Der lange Weg nach Hause

das ist ein GNM+ ArtikelFortschritte in der Restitution

von | 15. März, 2025 | #10 – Früher war alles besser ... nicht, GNM+, Politik

Die Rückgabe geraubter Kulturgüter war lange ein Streitpunkt zwischen ehemaligen Kolonialmächten und Herkunftsgesellschaften. Doch endlich bewegt sich etwas in Sachen Restitution. Museen und Regierungen beginnen, Verantwortung zu übernehmen. Bedeutende Objekte kehren zurück, und mit ihnen wächst die Hoffnung auf eine gerechtere Aufarbeitung der Geschichte. Ist dies der Anfang eines Wandels?

Die Rückgabe geraubter Kulturgüter war lange ein Streitpunkt zwischen ehemaligen Kolonialmächten und Herkunftsgesellschaften. Doch endlich bewegt sich etwas in Sachen Restitution. Museen und Regierungen beginnen, Verantwortung zu übernehmen. Bedeutende Objekte kehren zurück, und mit ihnen wächst die Hoffnung auf eine gerechtere Aufarbeitung der Geschichte. Ist dies der Anfang eines Wandels?

Im Juni 2023 besuchte Nabil Mouhamed Nfonrifoum Mbombo Njoya das Humboldt Forum in Berlin. Der König von Bamum im Nordwesten des heutigen Kameruns schritt in die Ausstellungshalle, begleitet von Medien und Mitreisenden. Zielstrebig ging er auf einen Thron zu, der auf einem Podest ausgestellt wurde und setzte sich darauf. Jubel, Gesänge und Freudenrufe erklangen im Museum. Auf diesem Thron hatte einst sein Urgroßvater gesessen. “Es ist ein großer Moment für mich”, sagte Mbombo Njoya der Presse. “Ich folge damit einer Tradition: Platz zu nehmen, nach meiner Krönung, auf dem Thron meiner Vorfahren.” Laut einer Erklärung der kamerunischen Botschaft wurde der Thron ursprünglich während der deutschen Kolonialzeit im Jahr 1908 außer Landes gebracht. Kamerun war von 1884 bis 1916 eine Kolonie des Deutschen Reiches. Nach dem Ersten Weltkrieg legte der Vertrag von Versailles die Herrschaft des Völkerbundes über das Gebiet fest, dies führte letztlich zur Teilung des Landes in zwei separate Staaten unter der Verwaltung Großbritanniens und Frankreichs. Erst im Jahr 1961 schlossen sich Französisch-Kamerun und ein Teil von Britisch-Kamerun zu dem Staat zusammen, den wir heute als Kamerun kennen. Während der Kolonialzeit unterhielt der damalige König von Bamum, Ibrahim Njoya, enge Beziehungen zum Deutschen Reich. Historischen Berichten zufolge schenkte König Njoya den Thron dem damaligen deutschen Herrscher Kaiser Wilhelm II.

Der Historiker Matthew Fitzpatrick stellt in seinem Buch “The Kaiser and the Colonies” jedoch eine andere Version der Ereignisse dar: „Während andere Königreiche im deutschen Kamerun sich für den Widerstand gegen die Deutschen entschieden und dafür einen hohen Preis bezahlt hatten, überzeugte König Njoya von Bamum sein Volk, dass dessen Interessen am besten durch ein Bündnis mit den Deutschen gewahrt würden.“ Betrachtet man die Umstände und die harten Konsequenzen eines versuchten Widerstands gegen die deutsche Kolonialmacht, wird es schwer, die Geschichte des “freiwilligen Geschenks” aufrechtzuerhalten. Lars Christian Koch, Intendant des Humboldt Forums, war dabei als Njoya im Juni 2023 Platz nahm auf dem Thron seiner Vorfahren. Der Presse sagte Koch im Anschluss: “Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit, eine lange Vergangenheit und wir müssen an dieser Vergangenheit arbeiten.” Doch was steckt hinter diesen Worten?

