Raus in die Natur

das ist ein GNM+ ArtikelMehr Friluftsliv, höhere Lebensqualität

von | 28. September, 2022

In unserem Good News Thought widmet sich unsere stellvertretende Chefredakteurin Nina dem schwedischen Konzept des Friluftsliv, das eine höhere Lebensqualität durch mehr Zeit draußen verspricht. Wie das auch der Arbeitswelt und dem Klima helfen kann.

Würde Schweden auf einer Tabukarte stehen, wäre Natur wohl das dritte Wort hinter Abba und Ikea auf der Liste jener Wörter, die nicht zur Beschreibung verwendet werden dürfen. Dicht gefolgt – natürlich – von Astrid Lindgren und Zimtschnecken. Abgenutzte Klischees, mag man da wohl denken, doch nachdem ich vor etwa einem Monat in die Nähe Stockholms gezogen bin, habe ich schnell gemerkt, dass es sich dabei um mehr als leere Stereotype handelt. Besonders ein Wort begegnete mir immer wieder: Friluftsliv – “Freiluftleben“. Dahinter steckt ein Konzept, das aus vielerlei Gründen nähere Betrachtung verdient.

So kann das schwedische friluftsliv aussehen
Symbolbild des schwedischen Friluftsliv. Foto: Nina Kegel

Vom Leben draußen

Friluftsliv meint in Skandinavien einen Lebensstil, der sich vermehrt draußen abspielt. Aufgrund der Landschaft naheliegend, schließlich bietet die wunderschöne Natur mit ihren riesigen Wäldern, beeindruckender Fauna und unzähligen Seen zahlreiche Möglichkeiten zum Wandern, Klettern, Segeln, Kanu fahren und mehr. Um die Erholung draußen zu fördern, wurden in den 1980er Jahren außerdem zahlreiche Naturschutzgebiete erschlossen, die auch heute noch kurze Wege ins Grüne ermöglichen. Das sogenannte allemannsrätten erlaubt dabei allen, diese öffentlichen Naturgebiete zu nutzen, anders in Deutschland, sogar, um zu Campen.  

Dass der schwedische Outdoor-Lebensstil mehr als ein Gemeinplatz ist, mit dem der Rest der Welt das Leben im Norden Europas romantisiert, durfte ich auf einigen Wanderungen bereits feststellen. Während sich unsere kleine Reisegruppe meist mit Tagesausflügen in melodisch klingende Naturreservate begnügte, stapften uns die Einheimischen munter mit professionellem Campingequipment entgegen – bereit, das Wochenende im Grünen zu verbringen. Hier normal, für einen großen Teil der Weltbevölkerung weiter von der eigenen Lebensrealität entfernt als in Nordschweden die nächste Nachbarin. 

Rein in die Stadt, rein in die Depression?

Mehr als neunzig Prozent unseres Lebens verbringen wir in der westlichen Welt in geschlossenen Räumen. Zudem lebten im Jahr 2021 57 Prozent der Weltbevölkerung, genauer gesagt 4,5 Milliarden Menschen, in Städten. Tendenz steigend. Dieser Trend beschäftigt nicht nur Stadtentwicklerinnen, Urbanisierungsforscher und Stadtverwaltungen, sondern auch jene, die sich mit der menschlichen Psyche auseinandersetzen. Mit erschreckenden Ergebnissen: Demnach erhöhe das Stadtleben das Erkrankungsrisiko für affektive Störungen wie Depressionen um 39, das für Angsterkrankungen um 21 Prozent. 

Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Mannheim, hält gegenüber dem SZ Magazin fest, dass dies vor allem deshalb erstaunlich ist, “weil Städte eigentlich tendenziell eher gut sind für die körperliche Gesundheit, unter anderem weil Städter auch im internationalen Vergleich reicher sind und besseren Zugang zu medizinischer Versorgung haben.” Dennoch: Woran es zwischen Einkaufsmeilen und Bürokomplexen häufig mangelt, sind Naturräume. Kurzer Waldspaziergang in der Mittagspause? Für viele Menschen eine Utopie. Dabei sind genau diese Naturräume ein wichtiger Resilienzfaktor, der im Zuge steigender Stressniveaus an Relevanz gewinnt. 

Physische und psychische Vorteile des Waldspaziergangs

Doch wie genau wirkt die Natur eigentlich positiv auf unseren Körper? Die Antwort liefern Pflanzenstoffe, sogenannte Terpenoide, die von den Pflanzen als Kohlenwasserstoff abgesondert werden. Bäumen dienen diese Naturstoffe als Kommunikationsmittel, um beispielsweise vor Schädlingen zu warnen. Doch auch für uns Menschen sind Terpenoide, die wir bei einem Waldspaziergang ganz automatisch einatmen, von Nutzen. Besonders jene von Nadelbäumen wie Kiefern haben eine besondere medizinische Wirkung – physisch und psychisch.

