hirn-explodierendes-Emoji!

Ein Ansatz der Philosoph:innen besteht darin, der Logik selbst eine Auffrischung zu verpassen. Wie wäre es mit verschiedenen Graden der Wahrheit statt „wahr“ und „falsch“? Statt 1 und 0? Expert:innen sind sich einig, dass es wahrscheinlich eine höhere Form der Logik gibt, die der menschliche Verstand nicht fassen kann. Eine Form, mit der man sogar das Universum verstehen könnte.

Wenn wir andere Spezies anhand ihrer Intelligenz bewerten, wer sagt dann, dass es jenseits von uns nicht viel höhere Denksysteme gibt? Doch das können wir uns (noch) nicht vorstellen. Und genau darum geht es ja. 

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    Viktoria Franke

    Unsere Chefredakteurin a.D. Viktoria begann noch während des Studiums, als Sportjournalistin durch die Welt zu ziehen. Mittlerweile berät sie kleine Einzelkämpfer und große Unternehmen in ihrer Innen- und Außenkommunikation und organisiert weltweit Pressebereiche bei Sportevents. Good News sind bei all dem Trubel genau so wichtig für ihre mentale Gesundheit wie ein Stück Schokolade.

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