Das Humboldt Forum steht seit langem in der Kritik, sich nicht ausreichend mit seinem kolonialen Erbe auseinanderzusetzen und der Verantwortung von Museen, im heutigen 21. Jahrhundert ihre Geschichten und Ausstellungen kritisch zu reflektieren, nicht gerecht zu werden. Als ethnologisches Museum besteht ein Großteil der Ausstellungsstücke aus Raubgut, das während der Kolonialzeit erbeutet wurde. Nach eigenen Angaben arbeitet das Museum daran, die Herkunft und Hintergründe der Ausstellungsstücke aufzuarbeiten – etwas, das als Provenienzforschung bezeichnet wird.

Der lange Disput um die Benin-Bronzen

Ein besonderer Fall, der unter anderem ebenfalls im Humboldt-Forum verhandelt wurde, ist die Rückgabe der sogenannten Benin-Bronzen. Der Begriff wird für mehrere tausend Kunstwerke verwendet, die im Zuge der gewaltvollen Invasion von Benin-Stadt, der Hauptstadt des historischen Königreichs Benin im heutigen Nigeria, durch britische Truppen geplündert und anschließend über verschiedene westliche Länder verstreut wurden. Die Kunstwerke wurden ab dem 16. Jahrhundert von Kunsthandwerker:innen am königlichen Hof in Benin – Stadt hergestellt und umfassen aufwendig verzierte Gedenkköpfe, -skulpturen und -plaketten. 

Die sogenannten Bronzen, die eigentlich vorwiegend aus Messing, zu einem Teil aus Bronze oder auch aus Holz und Elfenbein bestehen, hatten – und haben – eine wichtige spirituelle und rituelle Bedeutung. Sie waren zentraler Bestandteil von Ritualen zur Ehrung der Vorfahren und zur Einsetzung des neuen Obas, wie die Herrscher Benins genannt werden, und sind Zeugnis der reichen Kultur und Geschichte des Königreichs Benin.

Inzwischen sind die berühmten Bronzen aber auch Zeugnis der “Ungerechtigkeit des Kolonialismus bezogen auf westliche Sammelwut”, wie es auf der Seite des Humboldt-Forums selbst heißt. Das Museum muss es wissen, es ist eine der 131 Institutionen rund um die Welt, in denen ca. 5.000 aus Benin gestohlene Gegenstände lagerten. Inzwischen sind es weniger, Dank einer 2010 begonnenen Initiative verschiedener Institutionen zur Rückgabe der Kunstwerke. Im Juli 2022 unterschrieben die deutsche und nigerianische Regierung ein gemeinsames Abkommen, das die Rückgabe aller in deutschen Museen ausgestellten Kulturgüter des ehemaligen nigerianischen Königreichs Benin an Nigeria festlegte. Darunter auch die 514 Werke aus der Sammlung des Ethnologischen Museums in Berlin. Seit 2022 ist Nigeria – beziehungsweise der heutige Oba Ewuare II. – wieder ihr offizieller Eigentümer, auch  der 168 Bronzen, die als Leihgaben im Berliner Museum verbleiben. 

Und die deutschen Museen sind nicht die einzigen, bei denen die Restitutionsdebatte langsam Wirkung zeigt. Die University  of Aberdeen, in Schottland, und das Jesus College an der University of Cambridge haben jeweils die einzigen Kunstwerke aus Benin in ihren Sammlungen zurückerstattet; die Smithsonian Institution hat sich dazu verpflichtet, den Großteil ihrer Sammlung zurückzuerstatten, genauso wie das London’s Horniman Museum of anthropology and natural history. Erst im Februar 2025 kündigte auch die niederländische Regierung an, 119 der aus dem Königreich entwendeten Kunstwerke aus niederländischen Museen zurückzuerstatten.

