Warum ein weiblicher Crashtest- Dummy und geschlechtersensible Medizin wichtig sind

das ist ein GNM+ ArtikelWenn Datenlücken gefährlich werden können – und was sich tut

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von | 24. Juni, 2023

Die sogenannte Gender Pay Gap schafft es immer wieder in die Medien: Die unterschiedliche Bezahlung von Frauen und Männern ist weltweit ein Thema. Global gesehen erhalten Frauen 20 Prozent weniger Bezahlung als Männer. In Deutschland beträgt die Lohnlücke 18 Prozent. So ärgerlich dieser Umstand ist, gibt es zwei Gender Gaps, die vor allem gefährlich für Frauen sein können: die Lücken in der Medizin und in der Sicherheit. Hier gibt es erste Erfolge, die Mut machen.

Das ist ein Beitrag aus unserem dritten Printmagazin mit dem Thema „Perspektivwechsel“. Diesen und weitere exklusive Beiträge gibt’s im GNM+ Abo

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Caroline Criado Perez veröffentlichte 2019 ihr Buch „Invisible Women: Exposing Data Bias in a World Designed for Men“ – auf Deutsch „Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“. Sowohl der Originaltitel als auch die Übersetzung fassen die Lektion des Buches bereits zusammen. Die Welt ist für Männer designt, 51 Prozent der Bevölkerung werden ignoriert.

Buchtitel müssen selbstverständlich auch überspitzen und verkaufen. Doch die Lektüre zeigt, dass dieses Fazit leider faktenbasiert ist und es Datenlücken an zahlreichen Fronten gibt: So ist beispielsweise die Standardtemperatur in Büros oft zu kühl für Frauen oder die Regale in den Läden zu hoch, dass die obere Ebene nur mit Mühe von Frauen erreicht werden können. Deutlich signifikanter und riskanter sind diese Lücken, wenn es um für Männer entwickelte Medikamente geht, die bei Frauen anders wirken. Oder um Crashtest-Dummys, die laut EU-Regelung immer noch „denen eines männlichen Erwachsenen“ entsprechen müssen sein müssen und weder die weibliche Größe noch die Körperform einer Frau bedenken.

Wir haben uns angeschaut, was sich seit Perez Buch in den Bereichen Gesundheit und Sicherheit getan hat. Bad News für die Lücken, Good News für Frauen (und überhaupt alle).

Sicherheit

Das Schwedische Forschungsinstitut für Straßen- und Verkehrswesen (VTI) hat erstmals einen weiblichen Crashtest-Dummy vorgestellt, um geschlechtsunabhängig mehr Sicherheit im Verkehr zu garantieren. Das Good News Magazin war bei der Online-Präsentation dabei.

Die Daten zeigen, dass Frauen bei Verkehrsunfällen im Durchschnitt doppelt so häufig verletzt werden wie Männer. Vor allem die Zahl der Nackenverletzungen ist bei Frauen besonders hoch. Diese Erkenntnis scheint landesunabhängig zu sein, wie Studien auf der ganzen Welt zeigen.

Die Dominanz des 50-Perzentil-Manns

Seitenairbags, Nackenstützen, Gaspedale – in einem Auto ist alles normiert für den sogenannten 50-Perzentil-Mann. Er wiegt 78 Kilogramm und misst 1,75 Meter. Die eine Hälfte der europäischen Männer ist größer, die andere kleiner. Dieser Norm-Dummy wird heute für die meisten Crashtests verwendet.

Der Crashtest-Dummy, der bisher als Stellvertreterin für Frauen verwendet wurde, ist eine verkleinerte Version der männlichen Puppe und hat ungefähr die Größe eines 12-jährigen Mädchens. Nimmt man weibliche Durchschnittsgrößen an, entspricht die Puppe mit einer Größe von 149 Zentimeter und einem Gewicht von 48 Kilo nicht einmal fünf Prozent der Frauen weltweit.

Das schwedische Team rund um Dr. Astrid Linder, Professorin für Verkehrssicherheit am VTI, ist dabei, diese Gender Data Gap zu schließen.

