Wie können wohnungslose Menschen unterstützt und Wohnungslosigkeit bekämpft werden? Schritt eins: Den Menschen in den Fokus rücken. Und zwar wortwörtlich.
Das ist ein Beitrag aus unserem fünften Printmagazin mit dem Thema „Auf der Suche nach dem guten Geld“. Diesen und weitere exklusive Beiträge gibt’s im GNM+ Abo
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Markus liegt in einem Meer aus Blumen, lässig auf den linken Arm gestützt, in der rechten Hand hält er einen Blumenstrauß, an dem er riecht. Seine langen Haare sind nach hinten gekämmt, sein Blick ist selbstbewusst, fast lasziv, in die Kamera gerichtet. Über dem Bild prangt der Titel “VOGUE Germany”. Das Covermodel für eine renommierte Modezeitschrift – man würde es Markus auf diesem Bild sofort abnehmen. Tatsächlich jedoch ist Markus kein Model, sondern einer von über 450.000 wohnungslosen Menschen in Deutschland (Stand Januar 2023). Sein Bild ist Teil des Projekts HomeLESSFashion, das es sich zum Ziel gesetzt hat, wohnungslose Menschen vom Rand der Gesellschaft in ihr Zentrum zu rücken.
Kein Geld, kein Netzwerk, keine Wohnung
Wie und wieso werden Menschen wohnungslos? Die Antwort ist gleichzeitig einfach und kompliziert. Kompliziert, weil es viele verschiedene Gründe gibt und individuelle Faktoren wie psychische Erkrankungen oder schwierige soziale und familiäre Bedingungen eine große Rolle spielen können. Einfach, weil die Gründe und die Reaktionen letztendlich fast immer sehr nachvollziehbar und menschlich sind. Oft steht am Anfang ein Auslöser, ein Unfall, eine Scheidung, ein Todesfall, der einem den Boden unter den Füßen wegzieht.
Einer dieser ausschlaggebenden Auslöser ist in vielen Fällen der Verlust der Arbeit, erklärt Oliver Ongaro, Streetworker bei der Düsseldorfer Straßenzeitschrift Fifty Fifty. Denn Jobverlust ziehe häufig einen Verlust des sozialen Umfelds nach sich und einen hohen wirtschaftlichen Druck. Nach und nach fehle das Geld für Fixkosten oder Neuanschaffungen erklärt er, dann führe häufig eins zum anderen: “Viele Betroffene verschulden sich und können dann irgendwann die Miete nicht mehr bezahlen. Es droht ihnen dann die Zwangsräumung und sie landen auf der Straße”.
Natürlich gibt es staatliche Unterstützungssysteme. Doch sie sind mit Bürokratie und Auflagen verbunden. Häufig hält auch Scham die Betroffenen davon ab, Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig weiß laut einer Umfrage des Straßenmagazins Hinz und Kunzt aus dem Jahr 2018 rund die Hälfte der wohnungslosen Menschen nicht, dass ihnen Bürgergeld zusteht und sie dieses auch ohne feste Adresse über Tagesstätten oder Beratungsstellen beziehen können.
Was bedeutet eigentlich “wohnungslos”?
Wohnungslos ist laut Definition der BAG-Wohnungslosenhilfe, “wer nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum (oder Wohneigentum) verfügt”. Dazu zählen 372.000 Menschen, die in Unterkünften freier sozialer oder kommunaler Träger untergebracht sind, ebenso wie Menschen, die in Unterkünften für geflüchtete Menschen leben, und diejenigen, die in Frauenhäusern, Notübernachtungen oder Heimen unterkommen. Von sogenannter “verdeckter Wohnungslosigkeit” sind zudem 49.300 Menschen betroffen, die vorübergehend oder längerfristig bei Verwandten, Freund:innen oder Bekannten unterkommen. Rund 37.400 Menschen lebten dem Wohnungslosenbericht 2022 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zufolge ohne jegliche Unterkunft auf der Straße, für diese letzte Gruppe wird auch der Begriff “obdachlose Menschen” verwendet. Gerade bei den letzten beiden Gruppen ist die Dunkelziffer vermutlich noch deutlich höher.