Kurz nachdem die ersten Kunstwerke bereits aus Berlin nach Nigeria zurückgebracht wurden, besuchte unsere Redakteurin Luisa Vogt im Rahmen ihres Studiums die Ausstellung im Humboldt-Forum, die nach Angaben der Verantwortlichen die Restitutionsdebatte selbst und die Frage nach der Zukunft von Sammlungen in ethnologischen Museen in der ganzen Welt ins Zentrum rücken sollte. Was ihr davon vor allem in Erinnerung bleibt, sind die vielen farbigen Punkte an den Vitrinen und Plaketten, die anzeigten, dass die darin ausgestellten Kunstwerke zur Rückgabe vorgemerkt waren. Es waren viele, sehr viele. Ein Bekenntnis der kolonialen “Sammelwut”, aber auch ihrer Sinnlosigkeit. Denn bei vielen der Kunstwerke und Artefakte stand auf den Metallplaketten an oder neben den Vitrinen fast nichts. Keine Informationen zum Herkunftsort, der geschätzten Zeit der Herstellung, vor allem aber nicht zu ihrer Bedeutung. Wofür wurden sie genutzt? Welche kulturelle oder spirituelle Bedeutung wohnt ihnen vielleicht inne? Allein das entkräftet schon das Argument, dass wertvolle kulturelle Gegenstände in westlichen Museen besser aufgehoben seien – was wird “bewahrt”, wenn die eigentliche Bedeutung eines Objekts oder Subjekts, das übrigens vielleicht zum Gebrauch hergestellt wurde und nicht zur Exhibition, in einer Glasvitrine verloren geht? Wenn es überhaupt zur Ausstellung in der Glasvitrine kommt. Tausende Artefakte liegen, viel zu häufig unklassifiziert, in den Lagern westlicher Museen, ohne jemals ausgestellt zu werden, auch das bleibt im Gedächtnis.

Ist das noch zu rechtfertigen?

Es stapeln sich die Bananenkisten in der ethnologischen Sammlung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) in Berlin. Über hundert Kisten, deren Inhalt größtenteils unbekannt ist.  Das KATAPULT Magazin schreibt in einem Artikel zu Restitution darüber: “Die Räume sind baufällig und renovierungsbedürftig. Wenn es stark regnet, dringt Wasser ein. Um sich vor Holzwürmern und Motten zu schützen, haben die Mitarbeiter Chemikalien versprüht. Etwa zwei Drittel der dort gelagerten Gegenstände könnten auf diese Weise beschädigt werden. Inzwischen darf das Depot (in Berlin-Dahlem) nur noch mit Kittel, Atemschutz und Handschuhen betreten werden. Ironischerweise erklären Experten bis heute, dass die Museen in den afrikanischen Herkunftsländern nicht in der Lage sind, ihre Objekte ordnungsgemäß zu lagern, dass es an der technischen Ausstattung und dem Fachwissen des Personals fehlt und dass die Kulturgüter deshalb nicht zurückgegeben werden können.” Schätzungen zufolge befinden sich etwa 90 Prozent der afrikanischen Kulturgüter aus Subsahara-Afrika außerhalb des Kontinents.

Wo sehen wir die Zukunft solcher Ausstellungen und Museen allgemein? Die Ideen und Meinungen reichen weit, von Ausstellungen von Replika und virtuellen Ausstellungen(was in Hinblick auf die spirituelle Bedeutsamkeit bestimmter Artefakte Probleme aufwirft) bis zur Hoffnung, dass ein Leihgaben-System zwischen Museen weltweit die Zukunft sein kann. Ob das möglich ist, entscheiden aber die Staaten, Gemeinschaften oder Individuen, denen rechtmäßig der Anspruch auf die gewaltvoll entwendeten Kunstwerke zusteht. Was in der Debatte gelernt werden muss, so das Fazit unserer Redakteurinnen: Diese Entscheidung anzuerkennen. Das sind westliche Institutionen schuldig. Und wenn wir schon von Schuld sprechen:

Wer schuldet hier wem?

