Worte für Emotionen, Widerstand und Aktivismus

das ist ein GNM+ ArtikelEine Theaterbühne für die Menschlichkeit

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von | 25. September, 2023

Michael Ruf gibt abstrakten Themen ein menschliches Gesicht und schafft eine Bühne für diejenigen, deren Geschichten sonst nicht gehört werden.

Das ist ein Beitrag aus unserem vierten Printmagazin mit dem Thema „(Keine) Kinder“. Diesen und weitere exklusive Beiträge gibt’s im GNM+ Abo

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Ich sitze im Heimathafen Neukölln, wo heute die Klima-Monologe aufgeführt werden. Auf der Bühne stehen vier Personen, das Gesicht zum Publikum gewandt. Eine der Frauen erhebt ihre Stimme, nach und nach greifen die anderen Darsteller:innen den Faden auf. Sie nehmen mich mit in ihre ganz persönlichen Geschichten, erzählen von ihrer Kindheit, ihren Interessen und ihren Beziehungen, kurz: ihrem Leben. Und davon, wie die Auswirkungen der Klimakrise dieses Leben auf den Kopf stellen.

Alle diese Geschichten sind wahr. Ihre Erzähler:innen stammen aus den verschiedensten Regionen der Erde: Kenia, USA, Bangladesch und Pakistan. Ihre Geschichten sind grundverschieden und doch ähnlich. Sie handeln von Trauer und Verlust, aber auch von Widerstand. Sie sind mitreißend, berührend, machen betroffen. Als am Ende des Stücks das Licht wieder angeht, habe ich Tränen in den Augen. Und ich bin nicht die Einzige.

Wort und Herzschlag

Die Klima-Monologe sind das neueste Stück von Autor und Regisseur Michael Ruf. Er hat mit seiner Organisation Wort und Herzschlag bereits die NSU-Monologe, die Asyl-Monologe und Asyl-Dialoge sowie die Mittelmeer-Monologe auf die deutschen Bühnen gebracht. Ab September werden die Klima– und die Mittelmeer-Monologe wieder im Berliner Heimathafen Neukölln und in Städten in ganz Deutschland aufgeführt.

Die Inspiration für seine Stücke und ihre Form der Inszenierung, so erklärt mir Michael Ruf, erhielt er während seines Studiums in London. Dort lernte er Christine Bacon kennen, die Gründerin von Actors for Human Rights. Das Netzwerk aus über 700 Künstler:innen inszeniert im ganzen Vereinigten Königreich Stücke, in denen Menschen mit Erfahrungen von Flucht, Migration oder Armut von ihrem Leben berichten. 

“Warum sollte das hierzulande nicht ähnlich funktionieren können?”, fragte sich Ruf und gründete Wort und Herzschlag. Das Netzwerk umfasst inzwischen mehrere hundert Musiker:innen und Schauspieler:innen bundesweit. So können die Stücke an Orten in ganz Deutschland von dort ansässigen Künstler:innen aufgeführt werden. 

Theater, dokumentarisch und menschlich

Und das Konzept funktioniert. Vielleicht wegen der Themen, die Ruf in seinen Stücken behandelt – Themen, die häufig zwar viel diskutiert, aber trotzdem “verkürzt oder verzerrt dargestellt werden”. So wie bei seinem ersten Stück, den Asyl-Monologen, die 2011 erstaufgeführt wurden. Noch heute sei vielen Menschen unbekannt, was Menschen hierzulande in Asylheimen erleben, so Ruf. Für viele der Zuschauer:innen seien die Berichte der Betroffenen in den Asyl-Monologen ein “Aha-Erlebnis” gewesen.

Doch es sind nicht nur die Themen selbst, die einen starken Eindruck hinterlassen, sondern die Art ihrer Inszenierung. Michael Ruf macht dokumentarisches Theater, er beschreibt es auch als “wortgetreues Theater, wortwörtliches Theater”. Was das bedeutet, erklärt er mir so: “Ich führe Interviews mit Menschen. Diese Interviews sind sehr ausführlich, dann verdichte ich ganz stark. Es wird nichts hinzuerfunden, auch die sprachliche Ausdrucksweise dieser Personen wird beibehalten und dann erzählen Profischauspieler:innen diese Geschichten mit den Worten, die mir anvertraut wurden.”