Glücklicherweise gibt es in Deutschland viele Organisationen und Projekte, die sich dem Kampf gegen Wohnungslosigkeit verschrieben haben. Dazu zählen beispielsweise Essensausgabestellen oder Tagestreffpunkte, bei denen es zusätzlich zur Essensausgabe Duschen oder Toiletten zur freien Benutzung gibt. In den letzten Jahren steigt auch die Zahl der Hotels, die wohnungslosen Menschen eine Unterkunft anbieten und neben der schon länger bestehenden Kältehilfe gibt es nach den Rekordtemperaturen der letzten Sommer immer mehr Angebote zur Hitzehilfe.
Was mir in der Recherche schnell klar wird: Nachhaltig sind Ansätze besonders dann, wenn sie die Eigenständigkeit wohnungsloser Menschen respektieren und ihnen die Gelegenheit geben, wieder mehr Selbstverantwortung zu übernehmen und eigenes Geld verdienen. Wie durch den Verkauf von Straßenzeitschriften, wie es sie inzwischen in fast jeder größeren Stadt Deutschlands gibt. 50 Prozent der Einnahmen gehen dabei direkt an die Verkäufer:innen.
Gleichzeitig klären die Inhalte der Zeitschriften über Wohnungslosigkeit und das Leben auf der Straße auf, indem sie die Betroffenen selbst zu Wort kommen lassen. Ähnlich funktionieren Stadtführungen, bei denen ehemals oder gegenwärtig wohungslose Menschen ihre Stadt aus ihrer ganz eigenen Sicht zeigen – die Notunterkünfte, Schlafplätze, Essensausgaben, aber auch ihre Lieblingsorte.
Vom Rand der Gesellschaft aufs Cover der Vogue
Indem die Betroffenen selbst zu Wort kommen, können sie dazu beitragen, teils hartnäckige Vorurteile in der Gesellschaft abzubauen – zum Beispiel, dass viele obdachlose Menschen selbst an ihrer Situation Schuld seien. Vor allem aber erinnert es uns, wenn wir ihre Geschichten und Träume hören, an eines: wohnungslose Menschen sind nicht aufgrund ihrer Wohnungslosigkeit “anders”. Sie sind Menschen wie du und ich.
Diese Botschaft sendet das Berliner Künstlerduo LuraArts mit seinem Projekt HomeLESSFashion auf eine Art, die unser Bild von wohnungslosen Menschen bewusst-provokativ auf den Kopf stellt. Denn sie zeigen uns wohnungslose Menschen auf dem Cover von Hochglanzmagazinen. Das klingt paradox, ist aber so durchdacht wie effektvoll. Denn es zeigt, wie sehr wohnungslose Menschen “unmittelbar Seite an Seite mit uns leben und dennoch an den Rand der Gesellschaft gerutscht sind”.
“Wir wollten wohnungslose Menschen anders abbilden, nicht diese stereotypischen Bilder reproduzieren, die sie mit Pappschild vorm Supermarkt zeigen”, erklären Ira und Luis, das Duo hinter LuraArts. Mit ihren Bildern wollen sie die Menschen, die sonst unsichtbar gemacht werden, vom Rand der Gesellschaft in ihr Zentrum rücken und ihnen die Gelegenheit geben, einmal im Mittelpunkt zu stehen. So werden sie nicht nur mit anderen Augen wahrgenommen, sondern können sich selbst ganz anders wahrnehmen. Dass der gewollte Kontrast zwischen Luxus und Wohnungslosigkeit in den Fotos erst auf den zweiten Blick erkennbar ist, macht ihn umso frappierender. Denn so müssen wir unsere Vorstellung von wohnungslosen Menschen fundamental überdenken.
