Mann, ist das kompliziert?

das ist ein GNM+ ArtikelNachkommende Jungs-Generationen brauchen positive Vorbilder

von | 12. November, 2023

Für Männer ist Mann-sein komplizierter geworden, weil sie gleichzeitig stark UND sensibel, ruhig UND kommunikativ, rational UND empathisch sein müssen. Doch die gute Nachricht lautet, diese Zeit der Uneindeutigkeit ist auch eine enorme Chance, positive Vorbilder zu benennen und Männlichkeit neu zu definieren, meint Florian Vitello, Co-Gründer des Good News Magazin, und hat auch gleich die Community gefragt, wer ihre Vorbilder für eine neue Männlichkeit sind.

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„Sag mal, warum rasieren sich so viele Frauen heute die Haare kurz?“, fragt mich Jonas. Wir sitzen bei Sonnenschein im Görlitzer Park in Berlin und philosophieren seit Stunden über das Leben. Die Frage kommt wortwörtlich aus heiterem Himmel und sie gehört in die beliebte Kategorie von Fragen, die mir meine heterosexuellen Freunde unter vier Augen stellen, weil sie die meisten Frauen so etwas nicht fragen wollen und weil sie denken, dass ich als Mann, der Männer liebt, regelmäßig geheime Briefings zu aktuellen Entwicklungen vom anderen Geschlecht erhielte. 

Toxische Männlichkeit, ein Gesellschaftsgift

Ich atme tief ein und wieder aus, denn ich muss mir Zeit zum Nachdenken verschaffen. „Ich verstehe das nicht, warum würde eine Frau freiwillig ein Stück ihrer Femininität abgeben?“, legt Jonas nach. Im selben Moment fährt eine junge Frau mit langem blondem Haar, in das sie Blumen eingeflochten hat, auf einem Leihrad vorbei. Zwei groß gewachsene Männer stellen sich ihr in den Weg, sie muss leicht ausweichen. „Hey Süße, halt doch mal kurz an, wir wollen dir was zeigen“, rufen sie ihr hinterher und pfeifen. 

Neben modischen und einer Vielzahl anderen Gründen haben mir Freundinnen von ihrer Motivation berichtet, androgyner oder weniger offensichtlich feminin auftreten zu wollen – sie haben beinahe alle mit toxischer Männlichkeit zu tun. Ob es um Hackordnungen auf der Arbeit oder um sexuelle Belästigung im Alltag geht. 

Toxische Maskulinität, das ist jungen, gebildeten Männern ein Begriff heutzutage. Sie verbinden damit meist aggressives, emotionsloses, starres Verhalten, das allen Beteiligten schadet, nicht zuletzt den Männern selbst. Das Konzept macht aber nicht bei den Jungen halt, die Generation unserer Väter und Großväter bekommen ebenfalls zu spüren, dass sich die Verhaltensregeln der Gesellschaft ändern. Auch Jonas und ich wissen ziemlich genau, welche traditionell mit Männlichkeit verknüpften Verhaltensmuster heute als verpönt gelten. Und das ist auch gut so. 

Mann – ist das kompliziert!

Gleichzeitig wissen wir aber genauso, dass es weder ausreicht noch praktikabel ist, alle als typisch männlich gelesenen Verhaltensmuster abzulegen oder gar ins Gegenteil zu verkehren. „Überlagerung von Männlichkeitsanforderungen“ nennen Experten wie Markus Theunert das Phänomen. Der Psychologe und Gründungspräsident des Dachverbands Schweizer Männer- und Väterorganisationen meint damit, dass es kompliziert geworden ist, Mann zu sein, weil alte Performer-Ideale wie „Echte Männer weinen nicht“ und neue Anforderungen emotionaler Kompetenz wie „Echte Männer weinen“ gleichzeitig gelten. 

Der Görlitzer Park ist wie ein Brennglas für diese Widersprüchlichkeit der Männlichkeitsbilder: Ein Mann mit langem Pferdeschwanz macht oberkörperfrei Pilates mit Ring; ein zwei Meter großer, blonder Papa in Birkenstocksandalen trägt sein Baby in der Manduca; eine Gruppe Latinos tanzt Salsa; vier Freunde mit Galatasaray-Trikot spielen Fußball; ein junger und ein älterer Mann liegen knutschend auf einem Handtuch; eine Gruppe Studenten mit lackierten Fingernägeln grillt Bauchspeck und säuft um die Wette; an der Ecke gibt es Stress zwischen zwei Drogendealern, weil der eine vermeintlich die Freundin des anderen zu lange angeschaut hat.

Das Potenzial der Uneindeutigkeit

Auch wenn einige Männer sich damit sichtlich schwertun – das Schöne an der vorherrschenden Uneindeutigkeit ist das Potenzial des Umbruchs. Wir leben in einer Zeit, in der wir als Gesellschaft zunehmend reflektieren, dass es zwar Männlichkeitsnormen gibt, diese aber weder gottgegeben noch unumstößlich sind. Wer das einmal verstanden hat, macht sich frei, eigenmächtig zu entscheiden, wie er Mann sein will. Die Möglichkeit steht im Raum, zukünftig eine eigene männliche Identität aufzubauen, in der persönliche Stärken ausgelebt werden können, ohne dabei schädliche Muster der Vergangenheit zu wiederholen.

