Unterwegs mit Pfadfindern

das ist ein GNM+ ArtikelEin Abenteuer fürs Leben

von | 27. Oktober, 2023

von Mona Tarrey & Florian Gutnoff

Das ist ein Beitrag aus unserem vierten Printmagazin mit dem Thema „(Keine) Kinder“. Du willst diesen und weitere Beiträge sowie besondere Formate gedruckt lesen? Dann schau gerne mal bei unserem Abo vorbei – ganz aktuell sogar mit Geschenken: GNM+ Abo.

Keine Lust auf Abo? Dann kannst du unsere Magazine hier mit tiun als ePaper lesen.

Für alle Mitglieder:
Direkt zur PDF springen

Es sind 30 Grad, die Sonne knallt, der Schweiß rinnt und wir laufen eine Ski-Piste hoch. Um mich herum eine Horde Kinder mit grauen Hemden und blau-hellgrünen Tüchern um den Hals. Alle tragen einen Rucksack mit Schlafsack, Isomatte, Kochgeschirr, Klamotten und Wasser auf dem Rücken. Wir sind eine Pfadfinder:innen-Gruppe irgendwo in der Slowakei und beginnen unseren Hajk. 

Hajk – das bedeutet bei uns mehrere Tage unterwegs zu sein. Meistens zu Fuß, aber manchmal auch mit dem Fahrrad oder Kanu. Es geht darum, draußen zu sein, den Alltag hinter sich zu lassen, seine Grenzen kennenzulernen und gemeinsam als Gruppe das Abenteuer zu meistern.

Unser Ziel für den heutigen Tag ist der Lidl auf der anderen Seite des Berges. „Ich kann nicht mehr“, denke ich. „Ist es nicht schön?“, sage ich zu den Kindern. Sie schauen mich skeptisch an und schütteln den Kopf. „Kommt, nur noch bis zum nächsten Lift-Mast, da machen wir eine Pause.“ Meine Worte treiben sie den Berg hoch. Meine Worte treiben mich den Berg hoch. Die eben noch gespielte Motivation ist langsam wirklich da. Einige Müsliriegel, Pflaster, den Schwur nie, wieder einen Rucksack aufzusetzen, und ein ausgefallener Milchzahn später haben wir den Gipfel erreicht.

Kinder suchen Weg Florian Gutnoff
Kinder suchen den Weg (c) Florian Gutnoff

Die Gruppe – hier kann ich ich sein

Wir, das sind neun Kinder zwischen elf und zwölf Jahren, sowie drei Gruppenleitungen. Normalerweise treffen sich die Kinder einmal in der Woche für 90 Minuten in einer festen Gruppe von sechs bis acht Personen. Hier kann man sich ausprobieren, sich seiner Werte bewusst werden und über sich hinauswachsen. Hier kann ich ich sein. 

Die letzten Wochen haben die Kinder sich auf ihren ersten Hajk vorbereitet. Sie wissen nun, wie man Feuer macht, mit einem Gaskocher umgeht, aus Planen ein Zelt baut, wie man Erste Hilfe leistet und vieles mehr. In der vorletzten Sommerferienwoche ging es dann mit mehreren Gruppen gemeinsam in die Slowakei. Die beiden jüngsten Gruppen gehen zusammen auf Hajk. Sie kennen sich gut. Stolz bringen sie immer wieder ihr erlerntes Wissen ein.

Das schwerste Stück des Tages ist geschafft. Ab jetzt geht es nur noch bergab. Leider rutscht Jakob plötzlich aus und schürft sich das Knie auf. Sofort packt Toni die Erste-Hilfe-Tasche aus. Die Kinder diskutieren, was zu tun ist, und entscheiden schließlich, ein Pflaster auf die Wunde zu kleben. Weiter geht’s. 

