Alessia Argiolas setzt sich für einen offeneren Diskurs um die Themen Trauer und Tod ein – und schafft mit ihren selbstgenähten Erinnerungsstücken „Trost zum Anfassen“.
Der Tod eines geliebten Menschen gehört wohl zu den schlimmsten und schmerzhaftesten Erfahrungen überhaupt. Doch nach eigenen Erlebnissen glaubt Alessia Argiolas umso mehr, dass dem Thema durch einen offeneren Diskurs in Teilen der angsteinflößende Charakter genommen werden kann. Vor einem Jahr gründete sie darum das Label Herz & Stich und näht seitdem aus den Kleidungsstücken verstorbener Angehörigen individuelle Erinnerungsstücke – beispielsweise Elefanten, Hasen oder Schutzengel –, „Trost zum Anfassen“, wie sie es nennt.
Erinnerung an das Sternenkind
Sieben Jahre ist es her, dass Alessia Argiolas ein sogenanntes Sternenkind zur Welt brachte. Um das totgeborene Kind zu beerdigen, erhielten die Eltern im Krankenhaus einen Strampler mit einem kleinen Elefanten aus demselben Material, der den Eltern als greifbare Erinnerung dienen sollte. „Das hat uns unglaublich viel Kraft gegeben“, erinnert sie sich während eines Gesprächs im Esszimmer ihres liebevoll gestalteten Hauses in Bremen-Vegesack.
Sie trägt ein bunt geblümtes Shirt unter einer blauen Latzhose, ihr fröhlich schwingender, schwarzer Pferdeschwanz und ihre positive Grundausstrahlung stehen in einer seltsamen Diskrepanz zu unserem Gesprächsthema. Dachte ich zunächst jedenfalls. Denn während sie davon erzählt, wie ein weiteres Kuscheltier sie sowohl bei den Schwangerschafts-Untersuchungen als auch in der darauffolgenden Zeit begleitete und dabei zu etwas weitaus Symbolvollerem wurde als bloß Stoff und Füllwatte, erkenne ich so langsam, dass ich meine Erwartungshaltung eines nüchternen und durchweg tieftraurigen Gesprächs verwerfen muss. Trauern und Erinnern kann schließlich auch auf eine Art lebhaft sein.
Der Leuchtturm der Familie
Doch die schmerzhafte Erfahrung, einen geliebten Menschen zu verlieren, wiederholt sich, als Anfang 2020 der Schwiegervater der gebürtigen Italienerin stirbt, „der Mittelpunkt der Familie, ein echter Leuchtturm“, wie Alessia schwärmt, während sie stolz auf das Bild eines sanft lächelnden Mannes hinter sich an der Esszimmerwand zeigt. Es folgte die Corona-Pandemie. Eine einsame Zeit, in der sich ihre Schwiegermutter mit den Habseligkeiten ihres verstorbenen Ehemannes zunehmend überfordert fühlte. Berge an bunten Hemden des einstigen „Familienoberhauptes“ stapelten sich.
Für die kreative Unternehmerin der Beginn eines großen Projekts:
„Ich habe angefangen, daraus für jedes Familienmitglied etwas zu nähen. Unsere Kinder haben Kuscheltiere bekommen, jeder von uns ein Schlüsselanhänger“.
Die Aufgabe erfüllte sie – umso mehr, als ihre Schwiegermutter von der heilsamen Wirkung des Stoff-Elefanten berichtete, der ebenfalls aus den Hemden ihres Mannes entstanden war.
Eine sinnhafte Aufgabe
Das Projekt fiel in eine Zeit, in der Alessia, mittlerweile stolze Mutter zwei gesunder Töchter, eine neue berufliche Orientierung suchte. Während der Elternzeit wuchs der Wunsch nach einer sinnhaften Tätigkeit, ihren Bürojob im Logistikbereich wiederaufzunehmen wurde für die studierte Kommunikationswissenschaftlerin immer schwerer vorstellbar. „Ich habe nach einer Arbeit gesucht, bei der ich dachte: Das ist das Richtige für mich, damit kann ich mich identifizieren.“
Die Arbeit an der Nähmaschine, ein Hobby, das sie während der ersten Schwangerschaft für sich entdeckte, brachte sie schließlich zum Nachdenken: „Vielleicht ist es das, was ich die ganze Zeit gesucht habe, worauf ich gewartet habe: Meine Bestimmung auf dieser Welt.“ Kreativ war die junge Mutter schließlich schon immer: Als Kind wollte sie Modedesignerin werden, erzählt sie, heute zählen Stricken, Häkeln, Malen und Basteln zu ihren Hobbys. Also wagte sie den Schritt und gründete Herz & Stich. Seitdem gehören in ihrem Ein-Frau-Unternehmen nicht nur das Nähen, sondern etwa auch Social Media und Vertrieb zu ihren Aufgaben.
Den Tod ins Leben holen
Durch eine Kampagne auf der Crowdfunding-Plattform startnext erhielt sie erste Sichtbarkeit. Unterstützende konnten dort durch Spenden Menschen besondere Erinnerungsstücke ermöglichen, die sich diese nicht leisten können.