Diese Worte richten die Schauspieler:innen von der Bühne direkt ins Publikum. Sie machen es damit beinahe unmöglich, sich den Erzählungen zu entziehen, den gelebten Erfahrungen vom Leben mit den Auswirkungen der Klimakrise, den Hürden im deutschen Asylsystem oder der gefährlichen Flucht über das Mittelmeer. Die Zuschauenden haben so nicht nur teil an diesen Erfahrungen, sondern den Eindruck, die Menschen hinter den Geschichten kennenzulernen. 

“Mir ist bei all meinen Werken besonders wichtig, dass ich die Personen in den Interviews und auch in der Darstellung auf der Bühne nicht auf eine bestimmte Funktion reduziere. Dass sie nicht nur Funktionsträger von irgendeinem Thema sind, sondern dass wir als Zuschauende diese Person wirklich als Menschen erkennen.” – Michael Ruf

Intensiviert wird das Gesagte an manchen Stellen von den Klängen von Streichern und Klavier, die mit den Schauspieler:innen auf der sonst leeren Bühne stehen. Die bewusst “sehr puristische, aufs Wesentliche reduzierte Inszenierung” erlaubt es den Geschichten, für sich zu stehen und ihre volle Wirkung zu entfalten.

“Es geht darum, Geschichten von Menschen zu erzählen. Diesen Themen, die oft so abstrakt wirken, ein menschliches Gesicht zu geben und sie so verständlich und greifbar zu machen.” – Michael Ruf

Von der Idee auf die Bühne

Wie genau aber findet Ruf die Leute, deren Geschichten wir später auf der Bühne hören? “Das ist ein Prozess, der viel Geduld erfordert”, nickt er auf meine Nachfrage. Nach der ersten Idee für ein Stück stünden Gespräche mit Aktivist:innen und Expert:innen, von da an sei es “ein ständiges Sich-Durchfragen, ein ständiges Netzwerken von Organisation zu Organisation” bis hin zu mehreren potenziellen Interviewpartner:innen.

Nach dem ersten Kennenlernen muss dann entschieden werden, welche Personen für weitere Gespräche und die Umsetzung auf der Bühne infrage kommen. Eine schwierige Entscheidung, so Ruf, denn “im Grunde sind alle Geschichten erzählenswert”. Umso wichtiger sei es, sich die Zeit zu nehmen, um herauszufinden, „welche Geschichten auf einer Theaterbühne in so einer Art und Weise funktionieren, dass es viele Leute berührt – und die dazu führt, dass die Leute sich im besten Fall in irgendeiner Form ändern.”

Bei den Klima-Monologen lenkt zudem jede persönliche Erzählung den Blick auf eine verheerende Konsequenz der Klimakrise in einer bestimmten, besonders betroffenen Region: Da ist die Geschichte der Viehhirtin aus Kenia, die fast ihre gesamte Herde an die immer schlimmeren Dürren verliert. Die Geschichte der Krankenschwester aus Kalifornien, deren Krankenhaus von Waldbränden eingekesselt wird. Die Geschichte des jungen Mannes aus Pakistan, dessen Dorf von einem Gletscherausbruch fortgerissen wird. Und die Geschichte der Reisbäuerin aus Bangladesch, die ihre Ernte und schließlich sogar einen Teil ihrer Familie an die wiederkehrenden Überflutungskatastrophen verliert. 

Dem Widerständigen eine Stimme geben

Angesichts solcher Geschichten kann es schwierig sein, nicht mutlos zu werden. Doch es geht auch nicht darum, die Situation zu beschönigen, sondern gerade darum, den Finger in die Wunde zu legen. Ruf möchte keinen “billigen Zweckoptimismus” verbreiten, er will, “dass Menschen verstehen, wie dringlich diese Klimakrise ist und nicht erst morgen, übermorgen, sondern heute. Dass Leute hierzulande wirklich fühlen können, wie es Leuten heute schon geht aufgrund einer Krise, die sie nicht selbst verursacht haben.”

Gleichzeitig will er “eine reine Opfererzählung” vermeiden. Er sucht deshalb nach Geschichten der Resilienz, “nach Widerständigem, nach Leuten, die sich aktivistisch zu wehren suchen”. Diesen Menschen will er die Möglichkeit geben, ihre Erlebnisse zu verbreiten, in ihren eigenen Worten. 