Eva, der erste weibliche Crashtest-Dummy und ihre Erfinderin Dr. Astrin Linder
Eva, der erste weibliche Crashtest-Dummy und ihre Erfinderin Dr. Astrin Linder

Dummys sollen menschenähnlicher werden

Eva, so heißt der weibliche Dummy, wird deutlich lebensechter. Der Schwerpunkt bei ihrer Entwicklung lag auf menschenähnlichen Bewegungen der Wirbelsäule, des Nackens und der Schultern sowie auf einer realistischen Weichheit des Körpers, um eine gute Interaktion mit dem Fahrzeugsitz zu ermöglichen. Die Teile sind mit sehr hoher Präzision hergestellt. Eva ist 1,62 Meter groß und wiegt 62 Kilogramm. Ihr Körper ist weiblicher geformt und verfügt über einen anderen Schwerpunkt, indem beispielsweise Hüften und Becken unterschiedlich ausgeprägt sind. Auch Torso und Muskeln sind realistischer aufgebaut. Die Option, innerhalb der Dummy-Familie weitere Repräsentation zu schaffen, gilt auch für schwangere Dummys. „Bisher wurden Simulationen mit schwangeren Insassen nur an der ‘fünf Prozent weiblichen’ und an der männlichen Puppe durchgeführt. Nicht an der weiblichen, das muss noch nachgeholt werden“, erklärte uns Dr. Astrid Linder im Rahmen einer Präsentation von Eva. Das Interesse an den schwedischen Modellen ist international sehr hoch. Derzeit werden Gespräche mit Prüforganisationen in Europa und den USA geführt. Ziel ist es, die Entwicklung der schwedischen Modelle abzuschließen, sodass sie in der Praxis zur Bewertung des Schutzes vor Schäden bei einem Unfall eingesetzt werden können.

Nun gibt es nur noch eine Hürde: Das Zulassungsverfahren in der EU schreibt aktuell explizit den 50-Perzentil-Mann für Zulassungsverfahren vor:

„Die Abmessungen und Massen der Prüfpuppe für den Seitenaufprall entsprechen denen eines männlichen Erwachsenen ( … ) ohne Unterarme.”

ECE-Regelung R95

Dr. Astrid Linder fordert, dass sich diese Regelung ändert. Die Vereinten Nationen überprüfen bereits, ob sie ihre Vorschriften künftig anpassen.

Gesundheit

Um die Gender Health Gap besser zu verstehen, haben wir uns zum Interview mit Dr. Marieke Bigg verabredet. Im Februar veröffentlichte die britische Autorin und promovierte Soziologin ihr Buch „This Won’t Hurt: How Medicine Fails Women“. Aufgewachsen in einer Familie, in der beide Elternteile als Arzt bzw. Ärztin praktizierten, war irgendwann „die kritische Masse an persönlichen Erfahrungen erreicht“, die sie dazu motivierten, ihre Doktorarbeit als Buch zu veröffentlichen.

„Ich habe mich ob meiner Erfahrungen in der Medizin betäubt gefühlt und irgendwann reflektiert, dass das ein systemisches Problem ist“, sagt Bigg im Interview. Die Lücke in der Medizin und gesamten Gesundheitsbranche hat komplexe Ursachen: Die Medizin ist in den vorigen Jahrhunderten in einer patriarchalen Struktur gewachsen. Der männliche Körper war in der Ausbildung und Forschung stets Standard, sodass Symptome, Medikamente oder Behandlungsmethoden stets an Männern ausgerichtet waren – und sind. Dass allerdings Frauen andere Symptome haben könnten oder auf Medikamente anders reagieren, ist erst in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus geraten.

Bei einem Herzinfarkt zeigen Frauen anstelle der typisch männlichen Symptome (Brustschmerzen, Engegefühl in der Brust) ganz andere Symptome, wie z. B. Übelkeit, Erschöpfung und Erbrechen.

