Immer wieder wird geschrieben, wir lebten in einer besonderen Zeit, die Bedrohungen seien größer denn je und die Welt stünde am Abgrund. Dabei muss man sich nur ein paar alte YouTube-Clips anschauen, um zu erkennen, wie ähnlich die Situation damals war. Und ein Clip von der Fußball-Europameisterschaft im Jahr 2000 zeigt, dass der Weg vom Abgrund zum nächsten Höhepunkt sehr kurz sein kann.
Bist du auch der Meinung, dass alles bergab geht? Dass die politische Lage so schlecht und so bedrohlich ist wie selten zuvor? Du wärst damit auf jeden Fall nicht allein. Das Großkrisengefühl hat sich aus den Medien über die sozialen Netzwerke längst in der Bevölkerung ausgebreitet, und wer ihm noch nicht verfallen ist, hat doch oft Mühe, es von sich fernzuhalten. Das ist jedenfalls mein Eindruck aus persönlichen Gesprächen in der letzten Zeit.
Es geht dabei nicht einfach nur um die großen Krisen, die sich in den letzten Jahren tatsächlich aneinandergereiht haben, wie Corona, Krieg, Inflation und so weiter. Es geht darum, dass zusätzlich so viele echte und eingebildete Probleme in den persönlichen Newsfeed und von dort direkt ins Gehirn gespült werden, dass viele Menschen es kaum noch schaffen, sich dagegen zu wehren.
Langfristige Statistiken und kurze Häppchen
Normalerweise empfehle ich an dieser Stellen nicht nur den regelmäßigen Blick auf lösungsorientierte Nachrichten, wie wir ihn mit Squirrel News erleichtern, sondern auch Bücher von Autoren wie Hans Rosling, Steven Pinker oder Rutger Bregman, die zeigen: Viele Bereiche der Gesellschaft verbessern sich langfristig, und zwar weltweit. Noch schneller geht das bei Blogs wie Our World in Data. Zum Einstieg lohnt sich zum Beispiel diese Statistik über den extremen Rückgang der Mordrate in europäischen Ländern im Lauf der letzten Jahrhunderte.
Als kleine multimediale Häppchen zwischendurch eignen sich aber auch noch andere kulturelle Zeugnisse, wie ich vor kurzem herausgefunden habe: nämlich Ausschnitte aus TV-Sendungen, die 20 Jahre oder noch älter sind, und die einem jedes Mal sofort vor Augen führen, dass früher eben längst nicht alles besser war als heute – und manches auch gar nicht so anders.
Erste Stimmen zum Debakel
Darauf gebracht hat mich ein Vorschlag auf YouTube mit dem schönen Titel: “Erste Stimmen zum DFB-Debakel bei der EM 2000”. Darin sezieren Wolf-Dieter Poschmann, Otto Rehhagel, Jupp Heynckes und Béla Réthy das Ausscheiden der deutschen Fußball-Nationalmannschaft in der Vorrunde gegen Portugal (0:3). Und sie legen eine Stimmung an den Tag, als wäre gerade die Welt untergegangen.
Man kann diese Unterhaltung umso mehr genießen, da man heute ja weiß, dass sich die deutsche Fußballwelt in den folgenden Jahrzehnten nicht allzu schlecht entwickelt hat. Im Folgenden deshalb einige Zitate:
„Ich war selten so deprimiert wie heute. Das war eine Beerdigung erster Klasse. Wir haben den Anschluss an die internationale Klasse verloren.“
Otto Rehhagel
„Der deutsche Fußball ist mit dem heutigen Spiel auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt.“
Jupp Heynckes
Zwei Jahre später wurde Deutschland dann Vize-Weltmeister.
