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das ist ein GNM+ ArtikelAlles inklusiv? Anne Gersdorff über konkrete Schritte für eine barrierefreie Arbeitswelt

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von | 2. Mai, 2021

Aktivistin und Referentin Anne Gersdorff erzählt, warum auf dem Arbeitsmarkt Menschen mit Behinderung aktuell immer noch kaum eine Chance haben – und wie sich das in Zukunft ändern kann.

Was ist da los?

Die Arbeitswelt ist kein leichtes Pflaster, das spüren vor allem Menschen mit Behinderung. Deutsche Unternehmen, die monatlich 20 oder mehr Arbeitnehmer:innen beschäftigen, haben eigentlich die Pflicht, mindestens 5 Prozent ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen.

Doch die tatsächliche Beschäftigungsquote betrug 2009: 4,5 Prozent, 2017: 4,6 Prozent und die neuesten Daten, veröffentlicht im April 2021, zeigen für 2019 eine Quote von 4,6 Prozent an. „Sie stagniert seit Jahren auf diesem Niveau,“ sagt der Deutsche Gewerkschaftsbund, „(…) Ein Viertel (42.200) der beschäftigungspflichtigen Unternehmen beschäftigen keinen einzigen schwerbehinderten Menschen. Dieser Anteil ist seit Jahren gleichbleibend hoch.“

Warum reagieren Unternehmen selbst auf eine offizielle Quote nicht? Woran scheitert die Arbeitswelt für Alle bzw. noch viel wichtiger: Wie kann sich das in Zukunft ändern?

Der Verein SOZIALHELD:INNEN arbeitet genau daran. Mit 15 unterschiedlichen Projekten wie zum Beispiel der Wheelmap.org, einer Onlinekarte für rollstuhlgerechte Orte. Außerdem betreiben sie das Online-Magazin Die Neue Norm und berichten dort über Vielfalt, Gleichberechtigung und Disability Mainstreaming. Wir sprachen mit Anne Gersdorff, Referentin der “Sozialheld:innen”. Sie ist nicht nur selbst betroffen, sondern ein Vorbild für viele Menschen. Mit ihrer Arbeit und Stimme empowert sie behinderte wie nicht-behinderte Menschen.

„Ich bin davon überzeugt, dass es für jeden Menschen einen Ort gibt, wo er einen Mehrwert für die Gesellschaft erbringen kann.“

Anne Sozialhelden Team 2019 Foto Andi Weiland small
© Andi Weiland

Fatima Maged: Liebe Frau Gesdorff, zurzeit arbeiten 300.000 Menschen mit Behinderung in Werkstätten. Weitere 173.709 sind arbeitslos. Andere wiederum gehen vorzeitig in die Rente. Woran liegt es, dass Menschen mit Behinderung in der realen Arbeitswelt nicht präsent sind?

Anne Gersdorff: Das hat mehrere Gründe: Zum einen haben Menschen mit Behinderung schlechtere Bildungschancen, weil sie meistens nur in Förderschulen gehen oder weil sie keine gleichberechtigte Bildung in Deutschland erfahren und damit zum Teil auch schlechter qualifiziert sind, als Menschen ohne Behinderung.

Dann haben wir in Deutschland ein stark strukturelles Problem. Das heißt, dass die Bürokratie es erschwert. Die Rentenversicherung, die Agentur für Arbeit, alle haben verschiedene medizinische und psychologische Gutachten, um Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt überhaupt Unterstützung zu gewähren.

Und zum Dritten spielt da ganz viel Unwissenheit mit rein. Menschen mit Behinderung wissen oft nicht, welche Hilfen ihnen zustehen. Aber auch Unternehmen oder Unterstützer:innen, wissen oft nicht, welche Hilfe ihnen zustehen. Natürlich sind auch Vorurteile ein Grund.

Maged: Der Einstieg in die Arbeitswelt beginnt ja quasi mit der Schulbildung. Trägt nicht auch das Schulsystem dazu bei, dass Menschen mit Behinderung noch kein präsenter Teil der Arbeitswelt sind?

Gersdorff: Genau. Das deutsche Schulsystem ist eher exklusiv. Also schon der Aufbau, schließt aus. Förderschule, Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Insofern haben Menschen mit Behinderung schlechtere Bildungschancen. Denn der Weg von einer Förderschule zu einer Regelschule ist so gut wie unmöglich. 

Maged: Was müsste sich am Schulsystem ändern, damit Menschen mit Behinderung zunächst auch eine Chance auf Regelschulen haben und dann später in der Arbeitswelt?

Gersdorff: Dazu gehört zunächst, dass nicht mehr infrage gestellt wird, ob alle Schüler:innen gemeinsam unterrichtet werden können. Sondern, dass alle die Bedingungen kriegen, die sie brauchen. Das ist für Schüler:innen im Rollstuhl zum Beispiel der Fahrstuhl. Das kann aber genauso eine Schulbegleitung sein, oder längere Pausen. Es können aber auch sogenannte Ruheräume sein. Ich glaube, wir als Gesellschaft müssen einfach gucken, dass wir gemeinsam lernen, so zu praktizieren, dass wir möglichst alle mitnehmen.