Es gibt Momente im Leben, da passiert eigentlich gar nicht viel um dich herum und doch brennen sie sich für immer in dein Gedächtnis. Für mich gab es so einen Moment, als ich 2016 im Zug saß und Musik hörte. Im Outro des Songs “Imagining” von Patrice kam Mallence Bart Williams zu Wort und sagte: „Im vergangenen Jahr berichtete der IWF, dass sechs der zehn am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt in Afrika liegen, gemessen an ihrem BIP-Wachstum. Der französische Fiskus zum Beispiel erhält Jahr für Jahr etwa 500 Milliarden Dollar an Devisenreserven von afrikanischen Ländern, die auf Kolonialschulden beruhen, die sie zu zahlen gezwungen werden.“ Ich spulte zurück und hörte mir die Rede nochmal an, “koloniale Schulden”? Nach meinem damaligen Verständnis hatten die ehemaligen Kolonialmächte “Schulden” zu zahlen für all die Verbrechen, die sie in den Ländern begangen hatten (und es auch heute noch tun). Doch tatsächlich ist es umgekehrt. “Der ehemalige französische Präsident Jacques Chirac erklärte kürzlich in einem Interview, dass wir ehrlich sein und anerkennen müssen, dass ein großer Teil des Geldes in unseren Banken gerade aus der Ausbeutung des afrikanischen Kontinents stammt. Im Jahr 2008 erklärte er, dass Frankreich ohne Afrika in den Rang einer Dritte-Welt-Macht abrutschen wird.” Das ist es, was in der menschlichen Welt passiert, in der Welt, die wir geschaffen haben”, sagt Mallence Bart Williams. Der größte Teil dieser Staatsschulden läuft nach wie vor auf US-Dollar und wird von privaten Finanzmarkt-Akteur:innen und multilateralen Organisationen wie dem  Internationalen Währungsfonds (IWF)  gehalten. So wurden zum Beispiel die Schulden aus der indischen Kolonialzeit einfach so auf das unabhängige Indien übertragen. Das globale Netzwerk Debt For Climate kooperiert mit Organisationen aus Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika, um Druck aufzubauen. Ihr übergeordnetes Ziel ist es, die Schuldenlast des Globalen Südens komplett zu erlassen und eine gerechte, selbstbestimmte Transformation zu fördern, die den Weg für mehr Gerechtigkeit ebnet. Im Interview mit medico internationale erzählen die Mitglieder Dianx aus Mexiko und Elaya aus Deutschland folgendes:

Dianx: Wir haben eine simple, wenn auch schwer durchzusetzende Forderung: Die bedingungslose Streichung aller Schulden der Länder des Globalen Südens. Die von den Gläubigern, wie Weltbank und anderen, an uns gerichtete Forderung nach der Zurückzahlung von Schulden erachten wir nicht als legitim. Es ist eher andersrum. Es ist der Globale Norden, der eine historische, koloniale und klimatische Schuld gegenüber unseren Territorien trägt.

Elaya: Das Schuldensystem hat aus der kapitalistischen Ausbeutung etwas sehr Abstraktes gemacht. Es scheint zu komplex, um es zu verstehen und dagegen sprechen zu können. Die wenigsten sprechen heute noch von einer Kontinuität kolonialer Ausbeutungsverhältnisse, wenn sie auf die globalen Wirtschaftsbeziehungen schauen. Stattdessen ertönt seit den 1940er Jahren ein Entwicklungsdiskurs, der seit geraumer Zeit auch unter dem Begriff der Hilfe (Englisch „Aid“) läuft. Das Problem dabei: Sowohl Entwicklung als auch Hilfe sind die Verlängerung dieses kolonialen Verhältnisses unter anderen Vorzeichen. Der IWF und die Weltbank spielen seit den 1970er Jahren bei der Konsolidierung einer internationalen Finanzarchitektur eine wichtige Rolle, die zur Privatisierung staatlicher Betriebe und Aufgaben, zur Verarmung der Bevölkerung und Umweltschädigung geführt hat. Zusammen mit den Ländern des Globalen Nordens verleihen sie an Bedingungen gekoppelte „Entwicklungshilfe“. Oftmals sind es Gelder für große Infrastrukturprojekte, um die die lokalen Bevölkerungen selten gebeten haben.

