Lasst uns reden!

das ist ein GNM+ ArtikelEmpathie lernen: Für konstruktive Lösungen, online und offline

von | 23. Juni, 2024

Gegen Hass im Internet, eskalierende Diskussionen und fehlende Empathie: Ein guter Umgang mit sich selbst und anderen kann erlernt werden.

Ich bin sauer. Ja, geradezu fassungslos. Kann immer wieder nicht glauben, welch rücksichtslose Kommentare Menschen in sozialen Medien hinterlassen. Wie Debatten immer und immer eskalieren. Wie es einer Person unmöglich erscheint, die Gedanken und Gefühle einer anderen nachzuvollziehen. Das muss doch auch anders gehen.

Jedes, wirklich jedes Mal, wenn ich bei einem Post in die Kommentare wechsele, erschlägt mich die bewusste Aneinanderreihung tief verletzender Worte und die Vielzahl an Menschen, die für ihre eigene Position offenbar so sehr kämpfen, dass ihnen die Gefühle anderer zweitrangig erscheinen. Oder noch schlimmer: Sie  sprechen anderen Menschen ihre Emotionen vollständig ab.

Vor Kurzem erst, als die Debatte um das Video auf Sylt aufflammte, bin ich auf ein Video feiernder Menschen auf der Insel gestoßen – nein, ich rede nicht von dem Video. Dem Video, in dem feiernde junge Menschen rassistische Parolen grölten.

Depositphotos 377078182 XL
Negative Kommentare sind in den sozialen Medien keine Seltenheit mehr. / Quelle: depositphotos.com

Ich rede einfach nur von einem Video, auf dem Menschen am Strand Spaß haben und die Person, die das Video gepostet hat, sich an der schönen Erinnerung erfreut hat. Über zweihundert Kommentare waren unter dem Post zu finden, fast kein einziger enthielt etwas Positives. Stattdessen reihte sich der Vorwurf, Menschen aus wohlhabenden Verhältnissen würden auf Sylt feiern, während der Rest der Welt mit „wahren” Problemen zu kämpfen hätte, an die Unterstellung, eben jene Menschen wären der eigentliche Auslöser für Rassismus und den Anstieg von Rechtsextremismus.

Es scheint, als wäre mit feiernden jungen Menschen nun ein neuer „Bumann” gefunden worden, an dem der eigene Frust abgelassen werden kann. Vorgestern waren die jungen Sylter:innen, gestern die 16- bis 21-Jährigen, die am besten gar kein Wahlrecht bei den Europawahlen haben sollten. Schließlich gäbe es dann auch keinen Rechtsruck (Spoiler: Die Stimmenanteile für rechtsextreme Parteien waren bei den Europawahlen über alle Altersgruppen nahezu gleich verteilt). Das Problem ist wie immer komplexer, aber geurteilt wird häufig zu Ungunsten kleiner Gruppen.

Andere Blickwinkel einnehmen

Während ein rauer und verletzender Umgang online für viele schon zur Normalität gehört, nimmt auch offline die Bereitschaft, Grenzen zu überschreiten, immer weiter zu. Mobbing betrifft laut Pisa-Studie 2022 über zehn Prozent der 15-jährigen Schüler:innen in Deutschland. Und auch Mobbing am Arbeitsplatz ist weit verbreitet. 33 Prozent aller Erwachsenen haben in ihrem Leben schon einmal Mobbing erlebt.

Die Zahl derer, die schon einmal einem hasserfüllten Kommentar in den sozialen Medien standhalten mussten, ist dagegen vollkommen ungewiss. Dennoch gibt es erstaunlich wenige Studien, die zeigen, wie Empathie in der Online-Welt gefördert werden kann – und das, obwohl gerade dort oft das Einfühlvermögen fehlt. Trotz umfangreicher Recherche ließ sich nur genau ein Ratschlag finden: Nämlich, dass Anbieter sozialer Medien Interaktionen besser regulieren sollen. Genau die tun sich aber in der Regel sehr schwer damit, unangebrachtes Verhalten zu unterbinden. 

Aber ich wäre nicht ich, wenn ich mich nun mutlos in die Ecke verziehen würde. Stattdessen habe ich mich gefragt: Was können wir konkret tun, damit wir mehr Verständnis für Perspektiven aufbauen, die nicht der unseren entsprechen? Wie können wir lernen, uns gegenseitig besser zuzuhören, ohne direkt den Impuls zu verspüren, die andere Person zu unterbrechen? 

