Es gibt einen entspannteren und offeneren Umgang mit dem Tod, als wir das in westlichen Kulturen oft zelebrieren. Was sich hinter dem Death-Positive-Movement versteckt.
Der Tod ist in unserer Kultur ein großes Tabuthema. Während er in Romanen, Theaterstücken, Filmen und Liedern zum Mitfiebern und Mitleiden akzeptiert wird, finden Gespräche darüber – oder über das Sterben – im Alltag eher selten statt. Menschen möchten nicht über solch traurige Themen sprechen oder halten es für makaber. Dabei könnte das Gegenteil richtiger und wichtiger sein: Ein offener Umgang kann dem Tod seinen Schrecken nehmen. Dass das Interesse da ist, zeigen zahlreiche Buchangebote rund um das Thema “Lasst uns über den Tod sprechen”. Zugleich hat sich mit dem Death-Positive-Movement eine Bewegung entwickelt, die einen offeneren und realistischen Umgang mit dem Tod und dem Sterben fordert.
Death-Positive-Movement – was heißt das?
Positiv zu sein, ist nach den letzten zwei Jahren nun nicht unbedingt mehr positiv konnotiert. Schon gar nicht in Verbindung mit dem Tod. Doch die Death-Positive-Bewegung setzt dort an, wo zuvor schon body-positive oder sex-positive begannen und wirbt für eine Entmystifizierung und eine aktive Auseinandersetzung mit ihrer Thematik. Und diese Thematik ist der Tod. Wir alle müssen sterben – warum gibt es also ein solches Stigma um den Tod?
Dass dieses Stigma nicht sein muss, zeigt eine Bewegung, die in den Vereinigten Staaten ihre Wurzeln hat: „The Order of the Good Death” wurde 2011 von der US-amerikanischen Bestsellerautorin Caitlin Doughty gegründet, nachdem sie als junge Bestatterin aus erster Hand erfahren hatte, wie die Bestattungsbranche Familien sowohl finanziell als auch emotional in Sackgassen führte. Mittlerweile vereint der “Orden des guten Todes” eine Gemeinschaft von Fachleuten aus der Bestattungsbranche, Akademiker:innen und Kunstschaffenden, deren Arbeit sich in eine internationale, todesbejahende Bewegung entwickelt hat.
Dieser Artikel ist aus unserem Printmagazin und kann hier auch online gelesen werden. Du willst diesen und weitere Beiträge sowie besondere Formate gedruckt lesen? Dann schau gerne mal bei unserem Abo vorbei: GNM+ Abo Keine Lust auf Abo? Dann kannst du unsere Magazine hier mit tiun als ePaper lesen. |
“Kann Oma ein Wikingerbegräbnis haben?”
Todesbejahend? Das ist wohl die treffendste Übersetzung für eine death-positive Einstellung. Das heißt keinesfalls, dass Betroffene nicht trauern oder der Tod eines geliebten Menschen weniger schmerzhaft ist. Aber der Umgang damit wird realistischer. Vielleicht sogar entspannter. Es heißt, zu akzeptieren, dass der Tod dazu gehört und dass man offen darüber nachdenken und reden darf. Etwas, das Kinder schon immer können, auf dem Weg zum Erwachsensein aber verlernen:
“Ich finde es toll, wie frei Kinder über Leichen sprechen können. Ohne es zu beschönigen, ohne dass es um Forensik oder Wissenschaft geht. Sie können sich einfach unverhohlen für den toten Körper interessieren. Ich glaube, Erwachsene sind auch so, aber die Gesellschaft sagt uns, dass es morbide oder eklig ist, sich dafür zu interessieren. Meine Lieblingsfragen sind Fragen wie “Kann ich das mit einer Leiche machen?”. Zum Beispiel: Kann Oma ein Wikingerbegräbnis haben oder kann ich den Schädel meines Vaters behalten? Die Antwort auf beide Fragen ist leider nein. Wikingerbegräbnisse sind nicht so, wie man sie in Filmen sieht. Das Boot würde zu schnell verbrennen und über einen längeren Zeitraum nicht genug Wärme abgeben. Man hätte einen halb verkohlten Leichnam, der im Wasser herumtreiben würde. Das ist weder so romantisch noch so toll, wie du vielleicht denkst.”