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Schweden beeindruckt mit einer vielfältigen Flora und Fauna. Foto: Nina Kegel

In verschiedenen Experimenten zeigte sich, dass die Naturstoffe Krebszellen abtöten und bei Tieren gar Brust-, Lungen- oder Darmkrebs prophylaktisch entgegenwirken können. Untersuchungen, die ähnliche Effekte bei Menschen erforschen, laufen noch. Fest steht allerdings bereits, dass ein Tag im Wald die Anzahl der Killerzellen im Blut, die Krankheitserreger bekämpfen, um 40 Prozent steigern kann. Dieser Effekt halte demnach sieben Tage lang an. Oder ganz praktisch ausgedrückt: Von einem Sonntag im Wald profitiert das Immunsystem eine ganze Woche. 

Weiter verstärkt werden kann der positive Effekt von Zeit in der Natur durch Bewegung. Längst sind sich nicht nur die Forschenden des Fachbereichs Promenadologie an der Universität Kassel der heilenden Wirkung von Spaziergängen sicher. Mehrere Studien belegen die positive Wirkung von Spaziergängen im Wald auf die psychische Gesundheit: Diese wirken demnach stressreduzierend und regen die Ausschüttung von Endorphinen sowie die Durchblutung des Gehirns an, wodurch unter anderem die kognitive Funktion verbessert wird. Eine im März publizierte Studie aus Norwegen konnte zudem belegen, dass sich Spaziergänge in der Natur über einen Zeitraum von bis zu drei Monaten positiv auf Depressionen und Angstzustände auswirken. 

(K)ein Allheilmittel

Nicht nur in Skandinavien hat man die Kraft der Natur längst erkannt: So berichteten wir im Februar darüber, dass kanadische Arztpraxen Jahreskarten für die Nationalparks ausstellen, um das Wohlbefinden von Patient:innen zu verbessern. Der Post erreichte allein auf Instagram über 38.000 Menschen, die Kommentare (wie übrigens auch die im Team) waren voller Zustimmung. Klar war: Unsere Community wünscht sich das auch für Deutschland. 

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Das wäre übrigens nicht nur im Sinne der Arbeitnehmenden, sondern auch im Sinne der Arbeitgebenden – auch im ökonomischen Sinne. Eine durchschnittliche Krankschreibung aufgrund einer psychischen Erkrankung erreichte in Deutschland 2020 den Rekordwert von 38,8 Tagen. So verursachten psychische Erkrankungen (die bereits vor der Pandemie jeden sechsten Menschen in der EU betrafen) in den 28 EU-Ländern 2018 wirtschaftliche Gesamtkosten von über 600 Milliarden Euro, bzw. mehr als vier Prozent des BIP. 

Zugegeben: Einen Tag im Wald als Allheilmittel für die gravierende Problematik von Stressniveaus in Städten und der steigenden Anzahl psychischer Erkrankungen zu verkaufen, wäre ein Fehlschluss. Um die Lebensqualität in Städten zu erhöhen und Depressionsquoten zu senken, braucht es sicherlich mehr. Sinnvolle, gemeinschaftliche Wohnkonzepte und flächendeckende Aufklärungsarbeit sind hier nur zwei Ansätze. Und dennoch: Die oben genannten Studien sind nur ein Bruchteil jener, die zeigen, dass die Idee vom Friluftsliv zur Lebensqualitätsverbesserung kein grünes Geschwätz ist. 

Ins Handeln kommen

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Geht es nun um die Umsetzung, kommt eine Pointe ins Spiel, die das vorausgegangene Plädoyer für Waldspaziergänge als trojanisches Pferd zu erkennen gibt. Schließlich steigt mit der Wertschätzung für die eigene Umwelt auch das Interesse daran, diese zu erhalten. Einmal im Wald, stören die Take-Away-Verpackungen, die wir sonst für eine Portion Tikka Masala so leichtfertig in Kauf nehmen. Menschen, die draußen sind, werden zu Menschen, denen der Schutz ihrer Umwelt am Herzen liegt. Gleichzeitig wird der Slogan des allemannsrätten „Nicht stören, nicht zerstören“ mit Bedeutung gefüllt. 

Ja, ein kollektives Umweltbewusstsein wäre mein dringender Wunsch, doch darum geht es nicht (nur). Vielmehr geht es darum, Friluftsliv nicht als alternativen Ökotrend zu begreifen oder als Sportart, sondern als Zustand, wie Gunnar Liedtke im gleichnamigen Buch erklärt. Und um den zu erleben, braucht es keinen Campingtrip nach Schweden. Stattdessen heißt es einfach: Rausgehen. Sich auf die Suche nach Natur in der eigenen Umgebung begeben. Ohne, dass es von einer Ärztin verschrieben wurde. Aus eigener, intrinsischer Motivation – Waldspaziergänge als Prophylaxe quasi. Zugegebenermaßen: Der schwedische Winter wird meine persönliche Euphorie um die skandinavische Philosophie sicher ins Wanken bringen. Doch auch dafür hat die schwedische Sprachkultur etwas parat: hemmakväll – der gemütliche Abend zu Hause.

Beitragsbild: Nina Kegel

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Nina Kegel

Nina ist stellvertretende Chefredakteurin beim Good News Magazin und vor allem eins: Neugierig. Immer auf der Suche nach Good News beschäftigt sie sich am liebsten mit Themen rund um einen nachhaltigen Wandel – egal ob kreatives Bauprojekt, ökologische Initiative oder innovatives Unternehmenskonzept, sie lässt sich für vieles begeistern. Außerdem studiert sie im Master Medienkultur und Globalisierung.

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