Ein weiteres Problem sei, so Bigg, dass Gynäkologie „als unsexy geltendes Forschungsgebiet“ gehandelt würde. Es gibt deutlich weniger Forschungsgelder als bei Herzkrankheiten oder in der Krebsforschung. Zudem kritisiert Bigg, dass Frauen „oft noch als Fruchtbarkeitsgefäß verstanden werden. Dabei war die Fortpflanzung nie nur ein Randgebiet der Forschung, sondern ist mit allen anderen Bereichen verbunden und sollte entsprechende Aufmerksamkeit bekommen.“ Als Beispiel nennt sie ein Forschungsprojekt zu einem Biotech-Modell eines Endometriums: „Im Rahmen der Untersuchung stellten die Wissenschaftler:innen fest, dass die Gebärmutterschleimhaut eine großartige Quelle für Stammzellen ist. Und Stammzellen sind so etwas wie das Arbeitspferd der Forschung, insbesondere in der regenerativen Medizin.“

Eine geschlechtersensible Zukunft

An solchen Beispielen zeigt Bigg im letzten Teil ihres Buches eine Zukunft auf, die Hoffnung macht. „Ich war wirklich wütend beim Forschen, hoffnungslos und aufgelöst. Was mich angetrieben hat, war der Enthusiasmus, was möglich ist, wenn man Frauen mehr in den Mittelpunkt der Forschung stellt.“

Ihr Heimatland legt dabei vor: Die Ernennung von Dame Lesley Regan als „Gesundheitsbotschafterin für Frauen“ 2022 soll im Vereinigten Königreich die Gesundheitslücke zwischen den Geschlechtern schließen. Die Vorsorge soll effizienter und fairer gestaltet und Hürden abgebaut werden. Der wichtigste Erfolg dieser Ernennung einer Gesundheitsbotschafterin ist womöglich nicht einmal direkt greifbar. Es wird Frauen damit gezeigt: Wir hören euch zu. Denn laut Bigg trauen sich viele Frauen nicht, zum Arzt zu gehen, aus Angst, dass ihre Schmerzen oder Sorgen nicht ernst genommen werden.

2021 startete der staatliche Gesundheitsdienst NHS in Großbritannien bereits einen Versuch, um diese Angst vorm Praxisbesuch nicht zu einer Gefährdung für die Gesundheit werden zu lassen: Über 31.000 Frauen erhielten im Rahmen der Aktion Kits, mit denen sie HPV-Abstrichtests bequem daheim durchführen konnten.

Diese kleinen Erfolge sind wichtig, doch ich frage Bigg, was es bedarf, um das System an sich zu ändern. „Mehr Frauen in der Forschung, mehr Patientinnen in Studien. Nur so kann eine echte Repräsentation aller Körper gewährleistet werden.“

Denn gendergerechte Medizin heißt nicht gleich Frauenmedizin. Bei der Behandlung von Depression und Osteoporose sind beispielsweise bislang Männer im Nachteil, bei der Behandlung von Herzerkrankungen die Frauen. Oder wie Bigg es sagt: „Das Ziel einer gerechteren Medizin ist erst erreicht, wenn das Geschlecht keine Rolle mehr spielt.“

Unsere Lesetipps zum Thema:

• „Unsichtbare Frauen Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“ von Caroline Criado-Perez
• „Wir sind doch alle längst gleichberechtigt!“ von Alexandra Zykunov
• „Gendermedizin: Warum Frauen eine andere Medizin brauchen: Mit Praxistipps zu Vorsorge und Diagnostik“ von Schmid-Altringer, Dr. med. Stefanie
• „This Won’t Hurt: How Medicine Fails Women“ von Marieke Bigg 

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    Viktoria Franke

    Unsere Chefredakteurin a.D. Viktoria begann noch während des Studiums, als Sportjournalistin durch die Welt zu ziehen. Mittlerweile berät sie kleine Einzelkämpfer und große Unternehmen in ihrer Innen- und Außenkommunikation und organisiert weltweit Pressebereiche bei Sportevents. Good News sind bei all dem Trubel genau so wichtig für ihre mentale Gesundheit wie ein Stück Schokolade.

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