Michael Insinger reist im Bus und lebt vom Hut. Im Interview erzählt er, wie er die Gesellschaft beobachtet und was Glück für ihn bedeutet.
Michael Insinger lebt das Leben, welches viele Menschen auf Social Media romantisieren: Reisend im Bus mit Hund und Gitarre. Im Interview erzählt der Vollzeit-Straßenmusiker dem Good News Magazin von den lebensverändernden Auswirkungen einer einfachen Entscheidung, dem Leben im Bus und seiner Definition von Glück.
Während des Telefonats mit Michael Insinger hörte man im Hintergrund Vögel zwitschern. Er sei gerade draußen, schön, dass es geklappt habe mit dem Interview. Seine Stimme ist ein wenig rauchig und man hat direkt eine Vorstellung davon, wie sich sein Gesang anhören muss. Der gelernte Steinmetz lebt mit seiner Hündin Nelke ein eher untypisches Leben – weit weg von regelmäßigen Einnahmen, festem Wohnsitz und ständigen Klagen über den Alltagsstress. Zusammen wohnen sie im eigenen “Tourbus” und er verdient den Unterhalt mit der Straßenmusik.
Mit 12 Jahren brachte sich Michael Insinger Gitarrespielen selbst bei und spielte als Linkshänder vorerst verkehrt herum. „Ich war wahrlich kein Naturtalent”, gibt er selbst zu, aber er übte trotzdem weiter und perfektionierte seine Technik. Bei der ProSieben-Musikshow Fame Maker begeisterte er 2020 die Juroren mit seiner Fingerfertigkeit an der Gitarre und verdient mittlerweile sein Geld mit dem Spielen auf den Plätzen Deutschlands.
Das Leben als Vollzeit-Straßenmusiker
„Plötzlich habe ich mich wieder pudelwohl gefühlt“
Gab es diesen Ursprungsmoment, in dem Sie sich entschieden haben: “Das mache ich jetzt, ich reise los.”?
Nein, eigentlich nicht. Ich habe mich sogar spät dazu entschieden diesen Weg zu gehen. Lange Zeit hatte ich eine eigene Musikschule und habe diese dann 2012 geschlossen und mir einen Bauwagen gekauft. Häuser sind was für Familien. Ich war alleine und brauchte das alles nicht. Siehe da: Plötzlich habe ich mich wieder pudelwohl gefühlt durch diese Einfachheit. Es hat mich erleichtert nur das zu haben, was ich brauche. Ich konnte alles um mich herum selbst reparieren und angehen. Man kann zufriedener leben, wenn man die Dinge um sich herum auch bewältigen kann. Kleiner ist besser.
Ganz nach dem Motto: Weniger ist mehr. Wie ging die Reise dann weiter?
Ich habe dann noch eine Zeit lang weiter unterrichtet, aber dann gemerkt: Jetzt bin ich Trainer, aber kein Spieler mehr. Und wenn ich Spieler und somit Musiker werden möchte, dann jetzt. Dann habe ich mich entschieden loszufahren. Mit einem Wurfzelt für 19,99€ und einem Gaskocher für 9,99€ ging im PKW die Reise los. Die Erkenntnisse kommen beim Machen. Und ich habe für mich erkannt: Ein Musiker braucht ein rollendes Zuhause.
„Ein Musiker braucht ein rollendes Zuhause“
Man sagt, Glück könne man nicht finden, das müsse man sich erschaffen. Wie sehen Sie das?
Vielleicht muss man Glück finden. Man muss nur an den richtigen Orten suchen und die meisten suchen an den verkehrten Orten. Ich möchte mein Leben momentan nicht anders haben.
Ich stelle mir das Reisen im Bus wie eine Art Kapsel vor. Man kann dem Treiben der Gesellschaft von außen zusehen. Ist das so?
Ich habe die Vermutung, dass es tatsächlich zwei Welten sind. Die Konsumierenden von Musik, wenn man sie so nennen kann, erwarten, dass die Musiker:innen Geschichten erzählen. Und ich habe für mich herausgefunden, dass ich im üblichen Alltagstrott so etwas nicht leisten kann. Ich kann nur Geschichten erzählen, wenn ich kein Teil dieser “Zahnradwelt” mehr bin.
Ich habe erkannt: Man muss ausbrechen, um wirklich Musik zu machen. Ich musste mich bewusst dazu entscheiden Musiker zu werden und dann habe ich es auch getan. Erst dann habe ich auch die Muße gefunden, mich endlich mal zurückzuziehen und ein paar Strophen zu schreiben. Wenn man immer nur in Kosten-Nutzen denkt, kommt man nicht weit. Wer Musik machen möchte, um Geld zu verdienen, braucht keine Musik machen. Dann muss man Musik produzieren. DJs, Techniker:innen und Produzent:innen sind es, die Geld verdienen.
Ihre Lieder schreiben Sie meist selbst. Ist dieses “Ausbrechen” aus der Gesellschaft eines ihrer Hauptthemen?
Bestimmt, obwohl ich es erst entdecken musste außerhalb von diesem System zu leben, das wir uns geschaffen haben. Ich komme aus einem bürgerlichen Elternhaus und musste mich erst dazu bringen Hermann Hesse zu lesen und auch mal außerhalb der Normen zu denken. Das Hippie-Dasein war nicht Teil meiner Kindheit und deswegen lerne ich immer noch ständig neu. Aber der Freigeist hat wohl schon immer in mir geschlummert.
Was beobachten Sie auf ihrer Reise an den Menschen, die noch im Alltagstrott leben?