Ich bin überzeugt, wenn wir alle ein bisschen mehr Zeit investieren würden, öfter den Blickwinkel anderer Menschen einzunehmen, würde uns das nicht nur unglaublich bereichern. Es würde auch dazu führen, dass unsere Konversationen weniger konfrontativ werden. Und anstatt uns anzufeinden, könnten wir mehr Zeit in lösungsorientierte Debatten stecken.

Empathie ist erlernbar

Tatsächlich zeigt die Forschung, dass Empathie nicht angeboren ist, sondern jede:r lernen kann, im Umgang mit anderen verständnisvoller zu sein. Eine Studie der University of Wisconsin auch dem Jahr 2013 bestätigte erstmals, dass ein Training in Empathie die empathischen Fähigkeiten von Student:innen signifikant verbesserte. 

Ein Jahr nach dem Training zeigten alle Teilnehmenden deutlich höhere Werte in Empathie-Tests. Insbesondere Rollenspiele ermöglichen die Übernahme anderer Perspektiven. Das scheint wenig verblüffend. Was dagegen eher überrascht: Der Konsum fiktionaler Literatur, beispielsweise Fantasy-Romane, fördert ebenfalls das Empathievermögen.

Depositphotos 241206332 XL
Empathie kann erlernt werden. / Quelle: depositphotos.com

Die Universität Zürich hat zudem herausgefunden, dass regelmäßige Meditationen, die sich mit dem Thema Mitgefühl beschäftigen, Menschen empathischer machen. Dass Empathie sowohl online als auch offline gelernt werden kann, zeigen zwei Projekte: Der Studienschwerpunkt “Emotionale Intelligenz” an der Online-Hochschule Tomorrow University und die Initiative “Empathie macht Schule”.

Tomorrow University: Online aufeinander zugehen

Die Studierenden der Tomorrow University treffen meist nur virtuell aufeinander. Dennoch, oder vielleicht auch gerade weil unsere Welt immer virtueller wird, legt die Universität einen großen Fokus auf die Fähigkeit, emotional intelligente Entscheidungen zu treffen. Thomas Funke ist Gründer der Online-Hochschule und sagt selbst über den Kernaspekt des Curriculums: 

“Emotionale Intelligenz beeinflusst viele Aspekte von Beziehungen. Dass wir in der Lage sind, eine empathische Beziehung mit anderen aufzubauen. Für mich greift Empathie da zu kurz. Im Englischen spricht man von Compassion – also quasi einem Verständnis für das Gegenüber, ein Miteinander-Fühlen und die Intention, anderen helfen zu wollen.”

Thomas Funke, Gründer Tommorow University

Studierende lernen stark von- und miteinander, auch über die Entfernung, so Funke. Das sei den Gründern der Tomorrow University ein wichtiges Anliegen: “Reines Wissen ist noch keine Fähigkeit. Im Austausch miteinander wird aus Wissen emotionale Intelligenz.” Die Professor:innen an der Universität seien Coaches, Frontalunterricht gebe es nicht.

Depositphotos 20131005 XL
Studierende an der Tomorrow University tauschen sich aus, on- und offline. / Quelle: depositphotos.com

“Neben dem sozialen Lernen steht auch das Purpose Learning bei uns im Fokus. Studierende sollen etwas lernen, weil sie sich damit emotional verbunden fühlen, weil sie einen Sinn in ihrem Lernprozess und ihren Erkenntnissen sehen, nicht weil es ihnen aufgetragen wird.” – Thomas Funke

In der Tomorrow University vernetzen sich die Lernenden großteils online, vertiefen dann aber auch ihre Verbindungen mit Hilfe technologischer Mittel wie dem Metaverse. Gleichzeitig werden die Beziehungen immer wieder auch offline geholt. Botschafter:innen in einzelnen Städten organisieren dafür an unterschiedlichen Standorten weltweit immer wieder Treffen, einmal im Jahr werden die Studierenden zu einem gemeinsamen Offline-Austausch eingeladen. 

Das ist bei Diskussionen in sozialen Medien leider nicht immer möglich (und ich gebe zu, mit vielen Menschen möchte ich auch über die Kommentarspalte eines Postes nicht näher in Kontakt treten). Aber es zeigt: Die Online-Welt bietet viele Möglichkeiten, Menschen außerhalb der eigenen Wohlfühl-Blase kennenzulernen, sich auszutauschen und voneinander zu lernen.

