das ist ein GNM+ Artikel800 % – Ein Dorf produziert acht Mal mehr Energie, als es verbraucht

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von | 7. Februar, 2021

Europaweites Leuchtturmprojekt regenerativer Energieerzeugung kommt aus dem Allgäu

Als „Energiedorf“ hat die kleine Gemeinde Wildpoldsried mit ihren 2.600 Einwohner:innen in ganz Europa auf sich aufmerksam gemacht. Zwei Mal heimste das Allgäuer Dorf den European Energy Award (EEA) in Gold ein – mit der höchsten Punktzahl unter 1.500 europäischen Kommunen. Und warum? Weil die Gemeinde 800 Prozent mehr Energie erzeugt, als sie selbst verbraucht und dabei auf eine ausschließlich regenerative und nachhaltige Energiegewinnung setzt. Während die Bundesregierung bis 2030 plant, 65 Prozent des Energiebedarfs aus regenerativen Alternativen abzudecken, hat Wildpoldsried vor Jahrzehnten selbst die Initiative ergriffen und den Grundstein des heutigen Status Quo gelegt.

Good News Magazin-Redakteur Dominik Baum hat mit Renate Deniffel, seit Mai letzten Jahres Erste Bürgermeisterin von Wildpoldsried, über die Entwicklung ihrer Gemeinde zum Energiedorf gesprochen. Im Interview stellt die ehemalige Büroleiterin im Wahlkreisbüro von Bundesentwicklungsminister Gerd Müller, MdB, in Kempten, klar: sie will sich nicht auf den Lorbeeren und Erfolgen ihres Amtsvorgängers Arno Zengerle ausruhen. Und sie offenbart außerdem ihre ambitionierten Zukunftsvisionen als Bürgermeisterin.

Mit Eigeninitiative zum Vorbild – Bürgmeisterin Renate Deniffel im Interview

DOMINIK BAUM: Frau Deniffel, wann und vor allem wie nahm die Entwicklung zum Energiedorf Wildpoldsried ihren Anfang?

RENATE DENIFFEL: Auslöser war das bundesweite Stromeinspeisungsgesetz. 1991 wurden Energieunternehmen dazu verpflichtet, Energie aus regenerativen Quellen annehmen und vergüten zu müssen. Diese Grundidee markierte den Startpunkt für Wildpoldsried, den Ausbau regenerativer Energien zu fördern. Sieben Jahre später, 1998, definierte der damalige Gemeinderat auf einer Klausur unter dem Motto „Wildpoldsried Innovativ Richtungsweisend – Ein Dorf geht seinen Weg“ die Ziele für das Jahr 2020. Unsere Visionen im Bereich der regenerativen Energien haben wir bereits 2010, also zehn Jahre vorher, erreicht.

BAUM: Das legt die Vermutung nahe, dass Sie die Bürger:innen mit der Vision eines Energiedorfs erreicht haben. Wie ist Ihnen das gelungen?

DENIFFEL: Von Anfang an wurden die Bürger:innen mit einer umfassenden Fragebogenaktion in den Prozess einbezogen. Ein zweiter Motor war der finanzielle Aspekt. Regionale Wertschöpfung war das ausgerufene Ziel. Die Identifikation zum Projekt entstand durch die eigene Beteiligung der Bürger:innen. Wir machten transparent, dass kein großer Konzern im Hintergrund die Gewinne abschöpft, sondern sie selbst. So konnten im Jahr 2000 bei 30 Beteiligungen die ersten zwei kleinen Bürgerwindkraftanlagen an den Start gehen. 2015 waren es neun Windkraftanlagen und 600 Bürgerbeteiligungen.

BAUM: Gerade, wenn es um Windkraft geht, liest man immer wieder von Widerständen aus der Bevölkerung. Stichwort 10-H-Regelung. Wie war es um die Skepsis Ihrer Einwohner:innen bestellt?