Nach dem Tiefpunkt kommt der Höhepunkt
Interessant ist aber auch die Antwort von Jens Nowotny nach dem Spiel auf die Frage, wie denn die Zukunft (des deutschen Fußballs) aussehen könnte:
Nowotny: „Nur positiv.“
Reporter: „Wirklich?“
Nowotny: „Ja klar, denn schlechter und mit weniger Engagement kann man ja fast nicht mehr spielen.“
Das Interessante an Nowotnys Antwort ist, dass nach dem angeblich maximal Schlechten nicht der Abgrund oder die Apokalypse kommt, sondern es automatisch wieder besser wird. Vielleicht liegt das auch daran, dass es um Fußball geht. Da geht die Welt ja nicht komplett unter, sondern fängt immer wieder von vorne an.
Die 70er sind uns näher als wir denken
Allerdings ist der Blick auf alte Sendungen mit politischen Inhalten genauso erhellend wie beim Fußball. Zum Beispiel bei diesem Video, das Ausschnitte von TV-Sendungen aus dem Jahr 1978 enthält. Liest man nur die folgenden Zitate, könnte man auch denken, sie stammten von heute:
Zu allgemeinen politischen Lage:
„Die etablierten Parteien haben weitgehend den Kontakt zur Basis verloren. Vor allem an den politischen Flügeln und bei den Jüngeren. … Schneller als viele erwartet haben, entwickelt sich (…) das Gegenmodell zur repräsentativen Demokratie.“
Zum neuen Rechtsextremismus:
„Fast alle Demonstrationen des Jahres sind von gleichem Irrationalismus getragen. Auf der ziellosen Suche nach eigener Identität.“
Zur politischen Kultur und zu dem, was man heute Polarisierung nennen würde:
„Der politische Protest – wer immer ihn austrägt – geht nicht mehr um Lösungen, sondern um die Benennung der Probleme selbst. Offenbar besteht in unserer Gesellschaft kaum noch Übereinstimmung darüber, was in der Politik möglich, was nötig und machbar ist.“
Und das Sahnehäubchen ist ein Satz zum Zustand der FDP, die erneut ein schlechtes Wahlergebnis verzeichnen muss:
„Die FDP wieder einmal in Existenzangst.“
So hart die Aussagen auch sind, so erstaunlich ist es doch, wie sehr sie den Einschätzungen von heute ähneln. Natürlich hat sich in den Jahren dazwischen viel verändert. Und die Bedrohungen sind absolut ernst zu nehmen. Aber der Blick auf die Vergangenheit nimmt einem doch einen großen Teil der Panik, die man haben kann, wenn man vor aktuellen Problemen und Herausforderungen steht, die einem auf den ersten Blick unlösbar erscheinen. Einerseits zeigt er, dass viele Probleme gar nicht so außergewöhnlich sind, wie sie einem oft vorkommen; und andererseits, dass die Gesellschaft immer wieder Lösungen gefunden hat, um schwere Zeiten zu überstehen.
Die Fortschritte sind trotzdem klar
Wem das noch nicht reicht, weil die Fortschritte, die seitdem erzielt wurden, nicht klar genug erkennbar sind, kann auch noch ein bisschen weiter in die Vergangenheit schauen. Der folgende Clip dauert nur 26 Sekunden. Doch er reicht locker, um zu zeigen, wie groß die Entwicklung bei einer Errungenschaft war, die für uns heute selbstverständlich ist – nämlich dem Frauenwahlrecht:
Egal, was man sich vornimmt, ob kurze Häppchen oder lange Dokus: Der Blick in die Geschichte hilft eigentlich immer, um die Gegenwart besser einzuordnen und die Dramen der Gegenwart in einem anderen Licht zu sehen – egal, ob es nun um große Politik geht oder um Fußball.
Die Medien haben eine Tendenz, durch ihren Fokus auf Probleme, Dramen und Gefahren ein Zerrbild der Gegenwart zu erschaffen, das bisweilen schwer auszuhalten ist. Manchmal wünscht man sich dann an einen anderen Ort, manchmal in eine andere Zeit. Doch wenn man, quasi als Gegengift dazu, die medialen Zerrbilder der Vergangenheit betrachtet, wird die Gegenwart gleich viel erträglicher.
Beitragsbild: Foto von Jasmine Huang auf Unsplash