Eigentlich sollte die Abrissbirne Platz schaffen für Parkplätze einer Shopping-Mall. Stattdessen bekommt Altenessen mit dem WeBeyt ein Zentrum für Inklusion samt Programmkino. Zur Premiere von „Danke“ öffnete der Begegnungsort erstmals seine Pforten für die Nachbarschaft.
Im Foyer duftet es nach Kardamom und Nelken. Ein reichhaltiges libanesisches Buffet wartet auf die knapp 150 Gäste, die zur Premiere der Dokumentation „Danke“ in das ehemalige Kulturzentrum KD11/13 nach Altenessen gekommen sind. Der neue Eigentümer Hamid Merhi, der gemeinsam mit Monika Rintelen von Mutmacher-Filme Regie geführt hat, bringt Menschen auf die Leinwand, die Brücken bauen zwischen verschiedenen Kulturen in der Nachbarschaft.
Ein Vorhaben, das in Zeiten politischer Hetze und populistischer Spaltung an Relevanz gewinnt. Besonders in einer Stadt wie Essen, in der gut ein Viertel der Bevölkerung eine doppelte oder nichtdeutsche Staatsangehörigkeit hat. Darum ist „Danke“ nicht zuletzt eine Hommage an diejenigen, die Integration einfach leben, ganz ohne hehre Reden.
Wenn aus Fremden Familie wird
So wie die Geschichte des Paares Wilfried und Wilfriede, die sich gegen die Abschiebung von Ibrahim in den Libanon einsetzen, nachdem dieser in den 90er Jahren von dort fliehen musste. Wilfried konnte die verzweifelte Situation der Libanesen und Syrer in den Asylheimen nicht ertragen, hatte er doch selbst in der Kindheit aus seiner deutschen Heimat fliehen müssen. „Eines Tages kam der Lehrer rein und hat uns gescholten, weil wir uns mit ‚Guten Morgen‘ begrüßten. Es heißt jetzt ‚Heil Hitler!‘“, erinnert er sich in der Dokumentation seinen Lehrer sagen. Die jüdischen Kinder wurden sprachlich zunehmend entmenschlicht. Heute sieht Wilfried ähnliche Muster im Denken über Muslime.
Wilfried gab deshalb in Altenessen Deutschkurse für Geflüchtete. Irgendwann nahmen er und Wilfriede, die keine eigenen Kinder hatten, Ibrahim gemeinsam mit dessen Frau Fatima bei sich zuhause auf. Ein Lachen geht durch den Saal, als der betagte Wilfried mit einem schelmischen Grinsen auf der Leinwand zugibt, zwischen Fatima und Ibrahim im Sprachkurs gekuppelt zu haben.
Aus Fremden erwächst eine Familie. Der gemeinsame Kühlschrank zeigt, wie das geht: „Oben gibt es jetzt ein Fach für Muslime, in der Mitte ein Fach für Christen und das Fach unten ist neutrale Zone“, erzählt Ibrahim. Die Unterschiede sind kein Problem, im Gegenteil, jeder kann seine Religion am Küchentisch ausleben und obendrein ergänzen sich die Rezepte der Kulturen. Die Töchter und Söhne von Fatima und Ibrahim sind heute die Enkel, die sich Wilfried und Wilfriede immer gewünscht haben. Auch sie sind, wie viele andere, die im Film vorkommen, bei der Premiere anwesend.
Im “WirHaus” WeBeyt sind alle willkommen
Ohne erhobenen Zeigefinger illustriert die Dokumentation gesellschaftliche Vielfalt als erstrebenswert. „Wir machen alle Dinge auf unterschiedliche Weise. Unbekanntes sollten wir immer ausprobieren und niemals glauben zu wissen, wir wüssten von allein, was stimmt“, sagt Reinhard Wiesemann, der Produzent der Dokumentation, dem Hamid ein eigenes Filmkapitel gewidmet hat.