Die Macht der (Zwischen)Menschlichkeit
Das wurde für Ira und Luis an einem besonders prägenden Moment deutlich – dem Moment, als sie Markus kennenlernten. Markus, der sie schüchtern nach einer Zigarette fragte, als sie durch die Straßen gingen und wohnungslose Menschen fragten, ob sie daran interessiert seien, gegen eine Aufwandsentschädigung an einem Kunstprojekt teilzunehmen. Markus, den sie gar nicht als wohnungslos eingeschätzt hatten. Und der Tränen in den Augen hat, als Luis ihm statt einer Zigarette eine ganze Schachtel schenkt, vor Dankbarkeit über diese Geste und die freundliche Aufmerksamkeit, die ihm entgegengebracht wird.
Markus wird zum Hauptprotagonist des Projekts, und noch zu viel mehr. Denn in den Tagen, die sie für die Shootings gemeinsam verbringen, entsteht eine Verbindung, die bis heute anhält. Seine Verwandlung beeindruckt Ira und Luis nachhaltig:
“Dieses Aufblühen einer Person zu verfolgen, dieses Glück und die Freude zu sehen, die entsteht, einfach weil man Menschen zuhört und weil man zusammen den Tag verbringt. Zu sehen, wie diese Zwischenmenschlichkeit, für uns etwas so Kleines, so viel ausmacht, wie das Selbstbewusstsein steigt, das ist einfach bezaubernd.” – Ira und Luis
Markus ist auch beim zweiten Projekt dabei. Denn als der Berliner Strassenfeger, auf das Projekt aufmerksam geworden, an Ira und Luis herantrat, wurde aus einem möglichen Artikel schnell eine größere Idee: ein eigenes Magazin im selben Stil. Die Räume des Strassenfeger-Cafés wurden zur Shooting-Location, teilnehmen konnten alle regelmäßigen Gäste, die Interesse hatten. So entstand die zweite Ausgabe der Home.LESS.fashion, diesmal als Weihnachtsedition, die neben den Magazin-Covern Texte zum Thema Wohnungslosigkeit in der Weihnachtszeit und den Geschichten der Cover-Models enthielt.
Eine einzelne Geschichte herauszugreifen, die sie besonders bewegt hat, ist für Luis und Ira dabei unmöglich. “Jeder hat seine Geschichte, jeder hat sein Schicksal und jeder hat seine eigenen besonderen Werte, die er oder sie auch noch in sich hat”, meint Ira. Darum gibt es für die beiden keinen Zweifel, was am Anfang stehen muss, damit wohnungslose Menschen bessere Unterstützung erfahren: Ein zwischenmenschlicher Austausch, in dem wohnungslosen Menschen kein Stempel aufgedrückt wird, in dem sie so sein dürfen, wie sie sind, und in dem ihre Geschichten und Probleme gehört werden. “Am Ende muss man einfach zuhören”, fasst Ira zusammen. “Du wirst bei jedem einzelnen Menschen was finden, was ganz besonders ist.”
Das zeigen auch ihre Fotos.
Was kann ich tun, um zu helfen?
Es muss nicht immer Geld sein, nicht einmal Essen oder warme Kleidung. Was wir alle tun können ist, wohnungslosen Menschen in die Augen zu schauen, sie anzulächeln, auf ihre Bitte zu antworten, und sei es mit einem “Tut mir Leid, nein”, kurz: ihnen Menschlichkeit und Respekt entgegenzubringen. Wer mehr tun will, fragt nach. Nach der Geschichte oder den Bedürfnissen – und akzeptiert auch, wenn angebotene Hilfe abgelehnt wird. Letztendlich gilt der Grundsatz, den Oliver Ongaro treffend formuliert: “Wir alle können durch Schicksalsschläge wohnungslos werden. Wie würden wir dann gern behandelt werden?”