Interview mit Mehr Demokratie e.V.

das ist ein GNM+ ArtikelWie Bürgerräte Demokratie demokratisieren

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von | 20. Mai, 2023

Der Bürgerrat für Ernährung im Wandel erarbeitet erstmals Empfehlungen für den Bundestag. Der Verein Mehr Demokratie e.V. wird ihn organisieren.

Erstmals wird in diesem Jahr ein Bürgerrat die deutsche Politik auf Bundesebene beraten. Ab September werden 160 Bürger:innen Empfehlungen zu Ernährung im Wandel erarbeiten, die der Bundestag in den parlamentarischen Prozess aufnimmt. Organisiert wird dieses neue Demokratieinstrument unter anderem von dem Verein Mehr Demokratie e.V.. Im Interview erklärt die Bundesvorstandssprecherin Claudine Nierth, was Bürgerräte besonders macht und wie die Demokratie der Zukunft aussieht.     

GNM: Fangen wir ganz vorne an: Was verbirgt sich hinter Bürgerräten?

Hinter Bürgerräten verbirgt sich eine Versammlung aus Bürgerinnen und Bürgern, die die Politik berät. Manchmal Regierungen, in unserem Fall das Parlament, also den Bundestag. Das Besondere an diesen Bürgerräten ist vor allem, dass sie ausgelost werden. Man kennt normalerweise Bürgerbeteiligung so: Menschen werden irgendwo eingeladen und dann kommen immer wieder die üblichen Verdächtigen und wohlbekannten Bürgerinnen und Bürger. Bei unserem Modell losen wir tatsächlich aus den Melderegistern. So kann wirklich jeder und jede Teil des Bürgerrates werden. 

GNM: Diese Bürgerräte sollen nun auf Bundesebene etabliert werden. Welche Rolle spielt Mehr Demokratie e.V. dabei?

Wir sind eine zivilgesellschaftliche Organisation und haben die ersten Bürgerräte in Irland wahrgenommen, sind hingefahren, haben uns zeigen lassen, wie das funktioniert und haben gemerkt: Das ist ein sehr interessantes Instrument. Dann sind wir nach Deutschland zurück und haben die Bundestagsfraktionen darauf angesprochen. Allen voran sagte der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble: ‘Lassen sie uns das ausprobieren.’ Unter seiner Schirmherrschaft haben wir zwei Vorläufer mit unseren jetzigen Partnern ifok, nexus und dem Institut für Partizipatives Gestalten organisiert. Jetzt haben wir mit unseren Partnern den Auftrag erhalten, den Bürgerrat Ernährung im Wandel zu organisieren.

GNM: Wie läuft dieser Bürgerrat konkret ab?

Die erste spannende Frage ist: Wie wird gelost? Denn wir haben unterschiedliche Gemeindegrößen und es gibt kein zentrales Melderegister. Deshalb haben wir die Städte und Gemeinden nach Größe sortiert. Dann schreiben wir  — auch nach Losverfahren  — diese Städte und Gemeinden an und bitten sie, nach einem Zufallsalgorithmus Bürger mit einer Einladung der Bundestagspräsidentin Bärbel Baas zum Bürgerrat anzuschreiben. Da rechnen wir mit einer Rücklaufquote von etwa sieben bis zehn Prozent. Aus diesen Rückläufern wird dann der Bürgerrat mit 160 Menschen gebildet, die unsere Gesellschaft möglichst gut abbilden. Dabei achten wir auf Wohnort, Geschlecht, Alter, Bildungshintergrund und Ernährungsgewohnheiten. Denn es sollen natürlich auch Veganer und Vegetarier dabei sein. Und dieser Querschnitt der Gesellschaft beginnt dann, im Bürgerrat zu arbeiten.

GNM: Was macht einen Bürgerrat erfolgreich?

Der Erfolg eines Bürgerrates hängt davon ab, wie eng er tatsächlich mit der Politik verbunden ist. Es macht also nur Sinn, solche Bürgerräte durchzuführen, wenn die Politik es will, idealerweise, wenn die Politik sie selbst einsetzt. Denn es geht schließlich darum, dass die Empfehlungen des Bürgerrates auch angenommen und umgesetzt werden können. Die Politik erhält somit eine weitere Meinung neben eigenen Experten, der Fraktionsposition oder sonstigen Meinungsumfragen. Durch die Zusammensetzung, den Austausch und die Moderation in der Versammlung bietet der Bürgerrat die Chance, Positionen zu entwickeln, die in der Bevölkerung tatsächlich konsensfähig sein könnten.

GNM: Wie groß schätzen Sie den tatsächlichen Einfluss solcher Bürgerräte auf die Politik ein?

Diese Feuerprobe müssen Bürgerräte erst noch bestehen. Den Bürgerräten sind von vornherein zwei Dinge klar: Erstens: Ich werde hier nicht ausgelost, um den anderen zu sagen, wo es langgeht, sondern es geht darum, dass die eigene Perspektive in die Lösungsfindung mit einbezogen wird. Und zweitens: Die Bürgerräte erwarten, dass es eine Antwort aus der Politik gibt, was aus ihren Empfehlungen wurde. Ansonsten gibt es eine große Frustration, derer sich die Politik natürlich auch bewusst ist.

