Das Schwedische Forschungsinstitut für Straßen- und Verkehrswesen hat erstmals einen weiblichen Crashtest-Dummy vorgestellt, um geschlechterunabhängig mehr Sicherheit im Verkehr zu garantieren.
Die Daten zeigen, dass Frauen bei Verkehrsunfällen im Durchschnitt doppelt so häufig verletzt werden wie Männer. Vor allem die Zahl der Nackenverletzungen ist bei Frauen besonders hoch. Diese Erkenntnis scheint landesunabhängig, wie Studien auf der ganzen Welt zeigen.
Das Schwedische Forschungsinstitut für Straßen- und Verkehrswesen (VTI) hat daher an neuen Bewertungsinstrumenten für Autositze sowohl für die durchschnittliche Frau als auch für den durchschnittlichen Mann geforscht. “Wir und eine Gruppe europäischer Forscher haben bereits vor etwa zehn Jahren mit der Entwicklung eines Prototyps im Rahmen eines früheren EU-Projekts mit dem Sitzbewertungsinstrument begonnen. Dann erhielten wir eine Vinnova-Förderung (das Schwedische Zentralamt für Innovationssysteme, Anm. d. Red.), um ein neues Konzept für die Wirbelsäule zu entwickeln“, sagt Dr. Astrid Linder, Professorin für Verkehrssicherheit am VTI und verantwortlich für die Entwicklung des Forschungsbereichs Crashsicherheit und Biomechanik.
Die Dominanz des 50-Perzentil-Manns
Seitenairbags, Nackenstützen, Gaspedale – in einem Auto ist alles normiert für den sogenannten 50-Perzentil-Mann. Er wiegt 78 Kilogramm und misst 1,75 Meter. Die eine Hälfte der europäischen Männer ist größer, die andere kleiner. Dieser Norm-Dummy wird heute für die meisten Crashtests verwendet.
Der Crashtest-Dummy, der bisher als Stellvertreterin für Frauen verwendet wurde, ist eine verkleinerte Version der männlichen Puppe und hat ungefähr die Größe eines 12-jährigen Mädchens. Nimmt man weibliche Durchschnittsgrößen an, entspricht die Puppe mit einer Größe von 149 cm und einem Gewicht von 48 kg nicht einmal fünf Prozent der Frauen weltweit.
Dummies sollen menschenähnlicher werden
Eva, so heißt der weibliche Dumy, soll nun deutlich lebensechter werden. Der Schwerpunkt bei ihrer Entwicklung lag auf menschenähnlichen Bewegungen der Wirbelsäule, des Nackens und der Schultern sowie auf einer realistischen Weichheit des Körpers, um eine gute Interaktion mit dem Fahrzeugsitz zu ermöglichen. Die Teile sind mit sehr hoher Präzision hergestellt. Eva ist 1,62 Meter groß und wiegt 62 Kilogramm. Ihr Körper ist weiblicher geformt und verfügt über einen anderen Schwerpunkt, indem beispielsweise Hüften und Becken unterschiedlich ausgeprägt sind. Auch Torso und Muskeln sind realistischer aufgebaut.
Schließen des Gender Safety Gap
Dass Autos aufgrund der bisher fehlerhaften Tests unsicherer für Frauen sind, ist Teil des sogenannten Gender Data Gap, den Autorin Caroline Criado-Perez in ihrem Buch “Invisible Women” 2019 einer breiten Öffentlichkeit geläufig machte. Der Begriff bezeichnet eine geschlechterspezifische Datenlücke – fehlende oder unterrepräsentierte Datenbetrachtung und -erhebung für ein bestimmtes Geschlecht. Sehr oft geht dabei der Gender Data Gap zuungunsten von Frauen und kann sogar zu einem Gender Safety Gap werden:
“Doch das Problem ist nicht nur, dass etwas verschwiegen wird. Die Leerstellen und das Schweigen haben ganz alltägliche Folgen für das Leben von Frauen. Diese Folgen können relativ gering ausfallen, etwa wenn Frauen frieren, weil die Temperaturnormen in Büros an den Bedürfnissen von Männern ausgerichtet sind, oder wenn sie ein Regal nicht erreichen können, das gemäß der Norm nach männlicher Körpergröße gebaut wurde. Gewiss, solche Dinge nerven. Und sind zweifellos ungerecht.
Aber sie sind nicht lebensbedrohlich – anders als bei einem Unfall mit einem Auto, dessen Sicherheitsvorrichtungen weibliche Körpermaße nicht berücksichtigen. Anders als bei einem unerkannten Herzinfarkt einer Frau, dessen Symptome als »untypisch« gelten. Für Frauen in diesen Situationen kann das Leben in einer Welt, die auf männerbezogenen Daten basiert, tödliche Folgen haben.”
Auszug aus “Invisible Women” von Caroline Criado-Perez
Das schwedische Team will diese Lücke schließen. Das Interesse an den schwedischen Modellen ist international sehr hoch. Derzeit werden Gespräche mit Prüforganisationen in Europa und den USA geführt. Ziel ist es, die Entwicklung der schwedischen Modelle abzuschließen, sodass sie in der Praxis zur Bewertung des Schutzes vor Schäden bei einem Unfall eingesetzt werden können.
Nun gibt es nur noch eine Hürde: Das Zulassungsverfahren in der EU schreibt aktuell explizit den 50-Perzentil-Mann für Zulassungsverfahren vor:
“Die Abmessungen und Massen der Prüfpuppe für den Seitenaufprall entsprechen denen eines männlichen Erwachsenen () ohne Unterarme.
ECE-Regelung R95
Dr. Astrid Linder fordert, dass sich diese Regelung ändert. Die Vereinten Nationen überprüfen bereits, ob sie ihre Vorschriften künftig anpassen.
Beitragsbild: Elsa B Landtblom & Satu/VTI