DENIFFEL: Auch bei uns waren die Bedenken und Vorbehalte groß. Im Jahr 2000 waren Windkraftanlagen ein Novum im Allgäu, weshalb viel Aufklärungsarbeit betrieben worden ist. Als es um den Bau weiterer Anlagen ging, fiel ein Votum mit 51 zu 49 Prozent pro Windkraft denkbar knapp aus. Letztlich war die Gemeinwohlorientierung und eigene Beteiligung entscheidend dafür, dass unsere Windräder heute die fünffache Energieleistung von dem, was unsere Gemeinde verbraucht, erzeugen.

BAUM: Insgesamt produziert die Gemeinde acht Mal mehr, als sie verbraucht. Hierzu setzt Wildpoldsried auch auf Sonnenenergie

DENIFFEL: Richtig. Allein mit unseren 300 privaten Photovoltaikanlagen könnte der jährliche Strombedarf der Gemeinde gedeckt werden. Für unsere Vereine stellen wir die Dächer unserer kommunalen Gebäude zur Verfügung. Dort werden in Eigenleistung PV-Anlagen montiert und die jährliche Gewinnausschüttung von jährlich rund 50.000 Euro kommt dem Vereinsleben zugute. Da die EEG-Einspeisevergütung weniger lukrativ als früher ist, steigt die Motivation der Eigenstromnutzung und das Interesse an Batteriespeichersystemen. Diese Gemeinde ist ein geradezu idealer Standort für die 2010 gegründete Firma sonnen, die inzwischen weltweiter Marktführer im Bereich der Solarstromspeicher ist. Als Mitglied der so genannten „sonnen-community“ sehen die Nutzer:innen, wo in der Gemeinde und darüber hinaus gespeicherter Strom abgerufen werden kann. Dieses dezentrale Speichersystem dient auch dem Ausgleich von Netzschwankungen.

Windradfest in Wildpoldsried – der Tesla steht mir glänzend 😅👍

Gepostet von Renate Deniffel am Sonntag, 4. August 2019

BAUM: Welche weiteren Energieformen nutzt die Gemeinde?

DENIFFEL: 2005 startete das Projekt der Dorfheizung, um in Privathaushalten möglichst viele alte Ölkessel durch ökologischere Pelletkessel zu ersetzen. Später hat ein Landwirt eine große Biogasanlage gebaut und von seinem Bauernhof ausgehend auf eigene Initiative eine vier Kilometer lange Gasleitung nach Wildpoldsried gelegt, sodass die Biogasanlage an die Dorfheizung gekoppelt werden konnte. Zwischenzeitlich wurde das Nahwärmenetz der Gemeinde sieben Mal erweitert. Dieses Jahr folgen zwei weitere Straßenzüge, um in Neubauten von Beginn an auf Biogasbasis zu heizen und in Bestandsgebäuden weitere Ölheizungen auszutauschen. Andere Landwirte der Gemeinde griffen die Idee von Biogasanlagen auf und profitieren heute davon, nicht nur Land-, sondern auch Energiewirte zu sein. Das reicht so weit, dass der bei den Biogasanlagen entstehende Stickstoff rückgewonnen und von den Landwirten zur Düngung auf die Felder ausgebracht wird. Uns ist es jedoch wichtig, nicht nur mehr regenerative Energie zu produzieren, sondern Einsparpotentiale zu prüfen.

BAUM: Haben Sie ein Beispiel?

DENIFFEL: Wir haben die gesamte Straßenbeleuchtung in der Gemeinde auf LED umgestellt und dadurch 70 Prozent des Stromverbrauchs, und natürlich auch der Kosten, eingespart. Die einzelnen Bürger:innen versuchen wir mit gezielten Aktionen zum Mitmachen zu animieren. Beispielsweise haben wir von der Gemeinde eine Sammelbestellung von Hocheffizienzpumpen veranlasst. Dadurch konnten alle Interessierten bei sich zu Hause auf eine CO2-freundlichere Wärmepumpe umstellen – und das bei einem günstigen Stückpreis.

