Aus Spanien kommen zunehmend positive Meldungen über fortschrittliche politische Entscheidungen. Ein Land, das wichtige Entwicklungen vorantreibt und ein Vorbild sein kann, meint unsere Redakteurin Pia Bergmann in ihrem Good News Thought.
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Wenn man darüber nachdenkt, aus welchen Ländern man immer wieder Nachrichten über positive Entwicklungen liest oder hört, kommt man wahrscheinlich schnell auf ein skandinavisches Land wie Finnland oder Dänemark. Dort sollen die Menschen auch am glücklichsten sein und sie sind dem Rest der Welt in vielen Punkten gefühlt einen Schritt voraus.
Doch in den letzten Wochen und Monaten ist uns bei Themenrecherchen und neuen Meldungen immer wieder ein Land begegnet, was eigentlich nicht so bekannt ist für seinen Fortschritt: Spanien. Es waren sogar so viele Meldungen über dortige positive Entwicklungen, dass wir am liebsten eine eigene Rubrik für das Land eingeführt hätten. Was macht Spanien richtig?
Umweltschutz, Arbeitsmarktreform, Frauenrechte
Auf dem Ranking der 20 Länder mit der höchsten Lebensqualität nach dem Best Countries Ranking 2021 liegt Spanien auf Platz 19. Diese Positionierung ist ein treffendes Sinnbild für die Situation, in der Spanien sich befindet: einerseits gehört es zu den Ländern mit der höchsten Lebensqualität weltweit, andererseits hat es aber auch noch viel Luft nach oben – und anscheinend gerade Auftrieb. Seit Beginn dieses Jahres gab es mindestens einmal monatlich eine neue frohe Botschaft aus dem Land im Südwesten Europas. Hier ein Blitzlicht einiger positiver Meldungen:
- Tiere gehören nun rechtlich zur Familie (Januar 22’)
- Das Parlament stimmt für die Arbeitsmarktreform, die vor allem die junge Bevölkerung auf dem Arbeitsmarkt stärken soll (Februar 22’)
- Kultur-Gutscheine im Wert von 400 Euro werden an 18-Jährige verteilt, um bei ihnen Interesse für die Kultur zu wecken und die Kulturszene nach der Corona-Krise zu fördern (März 22’)
- Das Kabinett billigt den Gesetzesentwurf für bezahlten Menstruationsurlaub (Mai 22’)
- Das Parlament beschließt die Verschärfung des Sexualstrafrechts mit dem „Nur-Ja-heißt-Ja“-Gesetz (Mai 22’)
- Ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung könnte ab 2023 in Kraft treten (Juni 22’)
Diese und viele weitere positive Meldungen, die Klima und Umwelt schützen, das Wohl von Tieren, der Gesellschaft und der Kultur fördern sowie auf Nachhaltigkeit bedacht sind, begeistern auf Social Media auch unsere Community. Sie werden unter den jeweiligen Meldungen etwa als „Hoffnungsschimmer“, „super Nachricht“, oder „längst überfällig“ kommentiert. Einzelne User:innen bezeichnen Spanien als „Vorreiter”, sie fordern „das sollte es in Deutschland auch geben“ oder machen darauf aufmerksam, in welchen anderen Ländern es bereits ähnliche fortschrittliche Entwicklungen gibt.
Das bedeutet natürlich nicht, dass in Spanien alles perfekt läuft. Auch an den einzelnen Entschlüssen muss teilweise noch gefeilt oder sie müssen final erst noch gebilligt werden. Dennoch könnten Gesetzesentwürfe und -verabschiedungen wie diese weitreichende Wirkungen haben. Dies betonte auch Elizabeth Hill, Professorin an der Universität Sydney. Hill befasste sich intensiv mit dem globalen politischen Diskurs um den Menstruationsurlaub und meint: „Wenn diese spanische Gesetzgebung verabschiedet wird, und wenn es sich um bezahlten Urlaub handelt, wird sie einen neuen globalen Standard setzen, einen Goldstandard.“
Durch internationale Medienberichte über diese positiven Entwicklungen könnte Spanien also auch andere Staaten inspirieren. Die Menschen könnten diese Entwicklungen auch für sich und ihr Land fordern, wenn sie sehen, was in Spanien möglich gemacht wird – wie unsere Community schon jetzt auf Social Media.
Wirtschaftliche Herausforderungen für einen kulturellen Flickenteppich
Werfen wir mal einen Blick auf die allgemeine Lage des Königreichs Spanien, abseits der positiven Meldungen.
Spanien hat ein parlamentarisch-demokratisches Regierungssystem, in dem die Legislative vom Volk gewählt und von einem Premierminister geleitet wird. Seit 2018 ist der Sozialdemokrat Pedro Sánchez in einer Minderheitsregierung Regierungschef des Landes. Die Regierung wird seit Januar 2020 in Koalition seiner sozialdemokratischen Partei PSOE und der linksalternativen Podemos gestellt. Staatsoberhaupt ist seit 2014 König Felipe VI., der hauptsächlich repräsentative Aufgaben übernimmt.
