Die kreative Gründerin setzt sich mit selbstgenähten Erinnerungsstücken für einen offeneren Diskurs um die Themen Trauer und Erinnerung ein.
Bereits mehrfach war Alessia Argiolas in ihrem Leben mit dem Thema Tod konfrontiert: Vor acht Jahren brachte sie ein Sternenkind zur Welt, 2020 verstirbt ihr Schwiegervater. Mit ihm verliert die Familie einen wichtigen Anker – als „Mittelpunkt der Familie, ein echter Leuchtturm“ beschreibt Alessia ihn heute. Umso sicherer ist sie sich seitdem, dass nur ein offener Diskurs dafür sorgen kann, die Angst vor dem Tod zu mindern. Mit ihrem Label Herz & Stich will sie selbst dazu beitragen, Trauerarbeit zu enttabuisieren: Aus der Kleidung verstorbener Angehöriger näht sie individuelle Erinnerungsstücke – „Trost zum Anfassen“, wie sie es nennt.
Der Anfang von Herz & Stich:
Nach dem Tod ihres Schwiegervaters stapeln sich die Kleider des einstigen Familienoberhaupts. Alessia, die bereits zu diesem Zeitpunkt große Freude am Nähen hat, fängt daraufhin an, sie für jedes Familienmitglied in etwas Neues zu verwandeln: Kuscheltiere, Schlüsselanhänger, Trostspender. In dem damaligen Hobby findet sie mehr und mehr die Erfüllung, die sie zuvor in ihrem Bürojob vergeblich gesucht hatte. Gleichzeitig ist der Zuspruch enorm: Die Familienmitglieder schöpften wichtigen Trost den Erinnerungsstücken, die aus der Kleidung des Großvaters entstanden waren. Schließlich wagt die begeisterte Bastlerin den Schritt und gründet Herz & Stich. Auch den Eltern von Sternenkindern, also Kindern, die vor, während oder kurz nach der Geburt verstorben sind, will sie so wichtigen Trost spenden.
Trost zum Anfassen
Wer Alessia Argiolas kennenlernt, merkt schnell: Die Lebensfreude der gebürtigen Italienerin und Mutter zweier Töchter steckt an. Auch wenn sie über ihre Arbeit spricht, die unweigerlich mit Tod und Trauer verbunden ist, überwiegt in ihren Erzählungen und ihrer Mimik die Freude darüber, ihre Kund:innen positiv in ihrem Trauerprozess unterstützen zu können.
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In liebevoller Handarbeit setzt sie für ihre Kund:innen auch individuelle Wünsche um. So entstanden in den letzten Jahren Hoffnungsdackel, Erinnerungspferde, Schals mit aufgestickter Handschrift der Verstorbenen, Hochzeitsfliegen aus dem Hemd des Vaters, Schlüsselanhänger aus der Motorradkleidung eines passionierten Harley-Fahrers oder kleine Stoff-Enten aus dem Mantel des Opas, der so gerne Enten züchtete.
Die Bremerin ist sich sicher: „Je mehr man die Erinnerungsstücke ins Leben holt, desto weniger schlimm ist es.“ In diesem Bewusstsein erlebt sie ihre eigene Arbeit vor allem als konstruktiv, da ihre Erinnerungsstücke die Trauernden unterstützen.
„Die Trauerarbeit endet nie, sie verändert sich nur.“
Alessia Argiolas
Aus Trauer wird Liebe
Teils erfährt die Gründerin dabei viel über die Hintergründe, über Schicksalsschläge und Familiendramen. Mit der Erteilung des Auftrags und dem Weggeben der Kleidungsstücke geliebter Menschen bringen ihre Kund:innen Alessia großes Vertrauen entgegen. Dessen ist sie sich bewusst und geht daher auch mit ihrer eigenen Geschichte offen um. Denn: „Die Menschen sollen wissen, mit wem sie zu tun haben.“
Wann die Menschen die Kraft haben, auf sie zuzukommen, sei dabei so individuell wie die Menschen selbst. So erteilte eine Kundin Alessia erst 20 Jahre nach dem Suizid ihres Sohnes den Auftrag, aus dessen Kleidung ein Kissen zu fertigen. Zwei Jahrzehnte lang hatte sie die Kleidung, die er zum Todeszeitpunkt trug, an seinem Todestag aus dem Schrank geholt. Mit dem Kissen, so die Kundin, hatten sich ihre Gefühle verändert – aus Trauer war Liebe geworden.
Gemeinsam für eine vielfältigere Trauerkultur
Herz & Stich bedeutet für Alessia mittlerweile sehr viel mehr als die Arbeit in ihrer Nähstube – nicht nur, weil die Arbeit ihren eigenen Umgang mit dem Tod positiv prägte. Im Vorjahr nahm die Menge an Anfragen mit steigender Bekanntheit zu und gab ihr so die Möglichkeit, den Kern ihrer Arbeit weiter nach außen zu tragen.