Ganz klar: Die Empfehlungen müssen in den parlamentarischen Prozess eingebettet werden. Sie gehen zuerst durch mehrere Ausschüsse und werden dann im Plenum abgestimmt. Das unterliegt natürlich immer den Kräfteverhältnissen im Parlament. Genau deshalb sagen wir, dass sich die Bürgerräte als Instrument noch beweisen müssen.

GNM: Wo und wie hat sich dieses Instrument bereits bewiesen?

Europaweit ist Irland ein gutes Vorbild. Dort wurden Bürgerräten schon über 30 Fragen gestellt. Das Spannende dort: Wenn es um Verfassungsänderungen geht, braucht es immer ein Referendum, um die Empfehlungen umsetzen zu können. Das haben wir dort beispielsweise mit der gleichgeschlechtlichen Ehe und dem Abtreibungsrecht erlebt. So kommen parlamentarische, dialogische und direkte Instrumente zum Einsatz. Dass sich diese Elemente gegenseitig ergänzen, ist unser Idealbild der Demokratie. Also nicht nur Bürgerräte, die die Kluft zwischen Abgeordneten und der Bevölkerung schließen, sondern auch konkrete Abstimmungsmöglichkeiten zu den Empfehlungen. 

GNM: Was müssten wir über Bürgerräte hinaus für mehr Demokratie tun?

Aus unserer dreißigjährigen Erfahrung wissen wir: Je weniger die Menschen eingebunden werden, desto mehr entfernen sie sich von der Politik und der Demokratie selbst. Wer nicht gefragt wird, wendet sich ab. Das merken wir auch bei den Bürgerräten, denn viele trauen sich das erstmal gar nicht zu. Genau diese Menschen, die häufig sagen, dass sie sich schon von der Politik abgewendet haben, interessieren sich nach dem Bürgerrat wieder für Politik, können sich eine Parteimitgliedschaft oder ein Engagement im Gemeinderat vorstellen. Das ist ein wunderbarer Nebeneffekt.

Ich würde sagen: Wir müssen die Demokratie noch ein Stück weit mehr demokratisieren. Wer die Demokratie stärken will, muss also viele demokratische Erlebnisse herbeiführen.

GNM: Was macht die Arbeit von Mehr Demokratie e.V. noch aus?

Bei unserer Gründung vor 30 Jahren war das Ziel, bundesweite Volksabstimmungen einzuführen, wie es beispielsweise in der Schweiz vorgelebt wird. Das fehlt uns natürlich noch. Deutschland ist in der Europäischen Union tatsächlich das einzige Land, das noch keine bundesweite Volksabstimmung erlebt hat. Darüber hinaus haben wir aber Bürgerentscheide in Kommunen, vor allem in Bayern, etabliert. Neben Volksentscheiden und Bürgerräte engagieren wir uns auch für Wahlrecht, Informationsrecht und Transparenz. Die Demokratie zu stärken und auszubauen ist unser Anliegen.

GNM: Was gibt ihnen Hoffnung, wenn sie auf die Zukunft der Demokratie schauen?

Die Demokratie sollte so beweglich sein, dass sie sich mit der Gesellschaft immer weiterentwickeln kann. Denn Demokratie ist immer nur so gut, wie die Gesellschaft, die sie braucht, sie anwenden kann. Eine flexible, sich weiterentwickelnde Demokratie ist eine stabile Demokratie. Darüber hinaus brauchen wir, ich betone es nochmal, viele demokratische Erfahrungen. Diejenigen, die Politik zum Beispiel in Bürgerräten hautnah erleben, sind häufig überrascht und überzeugt davon, wie anspruchsvoll und wichtig die Arbeit in Parlamenten ist. Darüber hinaus müssen wir auch den Mut haben, unsere Demokratie und Politik zu hinterfragen, um sie weiterentwickeln zu können. Bürgerräte sind ein neues Element der demokratischen Beteiligung. Noch sind es Prototypen, die sich etablieren müssen. Sie sind eine Ergänzung, um Politik und Bürgerinnen und Bürger mehr zusammenzubringen.

GNM: Was antworten sie unseren Leser:innen, die eine Einladung erhalten, aber nicht sicher sind, ob sie am Bürgerrat teilnehmen wollen und können?

Jeder trägt mit seinem Alltagswissen bei! Gerade jene, die sich eine Teilnahme im Bürgerrat nicht zutrauen, können wichtige Stimmen im Bürgerrat sein. Bürgerinnen und Bürger müssen keine Profis sein. Ihr Alltagswissen, ihre Nicht-Expertise ist meistens ein Blickwinkel, der für die Politik wichtig ist.  Außerdem sorgen Expertinnen und Moderatoren in den Versammlungen dafür, dass die Inhalte gut aufbereitet und immer für alle verständlich sind. Ehemalige Bürgerräte raten: ‘Machen Sie mit! Es ist auf jeden Fall ein Erlebnis.’

Beitragbild: Mehr Demokratie e.V.

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    Paul Esser

    Paul Esser ist stellvertretender Chefredakteur beim Good News Magazin. Wenn er gerade keine Medien macht oder konsumiert, studiert er Politikwissenschaften und Psychologie. Warum das alles? Lösungen waren schon immer spannender als Probleme!

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