Restitution: ein jahrzehntelanger Aushandlungsprozess

Diese Einordnung ist wichtig, um die sozialpolitischen Kontexte zu verstehen, in denen sich die lange Restitutionsdebatte abspielt. Denn, auch das erscheint mir eigentlich “logisch”: Wenn ich etwas klaue, dir etwas gewaltvoll nehme, was dir gehört, muss ich es zurückgeben. Doch das Thema Restitution wird komplex verhandelt. Wirklich unhaltbar sind die Argumente gegen die Rückgabe, wenn wir über “Kulturgüter” hinausgehen. Denn nicht nur Kunstwerke wurden während der Kolonialzeit gehortet und liegen in Sammlungen westlicher Museen, sondern auch menschliche Gebeine. Was das bedeutet: Menschen warten seit Jahrzehnten darauf, ihre Vorfahren beerdigen zu können. Die Forderungen nach der Rückerstattung menschlicher Gebeine, die während der Zeit der europäischen Kolonialherrschaft nach Europa geschafft wurden, reichen Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, zurück. Ein populäres Beispiel ist der Schädel von Mkwavinyika Munyigumba Mwamuyinga, besser bekannt als Mkwawa, dem Anführer des jahrelangen Widerstandes der Hehe gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Tansania. Nach offiziellen Angaben wurde der Schädel 1954 aus Deutschland nach Tansania zurückgebracht. Neuere Quellen stellen diese Version der Geschichte allerdings in Frage und verweisen darauf, dass die Restitutionsdebatte um Mkwawas Schädel vorwiegend zwischen Deutschland und Großbritannien geführt wurde, ohne echte Einbindung der Hehe oder der tansanischen Bevölkerung allgemein. Das zeigt wiederum, wie sehr die komplette Debatte von geopolitischen Interessen geprägt ist – nicht nur damals, sondern auch heute. Vor allem aber sollte es uns wachrütteln. Denn die Prominenz, die der Schädel von Mkwawa erfuhr – so er es denn war – bleibt ein Ausnahmefall. Dabei lagern noch heute allein in Berliner Einrichtungen mindestens 5.958 solcher Überreste, wie eine wissenschaftliche Analyse des Vereins Decolonize Berlin feststellte. Die tatsächliche Zahl liegt aufgrund unvollständiger Daten vermutlich noch höher. 

Der Fall des Schädels von Mkwawa ist auch insofern ein Ausnahmefall, als dass seine Rückgabe im Vergleich erstaunlich früh stattfand. Zum Vergleich: Der erste formelle Antrag auf Rückgabe der Benin-Bronzen wurde bereits 1936 gestellt. Doch erst in den letzten Jahren kam wirklich Bewegung in den Restitutionsprozess. Das spiegelt eine allgemeine Tendenz. Denn über die letzten Jahre ist das öffentliche und mediale Interesse an Restitution stark gewachsen. Damit nimmt auch der Druck auf die Museen zu. Die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy zeigte in ihren Arbeiten auf, dass noch in der Zeit zwischen 1970 und 1985 einzelne westdeutsche Museumsdirektor:innen und Kulturverwaltungen systematisch die Rückgabe verhinderten. Doch langsam tut sich etwas.