Allein das Interesse an ihren Erfahrungen sei für die meisten seiner Interviewpartner:innen bereits bemerkenswert, so Ruf. Natürlich habe er den Wunsch, konkreter zu helfen. Auch darum werden am Ende mancher Vorführungen Spenden gesammelt. Sein Ziel sei aber vor allem, “dass diese Geschichten verbreitet werden, dass sich langfristig auch hierzulande etwas im Bewusstsein der Leute ändert.”

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Bild: Nora Boerding

Empowerment betreiben, statt Menschen zu bekehren

Aber, hake ich nach, ist eine solche Bewusstseinsänderung mit Stücken wie denen von Wort und Herzschlag möglich – oder werden im Zweifel nur die Leute angesprochen, die sich sowieso schon für das Thema interessieren? Michael Ruf nickt, er kennt die Frage, sie wird ihm oft gestellt. Dabei sei es eigentlich die falsche Frage, meint er. Denn es ginge nicht darum, Menschen zu bekehren, sondern diejenigen zu erreichen, die den Themen Klima, Flucht oder Asyl grundsätzlich offen gegenüberstehen, aber noch nicht handeln. 

Zitat: “Die richtige Frage ist: Wieso ist es wichtig, Empowerment zu betreiben, und für wen?”

Darum finden im Anschluss an die Aufführungen fast immer Publikumsgespräche statt, bei denen Aktivist:innen Fragen aus dem Publikum beantworten. Sie verweisen an Organisationen, Proteste, Wege der Unterstützung im Kleinen und Großen, wenn – was fast immer der Fall ist – die Frage gestellt wird, was der oder die Einzelne tun kann. 

“Leute in irgendeiner Form zu aktivieren, entweder das eigene Verhalten zu ändern oder sich im besten Fall politisch zu engagieren, um der Klimakrise oder dem Sterben auf dem Mittelmeer etwas entgegenzusetzen”, war von Anfang an Teil der Idee, so Ruf. Er wurde schon Jahre nach einer Aufführung von Menschen angesprochen, die ihm sagten: “Das hat etwas mit meiner Biografie gemacht.” Gleichzeitig sollen seine Stücke Bestärkung für alle engagierten Menschen sein, ihren Aktivismus weiterzuführen.

Und in Zukunft?

Apropos weiterführen: Über 1000 Mal hat Michael Ruf seine Stücke inzwischen bereits auf die deutschen Bühnen gebracht. Das sind rund 100 Aufführungen pro Jahr, umgesetzt von verschiedenen Ensembles in ganz Deutschland. Übertitelungen sind dabei übrigens fester Teil der Stücke, in Arabisch, Französisch und Englisch. Wenn es nach Michael Ruf geht, bleibt es nicht dabei. Langfristig, so seine Vision, soll das Projekt internationalisiert und auf Bühnen verschiedenster Länder gebracht werden.

Zunächst aber geht es im Herbst in Deutschland weiter. Den Auftakt machen am 2. September die Klima-Monologe beim Träum weiter Festival in Oranienburg. Ab da gibt es regelmäßige Aufführungen der Klima– und Mittelmeer-Monologe in Berlin, aber auch im Raum Bremen, in Hamburg, Dortmund und vielen weiteren deutschen Städten.  

Ein letztes Wort von mir: Wenn ihr die Chance habt, eine Aufführung zu sehen, lasst sie euch nicht entgehen. Denn diese Inszenierungen rühren ans Herz. Sie machen betroffen, vielleicht sogar wütend, in jedem Fall aber lassen sie nicht kalt. Damit schaffen sie genau das, was in der Debatte so oft fehlt: Menschlichkeit. 

Termine für Vorstellungen und mehr Informationen findet ihr unter: www.wort-und-herzschlag.de

Artikel anhören:

Beitragsbild: Verena Eidel

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    Luisa Vogt

    Luisa Vogt ist stellvertretende Print-Chefredakteurin beim Good News Magazin und liebt Sprachen, Reisen und das kennenlernen verschiedenster Kulturen. Beim Good News Magazin lebt sie ihre Leidenschaft für Sprache und für spannende, schöne Berichte aus aller Welt - weil die Welt viel mehr realistischen Idealismus braucht. Außerdem studiert sie nach ihrem Bachelor in Englisch und Französisch inzwischen im Master Asien- und Afrikastudien in Berlin und arbeitet als Lerntherapeutin.

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