Eine neue Lebensansicht verbreitet sich aus meiner Sicht auf jeden Fall. Die Leute sehen vermehrt von ihrer Erfolgsleiter herunter und besinnen sich auf das Einfachere. Immer mehr Menschen erkennen: Wir können Stopp sagen. Nein – wir müssen Stopp sagen.
Ein Zuhause auf Rädern ist ein anderes.
Die Leute sagen zu mir oft, dass ich weltfremd sei. Ich sehe das genau umgekehrt: Ich bin der Welt noch am nächsten und in der Stadt ist alles entfremdet. Mir fehlen die Worte ein bisschen, um das zu beschreiben. Aber ich habe das Gefühl in der Stadt schmücken sich alle. Die kleine Zweizimmerwohnung in der Stadt wird mit gekauften Sachen geschmückt. Menschen schmücken sich mit besonderer Kleidung, um gesehen zu werden. Es wird eine Welt in einer Welt geschaffen. Und wer sich eine Welt in einer Welt schafft, ist weltfremd.
Was macht Ihr Glück aus?
Ich denke es sind immer einzelne Momente. Für mich ist es der Kaffee morgens an der Raststätte oder auf der Autobahn, manchmal ein Sonnenaufgang. Und natürlich die Musik an schönen Orten vor freudigen Leuten. Es sind viele kurze Momente, aber die kann man sammeln.
Wir haben zuletzt einen Artikel über die positive Kraft von Musik veröffentlicht. Macht Musik glücklich?
Im Sommer covere ich meistens Lieder aus meiner Zeit. Oldies – wie man sie heute nennt. Das zu tun ist eine wertvolle Tätigkeit. Es gibt kaum noch Fußgängerzonen, in denen man ein gutes Gitarrensolo zu „Stairway to Heaven“ von Led Zeppelin hören kann. Menschen aus meiner Generation kennen das noch und da gehen die Lichter an, wenn ich es spiele. Es ist tatsächlich so: Die Erinnerung hört mit. Ich habe die Vermutung viele Menschen hören den Song und sie hören die Original-Vinyl im Hinterkopf mitlaufen. Die Gefühle von damals werden dann wachgerüttelt. Also ja: Musik macht glücklich.
Gibt es eine Begegnung auf ihren Reisen, die Sie nie vergessen werden? Momente, in denen Sie den Tag von Menschen sichtlich verbessern konnten?
70 Prozent meiner Einnahmen habe ich meiner Hündin Nelke zu verdanken. Und dann gibt es diese dreifache Win-Win-Win-Situation: Nelke liegt neben meinem Gitarrenkoffer und oft wollen Kinder sie streicheln. Wenn die Kinder dann zu Nelke kommen wollen, drücken die Eltern ihrem Kind einen Schein in die Hand und so hat jeder was davon. Nelke freut sich, das was los ist, ich freue mich über die Einnahmen und die Eltern sind froh, dass ihr Kind glücklich ist. Außerdem macht es mich glücklich, wenn ich Menschen sichtlich bewegen kann. Häufig sind es Männer, die mit glasigen Augen auf mich zukommen und sagen „Ich wollte auch immer Gitarre spielen“ oder „Ich habe früher auch gespielt“. Ich lebe für einen kleinen Moment den Traum von diesen Menschen. Das berührt einen sehr. Bei der Straßenmusik ist keine Bühne dazwischen, man ist sich sehr nah. Auf allen Ebenen.
Sie sehen vieles von außen. Wovon braucht es mehr in der Welt?
Charaktere. Das Reisen gibt mir so viel Freiheit und Glück. Ich kann gar nicht verstehen, warum so viele Menschen Angst davor haben. Ich habe darin einen Sinn gefunden. Ich würde gerne jungen Musiker:innen Auftrieb geben, dass man sich bewusst für eine Sache entscheidet. Ich habe das Gefühl heutzutage wollen alle alles. Viel Geld, viel Ansehen, viel Urlaub und dann noch ein:e gute:r Musiker:in sein mit vielen Auftritten. Es geht mit einer einfachen Entscheidung los. Von einer Sekunde zur nächsten kann man sich entscheiden: „Ich bin Musiker.“. Es kann wirklich so einfach sein.
Sie meinen das unermüdliche Streben sollte eingedämmt werden?
Es gibt kaum noch wirkliches Handwerk. Und mit Handwerk meine ich auch Musiker:innen und im Allgemeinen Künstler:innen, die etwas erschaffen. Ich bin gelernter Steinmetz. Man hat seine eigenen Werkzeuge, man sieht, was man arbeitet. Warum wird Handwerk nur noch so wenig anerkannt? Alles, was man da macht, macht man selbst. Aber das geht immer mehr verloren. Ich finde, wir sollten aufhören nur noch Firmen und Betriebe zu sehen. Auch hier: Es macht glücklicher, wenn man das Ergebnis der eigenen Arbeit sieht. Wenn man um sich hat, was man wirklich braucht.
Noch einen Ratschlag zum Schluss?
Ich habe da noch eine ganz super Idee: Macht doch einfach mal das, was ihr wirklich wollt. Und hört auf so viel zu wollen.
Songs von Michael Insinger bald auch auf Spotify
Im Herbst wird Michael Insinger seine ersten Songs Stück für Stück auf Spotify veröffentlichen. Selbstgeschriebene Texte mit Gewicht und angenehme Gitarrenkunst sind zu erwarten. Wer ihm auf seiner Reise begegnen möchte, kann seine Route auf Instagram oder YouTube mitverfolgen. Dort nimmt er alle Interessierten ständig mit und berichtet von Begegnungen auf seiner Reise, Gedanken im Tourbus und neuen Songs. Der Straßenmusiker weiß nicht nur wie man Musik macht, sondern versteht es auch zu leben.