Kunstgeschichte wird neu geschrieben

Vergessene Künstlerinnen und ihre Werke finden den Weg (zurück) ins Licht

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von | 29. September, 2021

Lange wurden Künstlerinnen aus der Kunstgeschichte verdrängt und so schließlich vergessen. Diverse Organisationen und Kunstliebende erzählen jetzt ihre Geschichten neu.

Schon seit vielen Jahren übermalt Sibylle Zeh die Biografien und Abbildungen der Werke von Künstlern in Kunstbänden und -enzyklopädien und lässt nur die der Künstlerinnen stehen. So entstehen ihre Künstlerinnenlexika, wie sie sie nennt. Fast leere Bücher und hunderte weiße Seiten, die eine andere Version der Kunstgeschichte erzählen. Über Frauen, die nicht nur stark eingeschränkt, sondern auch systematisch vergessen wurden.

Bis ins 20. Jahrhundert durften Frauen in Deutschland viele renommierte Kunstakademien nicht besuchen, durften keinen Akt malen. Wenn sie als „Schülerinnen“ oder „Musen“ ausgegeben und ihr Talent und ihre Kreativität damit ihren männlichen Kollegen zugeschrieben wurden, durften sie nicht einmal ihre Werke mit dem eigenen Namen unterschreiben.

Und auch die Kunstgeschichte wurde von Männern dominiert, lange Zeit ausschließlich von ihnen verfasst. Historiker ordneten die Künstlerinnen den Künstlern unter, erwähnten sie nur am Rande oder gar nicht. So gerieten Künstlerinnen, die in ihrer Zeit doch bekannt und erfolgreich gewesen waren, letztendlich in Vergessenheit.

Fallbeispiel Hilma af Klint

Hilma af Klint hatte zunächst Glück: In ihrem Heimatland Schweden konnten Frauen deutlich früher als in Deutschland Kunst studieren. 1882 begann sie ihre Ausbildung an der Königlichen Kunstakademie in Stockholm, machte später erfolgreich ihren Abschluss. Konnte viel reisen und sich kreativ und künstlerisch ausleben, erlangte Bekanntheit und Erfolg.

1906 malte af Klint ihr erstes abstraktes Werk, also fünf Jahre vor Wassily Kandinsky, den die Menschheit jahrzehntelang als Begründer der abstrakten Malerei feierte. Sie malte noch viele weitere und stellte sie auch aus, zog sie dann aber zurück, als sie negative Kritik dafür erhielt. Die Zeit sei noch nicht reif für ihre abstrakten Gemälde, entschied sie. So vermerkte sie in ihrem Testament, dass diese Werke erst 20 Jahre nach ihrem Tod öffentlich präsentiert werden dürften.

Af Klint starb 1944. Doch in einer Ausstellung zu abstrakter Kunst im Museum of Modern Art in New York fast 70 Jahre nach ihrem Tod waren ihre Werke nicht vertreten. Kandinskys schon. Wie die meisten Künstlerinnen um die Zeit war af Klint vergessen worden – und als sich die Welt wieder an sie erinnerte, war die Storyline der abstrakten Malerei schon festgelegt und „kein Platz mehr frei im Kunstkanon“, „keine Notwendigkeit, diese Geschichte nochmal neu zu erzählen“.

Ab 2013 wurden der schwedischen Künstlerin Ausstellungen gewidmet, wie etwa eine im Guggenheim in New York, die die bestbesuchte Ausstellung des Museums wurde. Trotzdem ist Hilma af Klint in manchen Geschichten über die abstrakte Kunst noch immer abwesend.

Gegen das Vergessen

Zahlreiche Organisationen, Museen, Aktivist:innen, Kunstliebende und Künstler:innen wie auch Sibylle Zeh setzen sich deswegen dafür ein, Ungleichheiten in der Kunst(geschichte) aufzudecken und die Leben und Werke vergessener Künstlerinnen wieder aus den Tiefen von Museumsdepots und Archiven herauszuholen.

AWARE, kurz für „Archives of Women Artists, Research and Exhibitions“, ist eine dieser Organisationen. Mit dem Ziel, die „Geschichte der Kunst von Gleich zu Gleich umzuschreiben“, recherchiert und sammelt AWARE Informationen über Künstlerinnen des 19. und 20. Jahrhunderts. Kunsthistorikerin Camille Morineau rief AWARE 2014 ins Leben, nachdem sie fünf Jahre zuvor „elles@centrepompidou“ in Paris organisiert hatte, eine Ausstellung mit Werken ausschließlich von Künstlerinnen, die 2,5 Millionen Menschen anlockte.

Zweite Chancen

Das National Museum of Women in the Arts in Washington, D.C. schätzte, dass normalerweise nur drei bis fünf Prozent der Werke in den ständigen Sammlungen von Museen in Europa und den USA von Künstlerinnen stammen. Das Museum stellt deswegen nur Kunst von Frauen aus. Mittlerweile umfasst seine Sammlung über 5.500 Werke von mehr als 1.000 Künstlerinnen, vom 16. Jahrhundert bis heute. Über 300 Ausstellungen fanden bisher statt, mit Kunst aus aller Welt.

Ähnlich präsentiert das verborgene Museum in Berlin nur Werke von Künstlerinnen, die nicht mehr am Leben oder nicht mehr aktiv sind und vergessen wurden. Für viele Lebensgeschichten und -werke ist die Ausstellung im verborgenen Museum das erste Mal, dass sie seit dem Zweiten Weltkrieg öffentlich erzählt und gezeigt werden.

In Florenz restaurierte die Organisation „Advancing Women Artists“ (AWA) 14 Jahre lang, also bis zu ihrer Schließung Ende Juni 2021, verschiedene Werke von Künstlerinnen aus den Florentiner Museumsdepots – und gab insgesamt 70 Gemälden und Skulpturen ein zweites Leben, brachte „Künstlerinnen ans Tageslicht, deren Arbeiten über Jahrzehnte in den Museumsdepots dahindämmer[te]n.“

Erfolgsgeschichten

Bis heute haben die Organisationen, Museen, Aktivist:innen, Künster:innen und Kunstliebhaber:innen hunderte von Biografien wie die von Hilma af Klint gemeinsam (wieder) entdeckt und in die Kunstgeschichte eingebunden.

Sie und noch mehr Institutionen und Menschen wirken an dem Projekt „Lost Women Art“ mit, das die Kunstgeschichte aufschlüsseln und umschreiben will. Der Dokumentarfilm ist hier und in der Arte-Mediathek verfügbar.

Beitragsbild © AWA Archives

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    Simone Hencke

    Simone ist in Deutschland aufgewachsen, in Kanada zur Schule gegangen, für ihr Bachelorstudium in die Niederlande gezogen, später für ihr Masterstudium dann nach Japan. Sie denkt oft – vielleicht zu oft? – darüber nach, wie faszinierend und spannend das Leben, unser Planet und das Universum doch sind und interessiert sich deswegen für so gut wie alles, insbesondere aber für Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz und Veganismus.

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