„Es ist wichtig, dass wir weggehen von dem Gedanken, dass Arbeit immer nur Wertschöpfung ist. Denn ich glaube, Arbeit kann auch ganz viele soziale Aspekte für die Gesellschaft haben.“

Maged: Jetzt möchte ich ein bisschen weg vom Schulsystem und mehr auf die Politik eingehen. Was kann die Politik machen, damit die Unternehmen eher gewillt sind, Menschen mit Behinderung einzustellen?

Gersdorff: Einen ganz wichtigen Punkt, finde ich, ist es Anreize zu schaffen oder gegebenenfalls auch Quoten. Es gibt ja bereits die Ausgleichsabgabe, die besagt, dass Unternehmen ab einer bestimmten Größe eine gewisse Anzahl an Menschen mit Behinderung einstellen müssen. Das ist schonmal ein guter Anfang, aber die Abgabe ist zu niedrig.

Um die Quote zu erfüllen, wird die Arbeit teilweise ausgelagert an Behindertenwerkstätten. Behindertenwerkstätten sind keine Inklusion. Meiner Meinung nach, müssen wir gesellschaftlich daran arbeiten, dass Behindertenwerkstätten und all die anderen Sondersysteme nach und nach abgeschafft werden.

Was die Politik auch noch ändern muss, ist die hohe Bürokratie. Denn, wenn teilweise Unternehmen nur an bürokratischen Hürden scheitern, stimmt was nicht mit dem System. 

Maged: Ich habe aus Ihrer Antwort zwei Punkte rausgehört, auf die ich näher eingehen möchte. Zum einen meinten Sie gerade, dass Behindertenwerkstätten und andere Sondersysteme nach und nach abgeschafft werden sollen. Das heißt ja theoretisch, dass auch Menschen mit einer geistigen Behinderung ganz normal in Regelschulen und in die normale Arbeitswelt integriert werden sollen? Wie könnte das aussehen? 

Gersdorff: Auch Menschen mit einer geistigen Behinderung haben ihre Stärken. Diese gilt es so gut wie möglich in die Arbeitswelt einzubringen. Ich bin davon überzeugt, dass es für jeden Menschen einen Ort gibt, wo er einen Mehrwert für die Gesellschaft erbringen kann.

Maged: Der zweite Punkt auf den ich näher eingehen möchte, ist ihre Aussage über die Behindertenquote. Sie sind also der Meinung, dass die Behindertenquote wichtig sei, um die Inklusion zu bestärken. Können Sie das näher erläutern? Denn es gibt doch auch Stimmen, die sagen, dass die Quote dazu beiträgt, dass weiterhin von “wir” und “ihr” gesprochen wird. 

Gersdorff: Im weitesten Sinne von Inklusion ist das bestimmt auch so. Doch leider sind wir noch nicht so weit, dass es keine Quoten mehr braucht, um Menschen mit Behinderung eine gerechte Chance zu geben. Insofern braucht es manchmal äußere Anreize, um Dinge wirklich umzusetzen.

Maged: Wie können weitere mögliche Ansätze aussehen, abgesehen von der Quote, um die Arbeitswelt inklusiver / barrierefreier zu machen?

Gersdorf: Ganz wichtig sind Informationen. Gegebenenfalls auch Personen, die die Unternehmen beraten und unterstützen. Es braucht Empowerment von Menschen mit Behinderung, so dass diese auch für ihre Rechte einstehen können. Denn es gibt einige Maßnahmen, Projekte und Optionen. Leider wissen das aber die Wenigsten …

Maged: Wie könnte man das ändern? Was muss getan werden, damit Menschen mit Behinderung mehr über ihre Rechte, oder verschiedenen hilfreiche Projekte Bescheid wissen? 

Gersdorff: Es braucht mehr Stellen! Wie die Fachstelle für ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB). Das ist eine Beratungsstelle, die Menschen mit Behinderung in sozialen und beruflichen Fragen begleitet. Doch gerade das Thema Arbeit ist so komplex, dass die EUTB allein das nicht abdecken kann. Deshalb brauchen wir mehr Strukturen, wie diese, um auf eine inklusive Arbeitswelt hinzuarbeiten. Ein großer Teil der Leute, die dort arbeiten, haben übrigens auch selbst eine Behinderung.

Maged: Jetzt haben wir viel darüber gesprochen, was am System geändert werden muss. Doch denken wir mal kleiner. Was kann jeder Einzelne von uns dazu beitragen, dass die Arbeitswelt barrierefreier wird?

Gersdorff: Was auf jeden Fall jede/r machen kann, ist, sein/e:n Chef:in nach Menschen mit Behinderung im Unternehmen zu fragen und zum Beispiel ein Praktikum anbieten. Oder auch das eigene Unternehmen darin fördern bzw. dazu bringen, ein Konzept für mehr Inklusivität zu erstellen. Also ein Konzept, was konkrete Pläne hat, um an Menschen mit Behinderung heranzukommen oder Menschen mit Behinderung nicht schon bei der Bewerbungsphase auszuschließen. Die Website JOBklusive ist auch ein guter Ansprechpartner, um Tipps zu bekommen.

Weiterlesen:
Inklusion, neue Ansätze und: Worum gehts eigentlich genau?

Mehr von Anne Gersdorff gibt es unter anderem hier!

Beitragsbild: Nathan Anderson / Unsplash

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