Als Eröffnungsgast nahm Alessia am Kongress Zum Tod lachen teil, einem Sammelplatz für Lachyogalehrer:innen, Beerdigungsclowns und viele weitere Menschen, die sich einer Neuauslegung von Trauer verschrieben haben.
Außerdem knüpfte sie im Rahmen eines Workshops des Bremer Netzwerkes bohana gemeinsam mit den Teilnehmenden Armbänder mit erinnerungsbehafteten Stoffstücken. Bohana vereint verschiedene Unternehmen, Organisationen und Privatpersonen, die mehrmals im Jahr zusammenkommen, um sich darüber auszutauschen, wie Trauer und Erinnerung individuell gestaltet werden kann.
„Das ist wirklich sehr bunt gemischt und gar nicht so traurig, wie man sich ein Netzwerk vielleicht vorstellt, in dem alles um den Abschied geht“, beschreibt Alessia begeistert. Präsent sei im bohana-Netzwerk vor allem der gemeinsame Wunsch, eine Vielfältigkeit des Abschieds zu ermöglichen: „Manche bunt, manche unbunt, aber alle sind gewillt, verschiedenste Dinge umzusetzen“, fasst sie zusammen.
Die Kontakte über das Netzwerk ermöglichen der Bremerin auch, Aktionen wie die Trostbox ins Leben zu rufen. Sie selbst füllte die Boxen mit einem selbstgenähten Schlüsselanhänger und einer Kerze, ein anderes Netzwerkmitglied steuerte eine liebevoll gestaltete Broschüre bei. Verteilt wurden die Trostboxen kürzlich von der Caritas Duisburg, um so Familien, die kürzlich ein Kind verloren hatten, durch die schwere Zeit zu helfen.
Schluss mit dem Tabu
Als Alessia selbst ihr Kind verlor, fühlte sie sich allein mit diesem Schicksal. Während ihrer ersten Trauerphase kannte sie keine Frau, die das Gleiche durchmachen musste. Erst ihr eigener offener Umgang mit dem Thema offenbarte viele Schicksalsgefährt:innen in ihrem Umfeld. Deshalb wendet sie sich etwa strikt gegen die Norm, erst nach drei Monaten die eigene Schwangerschaft zu verkünden.
„Wie traurig ist es, dass es die Frau dann mit sich selbst ausmachen muss, weil sie es niemandem erzählt hat.“ Stattdessen setzt sie sich für einen offenen Diskurs ein – mit Erfolg, denn auch persönlich erfährt sie eine positive Entwicklung: „Wenn die Leute merken, dass du dafür offen bist, kommen sie auch auf dich zu und reden darüber.“ Mit ihrer Biografie im Hinterkopf zeugt diese Aussage von einer ganz besonderen Stärke.
Auch auf Social Media erlebt Alessia Argiolas eine zunehmende Offenheit für Trauer. Längst haben es Videos Trauernder auf die Explore-Seiten vieler und damit zwischen Katzenvideos, Rezepte und aktivistische Inhalte geschafft. Die gebürtige Italienerin sieht diese langsame, aber stetige Enttabuisierung von Trauer positiv: „Online treffen Menschen, die ein Kind verloren haben, auf viele Gleichgesinnte – und damit auf Menschen, die dafür Verständnis haben.“ Durch den Online-Austausch könne der Trauerprozess unterstützt werden, insbesondere für Menschen, die in ihrem Umfeld keine Ansprechpartner:innen haben.
Auch gesamtgesellschaftlich haben Tod und Trauer nun größere Sichtbarkeit:
„Es gibt sehr viel mehr Raum für psychische Themen, egal ob Depressionen oder Selbstfürsorge – und auch Trauer und Erinnerung sind Themen, die nun mehr auf der Agenda stehen.“
So hofft sie, dass auch andere Menschen von einer Auseinandersetzung mit dem Tod profitieren. Denn für Alessia ist dies auch eine Erinnerung daran, das Leben zu genießen und jeden Tag Erinnerungen zu schaffen:
„Dann muss man ja davor keine Angst haben, das Leben nicht gelebt zu haben. Das ist das, was den Menschen Angst macht beim Thema Tod: Dass man irgendeine Liste nicht abgearbeitet hat oder dass man nicht genug gereist ist oder nicht genug erlebt hat oder nicht den Menschen gesagt hat, wie lieb man sie hat. Wenn man das zu Lebzeiten achtsam jeden Tag macht – kleine schöne Sachen für andere tut, Dankbarkeit zeigt – braucht man gar nicht mehr diese Angst davor zu haben.“