Bei der EM 2021 in Basel turnte die Deutsche Frauen-Nationalmannschaft in langen Turnanzügen. 2022 zog mit dem KSV Hoheneck die erste Vereinsmannschaft nach.
Nach dem Auftritt der deutschen Turn-Nationalmannschaft in langen Turnanzügen entbrannte innerhalb des Bundesliga-Vereins KSV Hoheneck eine Debatte darüber, ob die Drittliga-Mannschaft es ihr nicht gleichtun sollte. Vorne mit dabei Uta Ziegler, die Trainerin der Damenmannschaft, die maßgeblich an der Umsetzung und Einführung der Anzüge innerhalb des KSV beteiligt war. „Ein Herzensprojekt“, wie sie es selbst beschreibt. Denn in erster Linie gehe es ihr darum, dass sich ihre Turnerinnen wohl fühlen. Während des Wettkampfs sollte man sich keine Gedanken darum machen müssen, ob man etwas sieht, was man nicht sehen sollte, meint sie.
Ein scheinbar kleiner Schritt mit großer Bedeutung
In den älteren Versionen des Code de Pointage, den Wertungsvorschriften des Leistungsturnens, wurde das Tragen von langen Hosen nicht explizit erwähnt. Seitdem Sexismus im Leistungssport immer mehr in den Fokus des öffentlichen Diskurses rückt, wurden die Regelungen etwas angepasst. Turnanzüge dürfen „mit langen von der Hüfte bis zum Knöchel reichenden Beinen“ getragen werden. Eine Änderung, die für Nicht-Turnende auf den ersten Blick vielleicht weniger bedeutsam erscheint. Tatsächlich wird einem der Unterschied erst beim Tragen beider Anzüge bewusst.
Das betont auch Mona Ziegler, eine Turnerin des KSV Hoheneck, einem süddeutschen Verein: „Am Anfang bestand kein Bedarf nach anderer Kleidung, weil man es nicht anders gewohnt war. Aber nachdem man im Verein und der Mannschaft darüber gesprochen hatte, fand das Projekt immer größeren Zuspruch.” Vor allem Selbstbestimmung und der Gedanke daran, freier turnen zu können, überzeugte letztendlich. Das Projekt schlug auch außerhalb des Kultur- und Sportvereins, vor allem über Social-Media, große Wellen. Durch einen Spendenaufruf der Mannschaft fanden sich auch einige Sponsor:innen, die das Projekt finanziell freudig unterstützten.
Hochrangige Unterstützung
Die wohl beste Nachricht kam aber von der ehemaligen Deutschen Bundestrainerin Ulla Koch. Sie stellte den Kontakt zu Stefanie Kusemann her, die die Turnanzüge der Nationalmannschaft designt. Ein riesiger Schritt hin zur Finalisierung des neuen Turndress. Mit ihren langjährigen Erfahrungen und Ideen entstand daraufhin der schwarz-pinke langbeinige Turnanzug, der auch auf TikTok viral ging. „Wir waren von den ganzen positiven Rückmeldungen überwältigt und sind es immer noch. Wir hätten nie damit gerechnet, dass dieses Projekt so gut ankommt!“ erzählt Mona Ziegler. 760.000 Aufrufe, über 1.000 Kommentare. O-Töne wie „Hätte es das bei mir gegeben, hätte ich vielleicht nicht aufgehört“ oder „Bravo, endlich!!“ zeigen, dass knappe Outfits im Sport generell, nicht nur im Turnen, ein zu wenig besprochenes Thema sind. Diskussionen um Kleidervorschriften wie die im Beachvolleyball oder Beachhandball unterstreichen die Thematik nochmals.
„Es geht nicht darum, dass ab jetzt keine kurzen Anzüge mehr getragen werden, sondern darum, dass du die Wahl hast! Wenn du dich wohler in einem kurzen Turndress fühlst, dann zieh einen kurzen Turnanzug an. Wenn du aber lang tragen möchtest, dann kannst du das ab jetzt auch ohne Abzüge zu bekommen“, sagt Mona Ziegler. Sie selbst war tatsächlich am Anfang nicht direkt überzeugt von der Idee. „Ich habe mich nie wirklich unwohl in meinem Anzug gefühlt. Wir kleben den meistens so fest, dass eigentlich nichts verrutschen sollte. Aber klar ist es unangenehm, wenn du merkst, der Kleber hält nicht und du darfst den Anzug nicht wieder richten!“ Mittlerweile möchte sie ihn aber nicht mehr missen. „Man ist auf einmal viel selbstbewusster und vor allem am Boden wirkt alles eleganter!“ Und auch Uta Ziegler bestätigt: „Man sieht es den Mädels an! Sie strahlen viel mehr Stärke aus und wirken stolz. Es ist wirklich schön, das zu sehen!“ Der KSV Hoheneck beweist: Manchmal muss man einfach nur mutig sein, und für das einstehen, was einem wichtig ist. Das allgemeine positive Feedback zeigt, dass lange Turnanzüge Gerätturnen keineswegs negativ beeinflussen. Stattdessen sorgen sie dafür, dass sich die Sportlerinnen auf das konzentrieren können, was wirklich zählt: die sportliche Leistung.
Beitragsbild: KSV Hoheneck / Georg Hrivatakis