Caitlin Doughty
Ein kulturell bedingtes Stigma
Dass ein solch interessierter Umgang mit dem Tod in unseren Breitengraden nicht selbstverständlich ist, hat vor allem kulturelle Hintergründe. In anderen Kulturen hat eine todesbejahende Beziehung zum Sterben lange Tradition. Das wohl bekannteste Beispiel ist der mexikanische “Día des los Muertos”, der nicht zuletzt mit “Coco” erst die Kinosäle und dann die Herzen der Welt eroberte. Drei weniger bekannte Rituale zeigt unsere Karte.
Toraja – Indonesien
Das in den Bergen Indonesiens lebende Volk der Toraja mumifiziert die Körper seiner Verstorbenen und versorgt sie nach dem Tod im Haus mit Nahrung, Kleidung, Wasser oder auch Zigaretten. Erst wenn sich die Familie ein pompöses Begräbnis leisten kann, werden die Leichname begraben – bis dahin erleichtert die verzögerte Beerdigung den Trauerprozess.
Traditionell im August findet das Ma’nene-Ritual statt. Die Toten werden bei dieser “Ahnenpflege” aus ihren Gräbern geholt, gereinigt, mit neuer Kleidung versehen und ins Dorf gebracht. Angehörige reisen weit, um bei einem großen Festmahl wieder mit den Toten vereint zu sein, jüngere Generationen treffen so erstmals ihre Vorfahren. Man raucht und spielt mit ihnen, posiert für Selfies und macht ihnen Geschenke, bevor sie in den Sarg zurückgebracht werden. Torajaner lernen so von klein auf, mit dem Tod umzugehen und ihn als Teil der Reise zu akzeptieren.
Día de las Ñatitas – Bolivien
Das Fest der Ñatitas (dt. “Stumpfnase”) ist ein traditioneller Ritus in Bolivien, der jedes Jahr am 8. November gefeiert wird. Tausende strömen auf den Friedhof von La Paz, um Schädel vergessener Gräber oder jene von Verwandten zu ehren. Die Totenköpfe werden geschmückt und ihnen werden Süßigkeiten, Alkohol und Zigarren angeboten. Damit soll den Verstorbenen für ihre Gunst und Fürsorge gedankt werden – denn die ñatitas schützen die Familien, in denen sie gehalten werden.
Kotsuage, Japan
Auch in buddhistischen Familien spielen die Angehörigen eine zentrale Rolle in der Trauerfeier. Alle Trauernden beteiligen sich am Zunageln des Sargdeckels, indem sie symbolisch mit einem Stein auf einen der Sargnägel klopfen. Die engste Familie begleitet den Sarg dann ins Krematorium. Die Verbrennung darf weder zu heiß noch zu lang sein, denn die übrig bleibenden Knochenreste sind es, die in der Urne begraben werden. In einem speziellen Ritus, dem kotsuage („Aufheben der Knochen“) werden die Knochen von den Familienmitgliedern mit langen Stäbchen aus der Asche geholt, von einem zum anderen weitergegeben und schließlich in die Urne gelegt. Das kotsuage-Ritual erklärt auch, warum Speisen in Japan niemals direkt von Essstäbchen zu Essstäbchen weitergereicht werden und sich Stäbchen während einer Mahlzeit nie berühren dürfen.
Es gibt Dutzende spannende Rituale und wer sich dafür interessiert, dem empfehle ich wärmstens Doughty’s Buch “Wo die Toten tanzen – Wie rund um die Welt gestorben und getrauert wird”. Doughty selbst geht es nicht darum, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod lustig ist oder ein Fest ist, sondern dass sie notwendig ist:
“Die Kulturen mit dem gesündesten Verhältnis zum Tod sind diejenigen, die sich mit ihm auseinandersetzen, weinen, lachen, ihre Gefühle ausleben, trauern und Rituale abhalten – manchmal Rituale, die sich über Jahre hinziehen. In Gegenden Mexikos, die eine enge Beziehung zum ‘Dia de los Muertos’ haben, ist die ganze Gemeinschaft anwesend, lacht und weint und feiert die Rückkehr der Toten. Das Gleiche gilt für das ‘Ma’nene’ im ländlichen Indonesien oder das ‘Obon-Fest’ in Japan. Es sind Kulturen, in denen die Arbeit und das tägliche Leben aufhören, wenn jemand stirbt, und die dann noch Jahre später die Verstorbenen feiern und sie mit Festen ehren. In Ländern wie den Vereinigten Staaten – und ich denke, ihr werdet das in Deutschland auch so sehen – hat man oft das Gefühl, dass es dafür keine Struktur gibt. Es gibt keine Zeit und keinen Raum für tiefe Trauer und keine anerkannten Feste, um die Toten zu ehren und ihr Andenken lebendig zu halten.”