Die meisten Deutschen verbinden mit dem Land auf der Iberischen Halbinsel und den Balearen vermutlich „Urlaub“, „Mallorca“ oder „Ballermann“. Tatsächlich ist Spanien laut der Weltorganisation für Toursimus (UNWTO) nach Frankreich das am häufigsten bereiste Land der Welt. Der Tourismus stellt daher neben der Bauindustrie und dem Exportmarkt eine der wichtigsten Einnahmequellen des EU-Mitgliedslandes dar.
Ein Strand auf den Balearen. Foto: Pexels / Mariia Kamenska
Die globale Finanz- und Immobilienkrise ab 2008 stürzte Spanien jedoch in eine schwere Rezession, von der es sich langsam wieder erholt. Die Arbeitslosenquote sank im Sommer dieses Jahres auf unter 14 Prozent und war damit erstmals wieder so niedrig wie vor der Krise.
Eine weitere große Herausforderung stellt der kulturelle Flickenteppich dar, der durch die Vereinigung mehrerer unabhängiger Königreiche im Jahr 1492 entstand. Spanien wird bis heute von einer sehr dynamischen Identität geprägt. Diese zeigt sich beispielsweise an den verschiedenen Sprachen, die in den 17 autonomen Regionen Spaniens gesprochen werden. Durch eine wachsende separatistische Bewegung der verschiedenen Nationalitäten wird die Einheit des Landes infrage gestellt. Diese Bewegung ist insbesondere in der baskischen Region im Norden und in Katalonien im Nordosten verankert: Im Baskenland und Katalonien wird eine stärkere Autonomie der Regionen gefordert, bis hin zur staatlichen Unabhängigkeit. Die regionalen Parteien treten für diese Forderungen ein und möchten ein Unabhängigkeitsreferendum durchführen lassen. Doch die Zentralregierung Spaniens hält sie bisher davon ab.
Viele kleine Schritte voran
Zu diesen Herausforderungen innerhalb des Landes kommen außenpolitische, wie die Flüchtlingspolitik hinzu. Im Sommer dieses Jahres beispielsweise stand Sánchez scharf in der Kritik, weil er den Einsatz marokkanischer und spanischer Beamter lobte, die tausende Menschen daran gehindert hatten, den Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Exklave Mellila zu überwinden. Dabei kamen nach Angaben der Behörden 18 Menschen ums Leben. Später relativierte Sánchez seine Aussage. Melilla und Ceuta sind die einzigen Landesgrenzen Europas mit Afrika. Die Flüchtlingspolitik ist jedoch nicht einem Land alleine überlassen, sondern eine gemeinsame Aufgabe aller Europäischen Länder – und die dürfen Spanien an diesen Grenzen nicht alleine lassen.
Gerade vor dem Hintergrund der angespannten innenpolitischen Lage ist es umso bemerkenswerter zu sehen, dass Spanien gleichzeitig Gesetze und Reformpläne auf den Weg bringt, die positive Auswirkungen auf Mensch, Tier und Natur haben – und das teilweise als Vorreiter in der EU. Die Regierung machte sich damit sicherlich auch angreifbar. Die Bevölkerung hätte den Eindruck bekommen können, dass sie sich währenddessen nicht ausreichend auf die vermeintlich dringenderen oder größeren Herausforderungen des Landes konzentriert haben, wie zum Beispiel die Arbeitslosigkeit. Doch dieser Eindruck wird hier nicht erweckt.
Wenn die spanische Bevölkerung sieht, was möglich ist, kann das Rückenwind geben und Mut machen, um viele weitere fortschrittliche Entwicklungen anzustoßen und voranzutreiben. Das Vertrauen in eine Regierung wird gestärkt, wenn die Menschen merken, dass ihre Bedürfnisse wahrgenommen werden und die Politik alles in ihrer Macht Stehende tut, um diese zu stillen – man könnte auch flapsig sagen: wenn die Menschen sehen, dass die Regierung ihren Job macht. Ohne sich ewig hinziehende Debatten, Ausflüchte oder Skandale.
Der Weg dorthin ist lang, doch das Beispiel Spanien zeigt, dass ein Land auch aus einer schwierigen innenpolitischen Lage heraus viele kleine Schritte in eine zukunftsfähige und achtsamere Richtung gehen kann – und, dass es dafür nicht in Skandinavien liegen muss. Es wird spannend sein zu sehen, mit welchen vielen kleinen und großen Schritten Spanien uns auch in Zukunft überraschen und erfreuen wird. Und es wäre doch toll, wenn auch aus anderen Ländern so viele positive Meldungen kommen, dass jedes Land das Potenzial für eine eigene Rubrik im Good News Magazin hätte.
Beitragsbild: unsplash / Sam Williams