BAUM: Wie viel Geld musste für all diese Maßnahmen in die Hand genommen werden?

DENIFFEL: Alle Klimaschutzprojekte zusammengerechnet, wurden in den letzten 20 Jahren rund 50 Millionen Euro investiert. Hierin inbegriffen sind weitere Maßnahmen wie drei gemeindliche E-Autos und E-Fahrräder, E-Tankstellen und eine klimafreundliche Holzbauweise bei öffentlichen Gebäuden.

BAUM: Wie konnte eine kleine Gemeinde wie Wildpoldsried diese Summe aufbringen?

DENIFFEL: Indem sich Bürger:innen und Unternehmen selbst eingebracht haben. Für Windkraft, Sonnenenergie und Biogas wurden aus privater Tasche 37 Millionen Euro gezahlt. Das sind bei 2.600 Einwohner:innen pro Kopf im Schnitt 14.000 Euro.

BAUM: Wie darf ich mir die Zusammenarbeit zwischen der Gemeinde, der Wirtschaft und den Bürger:innen vorstellen?

DENIFFEL: Wir haben in Wildpoldsried verstanden, dass wir einander brauchen und es Mut erfordert, als Vorbild voranzugehen und Hürden als Herausforderung anzunehmen. Die Gemeinde stellt zum Teil die für die Projekte notwendigen Bauflächen bereit, Unternehmen setzen das Vorhaben letztlich um. Neben sonnen haben sich weitere Wildpoldsrieder Firmen gegründet, die an unseren Energieprojekten maßgeblich beteiligt sind. Die Bürger:innen können beispielsweise in Windkraft investieren und sich über Gewinnbeteiligungen freuen. Außerdem profitiert die Gemeinde durch Gewerbesteuereinnahmen, die es ermöglichen, andere Bauvorhaben umzusetzen. Im Frühjahr wird zum Beispiel ein neues Dorfgemeinschaftshaus gebaut. Dieser Kreislauf, wie letztlich alle Akteur:innen voneinander profitieren, wurde verinnerlicht.

BAUM: Glauben Sie, dass sich das Vorgehen auf andere Kommunen übertragen lässt?

DENIFFEL: Ja. Es müssen ja keine 800 Prozent werden, aber 100 Prozent sind bei einem Energiemix regenerativer Alternativen und dem unbedingten Willen zur Veränderung leistbar.

BAUM: Auf welche Energieprojekte in Wildpoldsried dürfen wir uns in Zukunft freuen?

DENIFFEL: Derzeit wird der Bau eines Elektrolyseurs geprüft, der den aus unseren Windkraftanlagen erzeugten Strom in Wasserstoff umwandelt und als Energieträger genutzt werden kann. Meine Vision ist es, damit einen autonom betriebenen Schienenbus zu ermöglichen, inklusive Bahnhalt im Ort, der den öffentlichen Personennahverkehr stemmt. 

BAUM: Gibt es noch einen Punkt, den Sie gerne anführen möchten?

DENIFFEL: Eine Sache ist mir tatsächlich noch wichtig. Um der Verantwortung für unsere eine Welt gerecht zu werden, beteiligt sich die Gemeinde zusammen mit weiteren Partnern am Projekt „Grüne Energie für Afrika“. Hierbei bilden deutsche Berufsschullehrer:innen afrikanische Gäste im Umgang mit einer autarken Stromversorgung aus und ermöglichen so eine höhere Lebensqualität in Afrika.

BAUM: Frau Deniffel, ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Zeit und die spannenden Einblicke, wie die Energiewende zumindest im Kleinen gelingen kann.

DENIFFEL: Sehr gerne.

Renate Deniffel

„Wir haben in Wildpoldsried verstanden, dass wir einander brauchen und es Mut erfordert, als Vorbild voranzugehen und Hürden als Herausforderung anzunehmen.“
– Renate Deniffel, Bürgermeisterin von Wildpoldsried

Titelbild: © Gemeinde Wildpoldsried
Bild im Text: © Renate Deniffel, privat

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