Auf halbem Weg zwischen dem nördlichen Polarkreis und dem Nordpol liegt die Inselgruppe Spitzbergen. Hier lagern bei arktischer Kälte im weltweit größten Saatguttresor Millionen von Samenproben aus allen Winkeln der Erde.
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Es pfeift ein eisiger arktischer Wind. Die Landschaft ist karg und schneebedeckt. Der Mond lässt in der Polarnacht alles in einem mystischen Licht erscheinen. Aus dem Schneeberg heraus ragt ein futuristisch anmutender Quader wie ein Monolith. Er ist grau und länglich, jedoch gerade mal so schmal wie seine zweiflügelige Stahltür. Über der Tür leuchtet ein Kunstwerk aus Spiegelfragmenten und Stahlsplittern, so grün, wie die Polarlichter hier. Es ist, als stände man vor einem Portal in eine andere Dimension. Und wer eintritt, kann einen langen, grell erleuchteten Tunnel sehen, der tief in den Berg hineinführt.
Nächster Halt: Nordpol
Dies ist der Eingang zur bedeutendsten Bank der Welt. Dem Global Seed Vault auf Spitzbergen. Wir befinden uns auf dem abgelegenen Archipel Svalbard, 1300 km nördlich vom Polarkreis – genau in der Mitte auf dem Weg zum Nordpol – unweit der kleinen Bergbaustadt Longyearbyen. Auf der ganzen Inselgruppe leben kaum 3000 Menschen, mehr als ein mittelgroßes Stadion ließe sich mit ihnen nicht füllen. Umgeben von Permafrost entstand hier vor fünfzehn Jahren eine ganz besondere Bank. Lagern hier Goldbarren oder Diamanten? Nein, keine herkömmlichen Reichtümer finden wir hier, sondern etwas, das viel wertvoller ist als alles Geld der Welt: Saatgut von unzähligen Grundnahrungsmitteln wie Reis, Getreide, Erbsen und Kartoffeln aus aller Welt.
Wenn man den geringen Geldwert so einer Samentüte bedenkt, könnte man meinen, so ein paar Samen sind doch nicht viel wert. Dr. Ulrike Lohwasser, die Genbank-Managerin vom Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben sieht das allerdings ganz anders: „Diese kleinen Samen sind unsere Zukunft. Denn Nutzpflanzen sind neben Wasser und Luft die wichtigste Ressource für das Überleben der Menschheit.“
Die Bundeszentrale Genbank des IPK war das erste Institut aus Deutschland, welches Samen nach Spitzbergen schickte.
Tresor im Eis
Der Svalbard Global Seed Vault wird auch als moderne Neuauflage der Arche Noah bezeichnet. Der im Jahr 2008 eröffnete Tresor liegt in einer stillgelegten Kohlegrube. Er soll einmal 4,5 Millionen Samenproben beherbergen – und zwar von allen Nutzpflanzen der Welt. Schon heute umfasst der Bestand des Saatguttresors mehr als 6.000 Pflanzenarten mit über 1,2 Millionen Samen. Die meisten davon sind Sorten von Reis, Weizen und Gerste. Außerdem gibt es dort jede Menge Bohnenarten, Roggen und Luzerne.
Saatgutbanken sind dabei keine Erfindung der Neuzeit. Schon 2.000 v. Chr., als die Menschen sesshaft wurden, bewahrte man das Saatgut verschiedener Standorte auf, um mehr Erfolg bei der Ernte zu haben. Da die Saaten über die Jahre allmählich ihre Keimfähigkeit verlieren, müssen sie immer wieder ausgesät und neu geerntet werden. Diesen Job übernehmen die etwa 1.700 Genbanken, die auf der ganzen Welt verteilt sind. Hier wird gesammelt, geforscht, erhalten und die Samen regional an die Kleinbauern verteilt. Die Bundeszentrale Genbank in Gatersleben ist dabei die größte Genbank der Europäischen Union.
“Wir kümmern uns um die Langzeiterhaltung alter Sorten”, berichtet Dr. Ulrike Lohwasser. Die moderne Landwirtschaft sei geprägt davon, dass immer nur wenige Sorten den Markt beherrschen. Doch Monokulturen sind anfällig für Krankheitserreger und den Klimawandel – seien es nun anhaltende Dürre oder Feuchtigkeit. So werden im Jahr etwa 20.000 Samenproben angefragt, um alte Sorten wieder salonfähig zu machen oder daraus neue Züchtungen anzulegen.