Gib zurück, was mir gehört

Dank zunehmender Kampagnen und zunehmender öffentlicher Aufmerksamkeit gibt es im letzten Jahrzehnt immer mehr Beispiele für erfolgreiche Restitution. So erhielt Äthiopien beispielsweise 2021 eine Sammlung von Insignien, die 1868 von den Briten erbeutet worden waren, zurück. In Kanada wurde den Angehörigen der Siksika First Nation 2024 ein zeremonieller Kopfschmuck zurückerstattet, der traditionell von einer heiligen Frau der Blackfoot Holy Buffalo Woman Society, bekannt als Motokiks, getragen wurde. Durch die Rückgabe können die heutigen heiligen Frauen der Motokiks den Kopfschmuck, dem spirituelle wie zeremonielle Bedeutung innewohnt,  wieder tragen und so die Tradition fortführen.

Innerhalb der letzten sieben Jahre hat eine Initiative des Australian Institute of Aboriginal and Torres Strait Islander Studies (AIATSIS) zur Rückgabe von Kulturerbgut mehrere Restitutionsaushandlungen angestoßen, durch die über 2.200 Werke von kultureller Bedeutung an verschiedene Gruppen der Aboriginal People in Australien zurückerstattet wurden. So erhielt die Gemeinschaft der Anindilyakwa in Australiens Norden im September 2023 174 persönliche Kulturgüter zurück. 2024 wurden den Warumungu, ebenfalls im Norden Australiens, 30 Artefakte von Museen in Los Angeles und London zurückerstattet, darunter beispielsweise Messer und Boomerangs. 

Im Jahr 2022 wurden 23 Objekte aus dem Ethnologischen Museum in Berlin an das Nationalmuseum in Windhoek gegeben. “Weitere deutsche Museen sind im Gespräch mit namibischen Akteur:innen über die Rückführung von Kulturgut”, heißt es auf der Website des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste. Die Niederlande erstatteten 2023 478 geraubte Kunstschätze an Indonesien und Sri Lanka zurück. Dabei handelte es sich zum großen Teil um Objekte mit Gold, Edelsteinen und Silber. Ebenfalls 2023 gaben Deutschland und Italien ca. 50 prähispanische Objekte an Mexiko zurück. „Die Rückgabe der Objekte wird es jedoch nicht ermöglichen, alle Informationen wiederzuerlangen, die durch den illegalen Handel mit antiken Kunstwerken verloren gegangen sind, da bei ihrer „illegalen Ausgrabung der gesamte Kontext, der sie begleitet hat, zerstört wurde“, erklärte die mexikanische Kulturministerin Alejandra Frausto.

Viele dieser Restitutionen verliefen eher im Stillen, ohne große Reaktion der Öffentlichkeit. Ähnlich erging es verschiedenen Restitutionen aus westlichen Museen in asiatische Länder, beispielsweise die einer Hanuman Statue aus dem zehnten Jahrhundert, die 2015 vom Cleveland Museum of Art zurück nach Kambodscha gebracht wurde. Bereits zuvor hatten weitere US-Institutionen, wie das Metropolitan Museum of Art in New York und Sotheby’s ebenfalls Rückerstattungen von Statuen und weiteren Artefakten zugestimmt, die zwischen 1960 und 1990 geplündert worden waren.

Vermutlich stapeln sich in den Institutionen viele weitere offene Anfragen zur Restitution. Die genaue Anzahl lässt sich nicht präzise angeben, da viele dieser Anfragen bilateral und oft ohne öffentliche Bekanntmachung erfolgen. Für die Museen, die darauf zögerlich oder ablehnend reagieren, hat Stephen Murphy vom Department of History of Art and Archaeology an der Londoner SOAS den folgenden Rat: “Westliche Museen sollten sich nicht in eine existenzielle Krise wegen eines empty-gallery Syndroms begeben. Indem sie proaktiv sind und echte Kooperationen eingehen, könnten sie stattdessen neue und viel sinnvollere Wege finden, um Ausstellungen und Interaktionen mit den Kulturen zu schaffen, die sie zu bewundern und zu respektieren vorgeben.

Eine Debatte geführt von wem? 