Caitlin Doughty
Unendliche Möglichkeiten für das Ende – (noch) nicht überall
Wer sich einmal dem Thema Sterben und der Bestattung öffnet, sieht fortan so viele Möglichkeiten für ein Ende, wie man es sich selbst wünscht. Ängste und Fragen können in Death Cafés mit anderen Interessierten besprochen werden, es gibt mit den Death Doulas “Hebammen”, die einen aus der Welt hinausbegleiten, so wie sie uns einst hinein begleiteten. Nach dem Tod kann man seinen Körper der Wissenschaft spenden, in der Ausstellung Körperwelten verewigt oder von Geiern während der buddhistischen Himmelsbestattung in Nepal gefressen werden. Man kann sich im US-amerikanischen Colorado kompostieren lassen oder seine Asche in England hinter das Tor von Manchester United streuen lassen.
Und in Deutschland? Gilt der Friedhofszwang. Eric Wrede, Gründer von Lebensnah Bestattungen, war früher Musikmanager und ist heute nicht nur Bestatter, sondern mit seinem Buch “The End” auch Bestseller-Autor und Podcaster auf radioeins. Er sieht den Friedhofszwang kritisch und ist einer der lautesten Advokaten für ein Ende desselben:
“Da wird gute Lobbyarbeit gemacht. Die Gemeinden haben eine Einnahmequelle in den Friedhöfen. Die Kirchen halten einen der letzten Bereiche, wo sie sich eine Deutungshoheit wünschen, so weit geschützt, dass jegliche Liberalisierung häufig an ihnen scheitert. Last but not least, sind es die großen Bestatterverbände, die ihre Felle davonschwimmen sehen. Doch all dieses Festhalten – zumindest am Friedhofszwang für menschliche Asche – hat keine belegbaren Argumente. In all den Ländern, wo Trauer und der Umgang mit Verstorbenen mehr Privatsache ist, als in Deutschland, landen die Urnen ja auch nicht auf dem Müll. Eins kann ich aus unserer Arbeitserfahrung sagen: Der Wunsch, nicht auf einen Friedhof oder ähnlichen Ort zu gehen, kommt bei den von uns begleiteten Familien eher aus Liebe und dem Wunsch, den Verstorbenen gerecht werden zu wollen, denn dem Gegenteil”
Eric Wrede.
Was er sich für eine Bestattungskultur in Deutschland wünschen würde? “Mir geht es um einen realistischen Umgang mit dem Tod. Einen Umgang, der nicht verklärt, der Schmerz zulässt, der dabei nicht traumatisiert und der das Sterben nicht in einen Bereich außerhalb unserer Gesellschaft verbannt.”
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt: Bremen hob 2015 als erstes Bundesland den Friedhofszwang für Totenasche auf – die Asche darf nunmehr auch auf privatem Grund verstreut werden. Zuletzt forderten die Grünen in Sachsen-Anhalt Anfang 2022 ein Ende der Sargpflicht und des Friedhofszwangs.
Dass der Tod langsam von den angesprochenen Bereichen außerhalb der Gesellschaft zurück in die Mitte wandert, zeigen die Erfolge von Wredes und Doughtys Büchern. Auch in den sozialen Medien ist der Tod Thema: Doughtys YouTube Kanal “Ask a Mortician” hat über 1,8 Millionen Abonnenten mit 200 Millionen Views und der Kanal “bestattungenburger” der bayerischen Bestatter Johannes und Luis Bauer verzeichnet bereits 21,2 Millionen Likes auf TikTok.
Irgendwann gehen wir vielleicht so realistisch mit dem Tod um, dass auch wir Erwachsenen wieder daran interessiert sind. Denn dann möchte man einfach die Antwort wissen, auf eine dieser Fragen, die ein Kind Caitlin Doughty stellte: “Wird meine Katze meine Augäpfel fressen, wenn ich tot bin?”
Nein. Eher weiche Teile wie Lippe oder Zunge.
Gern geschehen.