Bei uns gilt das Prinzip „Jugend leitet Jugend“

Mit jedem Meter steigt die Stimmung. Die Kinder philosophieren über eine Filmidee: „Die schrecklichsten Wege zu Lidl“. Bevor tatsächlich eine Kamera ausgepackt wird, sind wir da. Wir kaufen Essen für die nächsten drei Tage. Die Kinder dürfen selbst entscheiden, was gekauft wird. Wir Gruppenleitungen beraten wohlwollend, immerhin soll niemand hungern.

Ganz sicher, wie viel Essen eigentlich gebraucht wird, sind wir uns selbst nicht. Denn wir sind gar nicht so alt und erfahren, wie man vielleicht denkt. Bei uns gilt das Prinzip „Jugend leitet Jugend“. Paul, der jüngste Leiter, ist 16 Jahre alt.  Er hat die Route geplant, die Kinder vorbereitet, Einkaufs- und Wassermöglichkeiten rausgesucht. Aus eigener Erfahrung wissen wir, am Ende passt es irgendwie. Es wird geteilt. Alle werden satt. 

Vor dem Lidl wird das Essen auf die Rucksäcke verteilt und wir machen uns auf die Suche nach einem Ort für die Nacht. Jeden Abend gehen wir von Haus zu Haus und fragen, ob jemand einen Schlafplatz für uns hat. Am ersten Abend bauen wir unser Lager in einem Garten. Am zweiten Abend ist es ein Schlosspark. Und am dritten Abend ein verlassenes Kino. 

Pfadfinden – eine der größten Friedensbewegungen der Welt

Die Zeit vergeht wie im Flug. Wir treffen Menschen, die uns ihre Geschichte erzählen, uns etwas Gutes tun wollen, sich fragen, wer wir eigentlich sind. Eine ältere Dame namens Frau Beck sagt, dass es für sie wie Weihnachten war, als wir an ihrer Tür klingelten, um nach einem Schlafplatz zu fragen. Wir hatten eine gute Zeit in ihrem Garten. Umso schöner, dass sie auch eine gute Zeit mit uns hatte. Denn als Pfadfinder:innen versuchen wir, die Welt ein bisschen besser zu hinterlassen, als wir sie vorgefunden haben. 

Weltweit gibt es über 40 Millionen Pfadfinder:innen, die sich in verschiedenen Verbänden organisieren und in mehr als 216 Ländern aktiv sind. Die Idee entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Großbritannien. Parallel dazu entwickelte sich in Deutschland die Jugendbewegung. Sie prägt bis heute unsere Kultur. Unsere Zelte, unsere Lieder und der ausgeprägte Freiheitsgedanke haben hier ihren Ursprung. Es geht vor allem darum, Verantwortung zu übernehmen. Für sich selbst. Für die Mitmenschen. Für die Natur. 

Unsere Gruppe gehört zum Verband Christlicher Pfadfinder*innen (VCP). Als Teil der Evangelischen Jugend Deutschland sind wir protestantisch geprägt. Häufig sind die einzelnen Ortsgruppen an Gemeinden angebunden, nutzen die Räumlichkeiten, bringen sich in das Gemeindeleben ein und stellen nicht selten eine wichtige Säule der Jugendarbeit. Für die Mitgliedschaft spielt dies jedoch keine Rolle. Wir sind 20.000 Menschen mit unterschiedlicher Konfession und Herkunft. Alle mit ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Art, ihren eigenen Stärken.

Eines Morgens lädt uns ein slowakisches Ehepaar vor einer Bäckerei ein, mit ihnen zu frühstücken. Wir essen slowakischen Mohnzopf und trinken Tee. Sie erzählen, dass in dem Ort, in dem sie wohnen, die Pfadfinder:innen zu Weihnachten immer ein Licht verteilen, welches in der Geburtsgrotte Jesu in Bethlehem entzündet wird. Eines unserer Kinder zupft sofort an seinem Hemd herum und zeigt auf einen blauen Aufnäher. Er hat die Form einer Kerze und trägt den Schriftzug „Friedenslicht aus Bethlehem“. Wir erzählen, dass wir dieses Licht ebenfalls abholen und verteilen. Eine Tradition, die in Österreich begann und mittlerweile fast auf der ganzen Welt gelebt wird. Nicht nur unsere Gesprächspartner sind begeistert. Ich habe das Gefühl, diese neun Kinder verstehen gerade, was es bedeutet, Teil einer weltweiten Bewegung zu sein. Schließlich verabschieden wir uns und starten in den Tag. 

