Die Forschung zeigt: Gewaltfreier Widerstand war im letzten Jahrhundert erstaunlich erfolgreich. Warum 3.5 Prozent der Bevölkerung entscheidend sein können – und wie gewaltfreier Widerstand angesichts zunehmender Repression auch heute Erfolg haben kann.
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Im Jahr 1170 vor Christus legten die Arbeiter, die mit dem Bau der Grabstätte des herrschenden Königs Ramses III. beauftragt waren, ihre Werkzeuge nieder. Ihre Forderung: ausreichende, regelmäßige Essensrationen und bessere Löhne. Bis ihnen das zugesagt wurde, weigerten sie sich, mit dem Bau fortzufahren.
Der Streik der Bauarbeiter im alten Ägypten ist wahrscheinlich nicht der erste Streik der Menschheitsgeschichte, aber der erste, der historisch belegt ist. Er zeigt, wie lange Menschen schon gewaltfreie Methoden nutzen, um sich Ausbeutung, ungerechten Verhältnissen und Unterdrückung zu widersetzen. In den letzten Jahrzehnten ist die Zahl gewaltfreier Widerstandsbewegungen auf der ganzen Welt gestiegen. Von den sogenannten “Color Revolutions” in ehemaligen Staaten der UdSSR und den (zumindest anfangs friedlichen) Revolutionen des sogenannten “Arabischen Frühlings” zu Black Lives Matter und den vielfältigen Klimabewegungen weltweit nutzen Menschen gewaltfreien Widerstand, um Veränderungen anzustoßen. Oft haben sie damit Erfolg.
“Welcher Erfolg?”, mag die erste Reaktion sein. Niedergeschlagene Proteste in Venezuela und Nigeria in den letzten Monaten, die Unterdrückung von friedlichem Widerstand in Myanmar und China, die schwindenden Zahlen bei den Klimastreiks – wo soll dieser Erfolg sein? Es stimmt: Während bis zirka 2010 die Erfolgsquoten gewaltfreier Widerstandsbewegungen weltweit stiegen, sind sie seitdem deutlich gefallen. Die Herausforderungen für Widerstand, gewaltfrei oder unter Gewaltanwendung, sind gewachsen, während autoritäre Regime besser darin werden, solche Bewegungen im Keim zu ersticken. Und trotzdem. 34 Prozent aller gewaltfreien Widerstandsbewegungen in den letzten 15 Jahren haben erfolgreich einen Umbruch des Status Quo bewirkt. Dem gegenüber stehen nur neun Prozent Erfolgsquote bei bewaffnetem Widerstand.
Gewaltfreier Widerstand ist damit weiterhin das erfolgreichste Mittel, um Veränderung zu bewirken. Wir fassen zusammen, wo solche Bewegungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgreich waren, wie sie aussehen können, um angesichts neuer Herausforderungen zu wirken – und warum es immer Hoffnung für gewaltfreien Widerstand gibt.
Schockierende Erfolgsquoten
Erica Chenoweth ist eine US-amerikanische Politikwissenschaftlerin und Professorin für öffentliche Ordnung an der Harvard Kennedy School und dem Radcliffe Institute for Advanced Study. 2006 begann sie ihre Arbeit zu gewaltfreien Widerstandsbewegungen, “als Skeptikerin”, wie sie heute bekennt. Ihre Kollegin Maria Stephan nahm diese Skepsis zum Anlass für ein herausforderndes Forschungsprojekt: Den Erfolg von Widerstandsbewegungen sowohl mit als auch ohne Gewaltanwendung zu untersuchen.
Dabei fokussierten sie sich auf Bewegungen, die einen radikalen Umbruch forderten, wie den Sturz einer aktuellen Regierung oder die Errichtung eines neuen Staates – Ziele, die nur schwer zu erreichen sind. Als erfolgreich verordneten Chenoweth und Stephan eine Bewegung dann, wenn innerhalb eines Jahres nach dem Höhepunkt und aufgrund der Bewegung eine Regierung gestürzt oder territoriale Unabhängigkeit erlangt wurde. Am Ende stand eine Liste von 627 revolutionären Bewegungen zwischen 1900 und 2006, dem Zeitpunkt des Beginns ihrer Forschung.
Ich war schockiert. Mehr als die Hälfte der Bewegungen, die vorwiegend auf gewaltfreie Taktiken setzten, waren erfolgreich.
Erica Chenoweth
Das Ergebnis ihrer Studie überraschte sie selbst: Mehr als 50 Prozent der gewaltfreien Bewegungen waren erfolgreich. Dem gegenüber stehen nur 26 Prozent der Bewegungen, die Gewalt anwandten. Der Erfolg von Kampagne…