Damit das gelingen kann – insbesondere bei Jungs und jungen Männern –, braucht es allerdings einige gesellschaftliche Grundvoraussetzungen: 

Inspiration und Grundlage für die Grundvoraussetzungen sind die Forderungen und Einschätzungen der Autoren Markus Theunert „Jungs, wir schaffen das“, Sebastian Tippe „Toxische Männlichkeit“ und Boris Halva „Manns_bilder“

  • Authentizität anerkennen: Eine Gesellschaft, die junge Männer ermutigt, sich selbst zu entdecken und ihre Emotionen und Interessen ohne Angst vor Stigmatisierung auszudrücken, schafft Räume für persönliche Entwicklung und Resilienz. Dafür müssen Offenheit und Ehrlichkeit zu Tugenden werden, die Wertschätzung erfahren.
  • Emotionale Intelligenz fördern: Jungen Männern beizubringen, wie sie ihre eigenen Gefühle erkennen und mit Empathie auf die Gefühle anderer reagieren können, stärkt ihre zwischenmenschlichen Beziehungen und ihre Fähigkeit, Konflikte auf gesunde Weise zu bewältigen. Außerdem hilft es dabei, eine Ambiguitätstoleranz aufzubauen, mit der schon Jungs im frühesten Alter gelassener mit Uneindeutigkeiten umgehen lernen. 
  • Stärken und Leidenschaften fördern: Junge Männer sollten ermutigt werden, ihre individuellen Stärken und Leidenschaften zu erkunden und zu entwickeln. Hierbei muss völlig egal sein, ob es sich um Sport, Kunst, Wissenschaft oder soziales Engagement handelt – das Verfolgen ihrer Interessen wird sie nicht nur selbstbewusster machen, sondern auch dazu beitragen, ihre Gemeinschaften positiv zu beeinflussen. Das muss für die Billy Elliots dieser Welt ebenso gelten wie für die Cristiano Ronaldos unserer Zeit.
  • Offene Dialoge und Unterstützung: Menschen müssen miteinander reden. Offene Diskussionen über Männlichkeit und Geschlechterrollen sind der Schlüssel. Familien, Bildungseinrichtungen oder Vereine beispielsweise können dazu beitragen, diese wichtigen Gespräche zu fördern und jungen Männern die Unterstützung zu bieten, die sie auf ihrem Weg benötigen.
  • Vielfältige männliche Vorbilder: Last but not least, der vielleicht wichtigste Faktor: Vorbilder! Nichts prägt und inspiriert so sehr wie uns wiedererkennen zu können in den Protagonisten unserer Bücher, Games und Filme. Während einerseits hypermaskuline Zerrbilder noch immer populär sind und Heerscharen junger Männer in die Fänge eines Andrew Tates locken, nimmt andererseits die Popularität von Antihelden und Normalos wie Otis aus Sex Education explosionsartig zu. Und auch im Alltag können wir auf eine Vielzahl von männlichen Vorbildern aus der Geschichte, Kunst oder Wissenschaft verweisen, die ihre Sensibilität nutzen, um tiefe Emotionen auszudrücken, oder die durch ihre Neugier die Welt verändern. Authentische Vorbilder zeigen, dass wahre Stärke darin liegt, man selbst zu sein, ohne sich in enge Klischees zwängen zu lassen.

Darum habe ich mich umgehört und viele verschiedene junge und ältere Männer aus Deutschland gefragt, wer ihre Vorbilder waren oder sind. Die Antworten stehen für sich:

„Mein Vater und mein Opa sind einfach meine größten Idole. Alles, was die beiden machen, machen sie mit Liebe. Mein Onkel ist auch so, den interessiert es null, was andere über ihn denken, trinkt kein Bier, schaut keinen Fußball und lebt sein Leben.”

„Vor Andrew Porfitz habe ich Respekt. Seine Rolle Ben in Almost Fly, wo er einen schwarzen Deutsch-Amerikaner in den 90ern spielt, war Key für mich.” 

„Der erste Name, der mir eingefallen ist, ist gerade aufgrund des Skandals im spanischen Fußballverband in den Medien, Héctor Bellerín. Für mich symbolisiert er genau diese Werte, in dem er seine Stellung und Privilegien in einem extrem patriarchalischen Teil der Gesellschaft riskiert und gegen den Strom schwimmt, um anderen Leuten zu helfen.”

„Phil Dunphy von Modern Family ist einfach der lustigste, nerdigste und liebenswerteste Vater, Ehemann und Schwiegersohn. Der Mann hat keine Angst zu weinen – jeder Mann sollte ein bisschen so sein wie Phil.” 

„Ryan Gosling, er ist einfach nur Ken und das reicht!“

„Peter Lustig, weil er ein Tüftler war und ein Aussteiger.”