„Die Rückmeldungen von Menschen, die bei mir bestellen, ist für mich am schönsten. Ich freue mich total, wenn ich ihnen was geben kann.“
So erzählt die Gründerin etwa von einer Kundin, die lange einen großen Bogen um die Schublade mit der Kleidung ihres verstorbenen Bruders machte. Zu tief sei der Schmerz noch gewesen. „Nachdem aus der Kleidung mein Hoffnungsdackel geworden war, war die Angst weg und der Schmerz hat sich in Liebe verwandelt“, so die Kundin.
Durch ihre persönlichen Erfahrungen ist sich auch Alessia sicher: „Je mehr man die Erinnerungsstücke ins Leben holt, desto weniger schlimm ist es.“ Deshalb nähe sie Alltagsgegenstände wie Schlüsselanhänger oder Schals, die jeden Tag „die Trauerarbeit unterstützen, die sowieso nie endet, sondern sich nur verändert.“
So einzigartig wie die Menschen
Besonders gern erfülle sie auch individuelle Wünsche ihrer Kund:innen: Ein Stoff-Pferd als Erinnerung an einen Pferdeliebhaber etwa, ein Kuscheltier und Schlüsselanhänger aus der Motorradkleidung eines passionierten Harley-Fahrers oder kleine Stoff-Enten aus dem Mantel des Opas, der so gerne Enten züchtete. „Jedes Stück ist anders, so wie auch jeder Mensch anders ist“, betont die junge Mutter stolz. Sechs bis acht Stunden liebevolle Handarbeit stecken durchschnittlich in ihren Projekten. Mit teils besonderen Extras: Die Crowdfunding-Kampagne ermöglichte auch den Kauf einer Stickmaschine, mit der Alessia nun Handgeschriebenes und -gemaltes zu Stoff bringt.
Dabei erfährt sie nach Auftrag auch mal mehr, mal weniger über die Hintergründe: „Einige möchten unbedingt darüber reden, andere fühlen sich noch nicht so weit.“ Außerdem betont sie, wie viel Vertrauen nötig sei, die wertvollen Kleidungsstücke in fremde Hände zu geben: „Gerade deswegen gehe ich sehr offen mit meiner eigenen Geschichte um. Die Menschen sollen wissen, mit wem sie zu tun haben.“
Für einen positiveren Umgang mit dem Thema Tod
So habe sich auch ihr eigener Umgang mit dem Thema positiv verändert: „Dadurch, dass ich mich damit beschäftige, dass unser Leben endlich ist und wir nie wissen, wie lange wir auf dieser Erde sein dürfen, versuche ich umso mehr, das Beste daraus zu machen. Ich rufe mir jeden Tag ins Gedächtnis:
Herz & Stich ist für die in Rom geborene Bremerin sehr viel mehr als „nur“ Selbstgemachtes. Insbesondere, da sie erlebt, wie schwer nachvollziehbar es für viele Menschen ist, sich freiwillig so viel mit Trauer zu beschäftigen. Doch sie selbst verfolgt bei ihrer Arbeit einen sehr konstruktiven Ansatz: „Ich lenke meine Aufmerksamkeit darauf, dass die Erinnerungsstücke für die Angehörigen sehr wertvoll sind“.
„Schau, was Schönes auf dieser Erde ist und versuche, deinen positiven Beitrag zu leisten.“
Ihren Töchtern antworte sie dementsprechend auf die Frage, wieso Menschen sterben müssten: „Wenn wir alle leben würden, gäbe es keinen Platz mehr auf dieser Erde und es könnten keine Kinder mehr geboren werden oder keine Tiere. Keine Welpen würden mehr geboren werden, wenn alle Hunde ewig lebten. Das ist der Kreis des Lebens.“ Ihre vier- und sechsjährigen Töchter würden so das Thema auf ihre Weise begreifen.
Dass viele Menschen ihr Verständnis einer lebendigeren Abschiedskultur teilen, durfte sie vor kurzem auf einer Fachmesse feststellen:
„Es ist unglaublich, was da für Menschen sind. Mit welchen Visionen, Ideen, Talenten. Ich hatte großartige Gespräche und habe wunderschöne Menschen kennengelernt, die sich dafür einsetzen, das Thema zu entstauben und andere, moderne Wege gehen.“
Das gemeinsame Ziel sei ein offenerer Umgang mit dem Tod: „Wir können ihn nicht umgehen, deswegen ist es wichtig, keine Angst davor zu haben.“ Alessia Argiolas sagt das mit Nachdruck – und während sie so bedacht und ehrlich die Motivation hinter ihrer Arbeit beschreibt, muss ich an ihre Erfahrungen denken, an den Impetus ihres Herzensprojekts. Und an ihre Suche nach der eigenen Bestimmung. Umso authentischer und bedeutungsschwerer wird schließlich ihre Aussage: „Es ist umso wichtiger, so zu leben, dass man am Ende erfüllt zurückblicken und sagen kann: Ja, ich habe das Beste getan, was in meiner Macht stand. Und jetzt lass ich Platz für andere, die noch Besseres machen wollen.“
Beitragsbild: Mama & Mini Fotografie