Mehr Verständnis aufbauen: „Empathie macht Schule”

Dass Empathie besser so früh wie möglich gelernt wird, ist selbsterklärend. In Deutschland gibt es jedoch abseits freiwilliger Angebote wie Streitschlichtungskursen keinen strukturierten Ansatz für die Förderung des Empathievermögens. Dänemark dagegen ist uns bereits einige Schritte voraus. Seit 2005 wird an dänischen Schulen und Kindergärten das Fach Empathie unterrichtet – mit Erfolg. Die Mobbingquote in dem Land ist so gering wie in fast keinem anderen europäischen Land. Auch Frankreich will dieses Jahr Empathie fest im Lehrplan integrieren.

Finnland wählt bereits jetzt einen anderen Weg: Lehrer:innen werden in der Schule gezielt durch Fachkräfte aus der Sonderpädagogik, der Sozialarbeit und der Psychologie unterstützt. Dieser Strategie könnte sich auch Deutschland bald flächendeckender anschließen. Bei dem Projekt „Empathie macht Schule” werden an drei Berliner Grundschulen seit 2020 Lehrkräfte und Schulpersonal bei ihrer Arbeit psychologisch begleitet. Ziel ist es, die emotionalen Kompetenzen derer zu stärken, die täglich mit den Kindern interagieren. Das Projekt wird von der Universität Heidelberg wissenschaftlich begleitet.

Depositphotos 264638150 XL
Das Projekt „Empathie macht Schule“ richtet sich an Lehrkräfte, aber auch die Schüler:innen profitieren davon. / Quelle: depositphotos.com

“Die Gesamtatmosphäre an den beteiligten Schulen hat sich verändert. Der Fokus des Projekts liegt darin, im ersten Schritt die Erwachsenen zu unterstützen, dass sie die Verantwortung für ihre Beziehungen zu den Kindern übernehmen und diese Beziehungen empathisch gestalten können. Wenn die Erwachsenen dies tun, dann hat das eine große Wirkung auf die Kinder. Wenn sie sich gesehen fühlen, dann fühlen sie sich auch sicherer.“

Lukas Herrmann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter “Empathie macht Schule”

Das Team hinter dem Projekt entschied sich bewusst dazu, zuerst Lehrende zu stärken, da bereits kleine Veränderungen im Verhalten der Lehrkräfte auch den Umgang der Kinder miteinander unterstützen würden. So gibt es seitdem weniger Streit, mehr Austausch und eine offene Gesprächsatmosphäre. Probleme werden zudem nicht mehr aus der offensiven “Du bist Schuld”-Perspektive betrachtet, sondern mit direktem Bezug zu Lösungen.

“Für viele ist es eine Überraschung, dass es bei Empathie, wie sie in unserem Projekt verstanden wird, auch darum geht, guten Gewissens „Nein“ sagen zu dürfen, eigene Grenzen deutlich zu machen und so die eigene Integrität zu schützen – ohne die der Anderen zu verletzen.”

Lukas Herrmann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter “Empathie macht Schule”

Die Erkenntnisse des Projektes zeigen: Schulen sollten sich intensiver mit emotionalen Lernpfaden auseinandersetzen und Lehrkräften sowie Schüler:innen mehr Raum für die emotionale Entwicklung geben. Doch neben Bildungsinstituten können auch wir alle täglich unsere emotionale Intelligenz schärfen: Indem wir bewusster miteinander in Kontakt treten, indem wir diversere Unterhaltungen führen und indem wir auch klare Grenzen im Umgang mit anderen setzen – besonders, wenn wir die Person auf der anderen Seite nicht kennen.
Apropos Grenzen setzen, in sozialen Medien habe ich mir zuliebe mittlerweile klare Spielregeln: Bei sensiblen Themen öffne ich die Kommentare nur, wenn ich mentale Kapazitäten habe und lasse mich selbst nicht auf eine Diskussion ein. Empathie hat mich vor allem gelehrt, wann ein Austausch beide Seiten bereichern kann und wann meine Energie woanders besser aufgehoben ist. With that being said: Seid nett zueinander!

Beitragsbild: depositphotos.com

Unterstütze die Arbeit von Lara Schmalzried und anderen Autor:innen mit einem GNM+ Abo!

Deine Vorteile:

  • Gut recherchierte positive Nachrichten
  • Nachhaltig gedruckt oder digital
  • Dramafrei und lösungsorientiert

GNM+

Lara Schmalzried

Lara ist Online-Chefredakteurin des Good News Magazins. Lange hat sie von einer besseren Welt geträumt. Jetzt schreibt sie Artikel, die den Blick auf die Welt verändern.

Good-Newsletter: Melde dich hier gratis an für die Good News der Woche in deinem E-Mail-Postfach.

Diese Good News könnten dich auch interessieren