Die zunehmenden Debatten um Restitution und die tatsächlich steigende Zahl der Fälle, in denen Rückgaben stattfinden, ist natürlich zunächst einmal etwas Positives. Doch wie bereits angeklungen ist, gilt es auch hier, den weiteren politischen Kontext im Auge zu behalten. Denn, wie der Journalist David Frum in einem Artikel in der Zeitschrift The Atlantic richtig anmerkt, ist die Frage, wer von Restitutionen profitiert, oft vielschichtig. Anders gesagt: Restitutionen sollten (in Frum’s Worten) kein “Ritual der Selbstreinigung durch Läuterung” für westliche Institutionen sein. Tatsächlich wurden und werden Restitutionsdebatten häufig von westlichen Stimmen dominiert, nur wenige Institutionen oder Individuen, die die rechtmäßigen Besitzenden repräsentieren, kommen darin zu Wort.

Um das zu ändern, gründeten die Künstlerin Molemo Moiloa und die Historikerin Chao Tayiana Maina 2020 die Initiative Open Restitution Africa. Die beiden Frauen hatten sich 2019 bei einer Konferenz zu afrikanischen Museen in Namibia kennengelernt und schnell festgestellt, dass sie eine ähnliche Frage beschäftigt: Warum ist es so schwierig, Informationen zu Restitutionsprozessen in Afrika zu finden? Mit ihrer Plattform wollen sie genau diese Informationen zur Verfügung stellen und dabei die Rolle afrikanischer Gemeinschaften, Forschung und Expert:innen in diesen Prozessen sichtbarer machen und stärken. Sie sind fest davon überzeugt, dass eine größere Einbindung der afrikanischen Sichtweise nötig ist, um mehr Wissen über Restitution, aber auch die Kultur und Geschichte hinter den gestohlenen Werken und Gebeinen ihrer Vorfahren zu verstehen und ein kritisches Bewusstsein dafür zu verbreiten.

Dieses kritische Bewusstsein zeigt sich bereits zunehmend, insbesondere in der Kunstszene. Bei der Berlinale 2024 gewann ein Film, der sich der Restitutionsdebatte auf ganz besondere Weise widmet, den Goldenen Bären: “Dahomey”, gedreht von Mati Diop, einer in Paris geborenen Regisseurin mit senegalesischen Wurzeln, wurde von Senegal 2025 in der Rubrik bester internationaler Film bei den Oscars eingereicht. In dem Dokumentarfilm wird die Debatte um die Rückgabe von Werken aus dem früheren westafrikanischen Königreich Dahomey im heutigen Benin, die heute in einem Pariser Museum lagern, verhandelt. Zu Wort kommen dabei nicht nur senegalesische Aktivist:innen und Künstler:innen, sondern die Werke selbst. “Wir sind tausende an diesem dunklen Ort. Entwurzelt. Entrissen. Beute einer immensen Plünderung”, erklärt eine der Statuen, die schlussendlich an Benin zurückerstattet werden, um anschließend die entscheidende Frage aufzuwerfen: ”Ist das das Ende dieser Reise?”

26 der tausenden geplünderten Schätze wurden von Frankreich an das frühere Königreich Dahomey zurückerstattet. Die Stimmen der Bevölkerung, kritisch. “Die Restitution von 26 Werken aus 7000 ist eine Beleidigung”, erklärt eine Aktivistin im Dokumentarfilm. “Es ist ein rein politisches Event. Es ist in keiner Weise historisch.” Ein anderer Protagonist widerspricht: “Dies wird es Historiker:innen und Künstler:innen erlauben, sich die Geschichte wieder anzueignen.“

Ob Restitutionen rein politisch motiviert sein mögen oder nicht: Es ist Zeit, dass die Betroffenen und ihre Forderungen mehr Gewicht in der Debatte erhalten. Nur so kann sichergestellt werden, dass Restitution an die Personen oder Gemeinschaften geschieht, denen das Recht auf die rückerstatteten Werke zusteht, dass sie fair geschieht und Heilung erlaubt. Wie es einer der Aktivisten in Dahomey formuliert: „Was vor mehr als einem Jahrhundert geplündert wurde, ist unsere Seele. Die Seele unseres Volkes”. 