Ukulele Caroline Winnicker
Ukulele-Zeit (c) Caroline Winnicker

Ein “Nein, das geht nicht” wird nur selten akzeptiert 

Die Stimmung auf der Wanderung schwankt. Zwischen umhertollenden Elfjährigen, denen es gar nicht schnell genug vorangehen kann, und einer Gruppe klagender Schützlinge, die ankündigt, in den Streik zu treten, liegt manchmal nur ein kleiner Hügel. Ich merke, wie viel Energie ich in die Kinder stecke. Aber ich merke auch, wie mir genau diese Kinder sehr viel Energie geben. Alleine hätte ich vor dem ersten Gipfel aufgegeben. 

Doch gemeinsam schaffen wir alles. Drei Tage später laufen wir die Skipiste wieder hinunter. Der Weg, für den wir letztes Mal mehr als zwei Stunden gebraucht haben, dauert nur noch 20 Minuten. Die Kinder probieren, ob die Rucksäcke alleine den Berg hinunterrollen können. Können sie. Unten angekommen blicke ich in neun stolze Gesichter, die erklären: „Wandern mit unseren Eltern macht nie so viel Spaß!“

Und was nehmen die Kinder und Jugendlichen aus dieser Zeit mit? Was qualifiziert die späteren Gruppenleitungen im Alltag? Teamführung, Entscheidungsfähigkeit und Projektkoordination sind nur einige der Softskills, die während der ehrenamtlichen Arbeit und der Zeit in der Gruppe beinahe nebenbei vermittelt werden. Ein „Nein, das geht nicht” wird nur selten akzeptiert. Vielmehr spornt es uns an, die passende Lösung zu finden. Wir brennen dafür, neue Dinge auszuprobieren und kreative Wege zu gehen, um ans Ziel zu kommen. Für viele ist Pfadfinden nicht nur ein Hobby, sondern eine Lebenseinstellung, die nicht mit der Zeit in der Gruppe endet. Ein Abenteuer fürs Leben eben.

Florian Gutnoff kommt aus einer Ortsgruppe in Goslar und engagiert sich als Fotograf im Bundesverband des VCPs. Außerdem ist er Verleger eines der bekanntesten Liederbücher der Bewegung. Den Artikel schreibt er aus Südkorea, wo er gemeinsam mit 43.000 Menschen aus aller Welt am Weltpfadfinder:innentreffen teilnimmt.

Mona Tarrey hat ihre Pfadi-Heimat in einer Ortsgruppe in Gadenstedt bei Peine und leitet mittlerweile eine Gruppe in Berlin Kreuzberg. Sie ist ebenfalls als Fotografin für den VCP aktiv und war eine der drei Gruppenleitungen auf dem Hajk in der Slowakei.

Artikel aus dem Printmagazin als PDF ansehen:

Print4-Pfadfinder

Unterstütze die Arbeit von Gastbeitrag und anderen Autor:innen mit einem GNM+ Abo!

Deine Vorteile:

  • Gut recherchierte positive Nachrichten
  • Nachhaltig gedruckt oder digital
  • Dramafrei und lösungsorientiert

GNM+

Gastbeitrag

Dieser Artikel wurde von einer externen Person geschrieben.

Good-Newsletter: Melde dich hier gratis an für die Good News der Woche in deinem E-Mail-Postfach.

Diese Good News könnten dich auch interessieren