Denn Reinhard reiht sich ein in die Riege derjenigen Menschen, die einen Beitrag leisten zu Frieden und Verständigung in der deutschen Gesellschaft. Als Mäzen unterstützt er unzählige Projekte. Auch die Rettung des ex-KD 11/13 gehört dazu. „Ich bin Reinhard unendlich dankbar, dass hier, wo wir stehen, heute keine Parkplatz-Betonwüste ist“, sagt Hamid. Stattdessen hat der Filmemacher bereits den Vorführraum gestaltet und einen Großteil der Büros und Sporträume vermietet.
WeBeyt, eine Mischung aus dem englischen und dem arabischen Wort für “Wir”, nennt er das Zentrum für Inklusion. Insgesamt zehn Vereine wie der türkische Elternverband, der Orientverein oder das Forum Russland-Deutschland wollen langfristig im WeBeyt bleiben. Darüber hinaus werden die Räumlichkeiten von Alt und Jung bereits sehr günstig gemietet für Sprachkurse, Boxen, Ballett oder Veranstaltungen der Caritas und des Jugendamts. “220 Stunden gemeinnützige Aktivitäten haben hier schon stattgefunden“, sagt Hamid.
Filme statt Clan-Kriminalität: Rezept gegen Vorurteile und Perspektivlosigkeit
Kaum ein anderer weiß aus erster Hand, wie wichtig solche Orte für die Nachbarschaft sind. „Ich war kriminell als Jugendlicher. Man hat mir 20 Euro gegeben, um jemanden zu verprügeln“. Hamid redet offen darüber, dass es kriminelle Strukturen unter Libanesen in Essen gibt, er ärgert sich aber über Verallgemeinerungen. „Es gibt viel mehr Libanesen, die gute engagierte Leute sind. Ich sage ja auch nicht, dass jeder Deutsche kriminell ist, nur weil einer eine Straftat begeht.” Er und seine Geschwister sind in Deutschland aufgewachsen; während sie Abitur machten und studierten, wurde Hamid wegen Aufmerksamkeitsproblemen auf die Sonderschule geschickt.
Ein Teufelskreis aus Perspektivlosigkeit und Manipulation begann für den Teenager. „Die älteren haben mich ausgenutzt. Ich wollte immer Filmemacher werden, aber dafür brauchte ich Geld.” Hamids Glück in dieser misslichen Lage waren Menschen, die ihn bemerkten, wo andere nur wegschauten. Wie eine Lehrerin, die ihn mit Strenge und Güte zum Nachdenken anregte. “Sie hat mich gefördert, aber auch immer wieder gefordert”.
Im ehemaligen evangelischen Kulturzentrum KD 11/13 bekam Hamid schließlich eine für ihn entscheidende Perspektive angeboten. „Da waren Menschen vom Schlag wie Reinhard. Die haben mir 50 Euro geboten, um einen kleinen Film zu drehen, wenn ich dafür mit der Gewalt aufhöre.” Der junge Hamid ergriff den Deal bereitwillig, bekam später sogar Unterstützung, als er sein Abitur nachholte und Film studierte.
Beides, sowohl WeBeyt als auch das enthaltene Programmkino sind für den jungen Filmemacher deshalb ein zutiefst persönliches Anliegen. „Wenn die Leute hören, wer den Laden übernimmt, dann haben sie direkt Angst, dass hier bald nur libanesische Hochzeiten gefeiert werden“. Um den vermeintlichen Vorurteilen und Befürchtungen des Stadtteils zuvorzukommen, schwebt ihm ein interaktives Konzept vor, das er „CineBeyt+“ nennt: Möglichst viele Nachbarn aus Altenessen sollen eingeladen werden zur Vorschau eines Films und als „Plus“ im Anschluss soll es gemeinsame Gespräche und Aktivitäten geben. „Die Leute sollen sehen, dass das WeBeyt für uns alle ist“.