„Mein Lateinlehrer war unendlich fürsorglich, liebevoll und weise, so wollte ich auch immer sein; mein Englischlehrer war enorm gebildet, streng, aber fair und hat uns immer gleichzeitig gefördert und gefordert. Auch das imponiert mir bis heute.”

„Ich hatte nur toxische Männer um mich rum. Darum habe ich selbst definiert, was für ein Mann ich sein will.”

“Gaz Oakley ist jemand, zu dem ich sehr aufblicke. Das ist ein veganer Koch, der auf YouTube sehr präsent ist und seinen Lebensweg möglichst im Einklang mit der Natur gestaltet.”

„Barack Obama. Er vereint die modernen Werte und ist zielgerichtet wie die traditionelle Männlichkeit, aber zeugt auch von Sensibilität.”

„Figuren wie Severus Snape oder Prinz Zuko aus Avatar haben mir Bestätigung gegeben, dass Helden nicht immer beliebte, überglückliche Typen sein müssen, die überall im Mittelpunkt stehen.“

„Moritz Neumeier ist der Hammer! Der Mann geht mit nem Rock, Nagellack und pinkem Mikro auf die Bühne und spricht das nicht mal an. Dann erzählt er einfach über seine Depressionen und Wutanfälle und wie er Therapie macht. Er schraubt seine Karriere für die Kids zurück, weil seine Frau vorher dasselbe gemacht hat. Der legt sich mit Nazis an, wird von Linken auf ein Podest gehoben, spielt kurz mit, hackt das Podest dann in 1000 Stücke und verkündet öffentlich: ‚Das war dumm, hört nicht auf mich, ich weiß das doch auch nicht.‘ – Die Eier muss man erst mal haben!“

„Vicco von Bülow aka Loriot hat schon früh alle Normen gesprengt, das war mir immer eine Inspiration.” 

„Große Menschenrechtler und Widerstandskämpfer wie Nelson Mandela, Abdul Sattar Edhi, Ài Wèiwèi, Mahatma Ghandi, Martin Luther King Jr. oder Desmond Tutu.” 

„Tom Hiddleston: Krank talentiert, enorm gebildet, charmant, lässig und ich liebe seine Rolle als ewigen Antihelden Loki.”

„Das meiste habe ich mir von starken Frauen abgeschaut, die übel klug und tough sind, dabei aber immer auch an andere denken.” 

„Ich liebe Rap und Hip-Hop, aber das Männerbild da macht mich oft fertig. Darum liebe ich Künstler wie Casper, Sammy Deluxe, Alligatoah oder Jan Delay in Deutschland und Childish Gambino, Chance the Rapper oder Lil Nas X in den USA, weil sie krasse Texte schreiben und dabei sich selbst treu bleiben (Lil Nas X macht sogar offen queere Videos!), aber ohne dabei nach unten zu treten.” 

„Ein Spruch von Benjamin Franklin hat mein Verhalten geprägt: ‚Ein wahrhaft großer Mann wird weder einen Wurm zertreten, noch vor einem Kaiser kriechen‘.”

„Dudes wie Jan Böhmermann, Claus von Wagner, Thommy Schmidt und vor allem El Hotzo sind Goals.”

„Herr Kalkofe und Herr Welke haben schon mit ihrer Synchro von Little Britain damals bewiesen, dass sie keine Angst haben, als alte weiße Männer (wie ich auch einer bin) mit allen Tabus zu brechen und Klischees gnadenlos durch den Kakao zu ziehen.” 

„Ich feiere Typen wie Robert Habeck, Kevin Kühnert oder Gregor Gysi, weil sie Fehler zugeben können, Schwächen zeigen, ihre Entscheidungen erklären und in der Politik das Gegenmodell sind zu Typen wie Friedrich Merz, Scholz, Schröder, Putin, Berlusconi oder wie sie alle heißen.”

„Mehr Männer sollten Justin Baldoni kennen.”

„In meiner Jugend hatte ich keine positive männliche Identifikationsfigur, was zu einigen Problemen geführt hat. Die ersten Vorbilder waren dann eher abstrakt, wenn auch bis heute relevant, die Stoiker wie Marcus Aurelius oder Seneca. Später wurde es dann mein erster Chef im Hiwi-Job. Ein Mann, der dem klassischen traditionellen Bild von Männlichkeit komplett widersprach, etwas eigen und nicht so gesellschaftstauglich war und mich doch unterstütze und mir beibrachte, mich selbst zu akzeptieren und an mir zu arbeiten.”

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Florian Vitello

Florian Vitello ist Co-Gründer des Good News Magazin. Vor dem GNM beriet er internationale Non-Profits zu PR und Digitalisierung. Er studierte in Hamburg, Montevideo und Newcastle upon Tyne Anthropologie, Lateinamerika-Studien und Journalismus. Florian ist Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins MediaMundo, Autor des Buches "Good News" bei Komplett-Media und arbeitet für WDR 5 und die Lokalzeit.

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