Wem gehört die Vergangenheit?

In Kamerun fand im Dezember 2024 ein 600 Jahre altes Ritual statt. In diesem nimmt der König der Bamoun Platz auf seinem Thron. Die jahrhundertealte Praxis, bekannt als Nguon, stellt den König vor seinem Volk “vor Gericht”. Es ist eine Mischung aus Comedy und ernstgemeinter Kritik. Kürzlich von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt, zieht sie viele Einheimische und Tourist:innen an, die dem Spektakel beiwohnen. Es “fördert Harmonie und kulturelles Bewusstsein”, schreibt Cameroon Online dazu. “Während das Königreich sein reiches Erbe feiert, werden die Bemühungen fortgesetzt, den ursprünglichen Königsthron zurückzuerobern, der die dauerhafte Verbindung zwischen dem Volk der Bamoun und seiner Geschichte symbolisiert.” König Nabil Mouhamed Nfonrifoum Mbombo Njoya saß bei dem Ritual auf einer Kopie des Throns. Das Original steht weiter in Berlin im Humboldt Forum. 

Als Nabil Mbombo Njoya 2023 im Museum Platz auf dem Thron seiner Ahnen nahm, war es mehr als ein symbolischer Akt, es war eine stille Forderung nach Gerechtigkeit. Wer bestimmt, was zurückkehrt?

Quellen:

https://www.humboldtforum.org/en/magazine/article/wir-haben-die-welt-ausgenutzt

https://kulturgutverluste.de/kontexte/koloniale-kontexte/rueckgaben?utm_source=chatgpt.com

https://www.dw.com/de/niederlande-geben-koloniale-raubkunst-zur%C3%BCck/a-66155413

https://www.dw.com/de/claudia-roth-r%C3%BCckgabe-der-bronzen-ist-wie-ein-t%C3%BCr%C3%B6ffner/a-64209687

https://www.dw.com/de/arch%C3%A4ologische-fundst%C3%BCcke-an-mexiko-zur%C3%BCckgegeben/a-65166895

https://www.dw.com/de/kolonialismus-restitution-sch%C3%A4del-ruanda-tansania-kenia/a-65050741

https://www.newsweek.com/african-king-visiting-european-museum-sits-throne-1807222

https://www.modernghana.com/news/947508/revised-guidelines-on-colonial-collections-germany-not-adva.html

https://kulturgutverluste.de/restitutionsmeldung?utm_source=chatgpt.com

https://katapult-magazin.de/de/artikel/alles-rechtmaessig-geklaut#deren-inhalt-niemand-kennt-ref

https://www.cameroononline.org/cameroon-600-years-old-ancient-royal-tradition-puts-bamoun-king-on-trial-video/#google_vignette

https://www.cambridge.org/core/journals/antiquity/article/restitution-and-repatriation-as-an-opportunity-not-a-loss-some-reflections-on-recent-southeast-asian-cases/21134BEF9CD8608CD2BCB844833C4491

https://www.instagram.com/indigenouspeoplesmovement/reel/CtZIrxBvu9q

https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/ethnologisches-museum/sammeln-forschen/sammlungsbestaende-im-fokus/mandu-yenu-der-koenigsthron-von-bamum

https://openrestitution.africa/african-voices-in-restitution/

https://www.smb.museum/en/whats-new/detail/return-of-benin-bronzes-from-the-ethnologisches-museum-artefacts-now-in-nigerian-hands

https://www.deutschlandfunkkultur.de/benin-bronzen-raubkunst-nigeria-restitution-100.html

Beitragsbild: Daderot, CC0, via Wikimedia Commons

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Lucia Oiro
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