Spontane Akte der Güte: Vom Daniel Düsentrieb zum „sozialen Erfinder“
Das ist ganz in Reinhards Sinne. Der gelernte Elektrotechniker aus Wuppertal hat das Geld für seine Förderzwecke selbst verdient. Schon als Kind schraubte er Computer zusammen, mit 18 gründete er bereits sein eigenes Unternehmen. „Meine Eltern haben mir die Freiheit gegeben, mich auszuprobieren, obwohl sie nicht verstanden haben, was ich da mache“, sagt er im Film.
Diesen Ansatz pflegt er bis heute konsequent mit jeder Person, die er unterstützt. Während er lange selbst Projekte aufbaute, die Gemeinnutzen und Gewerblichkeit miteinander verbinden, wie das Linuxhotel und das GenerationenKult-Haus in Essen oder das Diversity-Lab in Berlin, so überlässt er heute vor allem jüngeren Ideenschmieden die Ausgestaltung. So wie bei Hamid und dem WeBeyt. Dabei setzt Reinhard insbesondere auf das Prinzip der „Random Acts of Kindness“, also willkürlicher gütiger Taten, die große Wellen schlagen können. Zu diesem Zweck rief er unlängst die KäftigeGüteStiftung ins Leben, die die Vorteile gütiger Taten auch und gerade auf Ebenen der Polizei, Justiz, Politik und Diplomatie betont. Andererseits setzt Reinhard auf eine solide Grundlage, auf der Gutes gedeihen kann. So entstand auch die Idee für das UnperfektHaus in Essen, das er 2004 gründete.
„Man redet sich als Erfinder schnell ein, dass das eigene Projekt das Beste ist, bis man plötzlich scheitert. Dann wieder aufzustehen und wieder zu scheitern, solange bis es klappt, ist das Allerwichtigste. Im Unperfekthaus kann man sich genau das leisten, damit man eben nicht beim dritten oder siebten Mal aufgibt.“
– Reinhard Wiesemann
„Du musst andere einladen und du musst andersrum die ausgestreckte Hand auch ergreifen“
Reinhard lebt mit seiner Partnerin Monika inzwischen selbst im berüchtigten Essener Norden, nur einen Katzensprung vom WeBeyt entfernt. Berührungsängste haben die beiden nicht. „Wir lieben das bunte Treiben und freuen uns über die Vielfalt“. Auf der Straße werden sie gegrüßt, unterwegs treffen sie bei jedem Spaziergang Freunde und Bekannte. „Das ist ja das Großartige an gütigen Taten, sie haben Vorteile für beide Seiten. Das macht sie weder naiv noch schwach, sondern im Gegenteil besonders stark“.
Dieses Jahr wurde das Paar eingeladen zum muslimischen Fastenbrechen. „Ich fand das großartig, wie offen ich empfangen wurde, obwohl ich keine Ahnung hatte, was man macht. Du musst andere einladen und du musst andersrum die ausgestreckte Hand auch ergreifen.” Er ist überzeugt, nur so könnten Hürden einreißen und ein echter Austausch entstehen.
Im WeBeyt ist dieser Ansatz zur Premiere von „Danke“ zu spüren. Obwohl viele der Eingeladenen sich vorher nicht kannten, verbinden sie die Geschichten der Protagonisten, die auch im Anschluss an die Vorstellung noch rege bei Taboulé und Mutabbal besprochen werden. Wie die der verstorbenen Lehrerin Ria, deren Tod alle im Raum bewegt hat. Ria setzte sich unermüdlich ein für unzählige Kinder aus migrantischen Familien. Im Gegenzug wurde sie im Alter aus Dankbarkeit von ihren ehemaligen Schülern unterstützt. Ihr Einsatz, den der Film “Danke” ehrt, erinnert an engagierte Lehrkräfte, Sozialarbeiter oder Mentoren, die allein mit einer gütigen Tat den Unterschied machen können.
Der neue Film
Filmpremiere: „Wir schaffen das“ am 24.11. um 10:30 Uhr in der Essener Lichtburg (alle Infos gibt’s hier)