Der dramatische Rückgang der Artenvielfalt ist eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. Spätestens seit dem Weltgipfel der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro von 1992 gilt der Erhalt der biologischen Diversität als „gemeinsames Interesse der Menschheit“.
Als wesentliche Maßnahme außerhalb des eigentlichen Lebensraumes der Arten gilt die Erhaltung von Saatgut. In Genbanken werden Pflanzensamen in tiefgefrorenem Zustand dauerhaft konserviert. So können enorm viele Pflanzenarten auf engstem Raum eingelagert werden. Saatgutbanken sichern damit eine große genetische Artenvielfalt.
Kühlschrank für Kulturpflanzen
Die weltweit größte Genbank ist der Svalbard Global Seed Vault in Longyearbyen auf der Insel Spitzbergen. Hier befindet sich eine transnationale Saatgutsammlung von Nutz- und Wildpflanzen. Diese Saatgutbibliothek ist der Versuch, bei bis minus 20 Grad Celsius etwa 4,5 Millionen Saatgutmuster für kommende Generationen zu sichern. Hier wird aufbewahrt, was uns Menschen ernährt, oder vielleicht einmal retten könnte: Die Samen von Nutz- und Kulturpflanzen, aber auch ihre verwandten Wildarten. Hier liegt die Lebensversicherung der Menschheit, denn diese Samen sind die pflanzlichen Genressourcen der Erde.
Es funktioniert wie eine echte Bank: Die Samen werden unter sogenannten Black-Box-Bedingungen gelagert, was unter anderem bedeutet, dass nur die Institution, die die Samen deponiert hat, sie auch wieder herausnehmen kann. Wie ein Konto, auf das man einzahlt! Daher wird der Vault auch als Saatgut-Tresor bezeichnet.
Svalbard wurde ausgesucht, weil dieser Standort fernab der menschlichen Zivilisation am sichersten scheint. Geschützt vor Erdbeben und Vulkanismus, kalt und trocken mit wenig Schnee und Regen. Und durch Abkommen und Unwirtlichkeit der Lebenswelt auch geschützt gegen politische und soziale Unruhen und Kriege. Der Permafrost sorgt für einen geringen Energieverbrauch der Kühlanlagen. Ein geeigneterer Ort auf der Erde wird kaum zu finden sein. Gegen alle denkbaren globalen Katastrophen sollen die Samen geschützt werden – vom Klimawandel bis zum Atomkrieg. Im Ernstfall soll das der Menschheit ermöglichen, möglichst schnell wieder mit dem Anbau von Lebensmitteln beginnen zu können.
Der Saatgut-Tresor ist aber nicht in erster Linie für das Überleben der Menschheit nach so einem Apokalypse-Szenario gedacht, sondern für die vielen kleineren Weltuntergänge. Der Global Seed Vault versteht sich lediglich als Kopie aller bestehenden Saatgutbanken. Fehlendes Geld, Misswirtschaft, politische Unruhen – viel kann passieren. Die Muster auf Spitzbergen sind daher einfach eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme. Syrien hat beispielsweise 2015 als erstes Land seine Samen zurückordern müssen, weil durch den Bürgerkrieg die Genbank nicht bewahrt werden konnte.
Neue Schätze per Post
Der Wind weht eisig um den Eingang der modernen Arche Noah. Der Schnee treibt mit ins Portalgebäude, wenn drei mal im Jahr neues Saatgut angeliefert wird. Dann stapeln sich die Sendungen aus allen Winkeln der Erde. Nach und nach werden sie hinein in den Berg transportiert. Zuerst führt ein 93 Meter langer, schneeweißer Tunnel ins Berginnere. An der Seite verlaufen große Rohre und Metallschienen. Dann endlich eine Tür. Angekommen in der sogenannten Kathedrale (wie religiös anmutend!) hat man die Wahl zwischen drei gleich aussehenden Metalltüren. Hinter jeder befindet sich eine große Kammer, so groß wie ein Gewölbekeller. Zehn Meter breit, 27 Meter lang und sechs Meter hoch. Grelle Leuchtstoffröhren werfen ein kaltes Licht auf die Regalreihen.
Dicht an dicht stehen hier die Saatgutproben in den originalen Paketen, ungeöffnet, so wie sie eingesendet wurden. Sie wurden lediglich am Flughafen zur Sicherheit gescannt, ob auch wirklich nur Samen darin sind. Da stehen vier hölzerne Kisten aus Tadschikistan mit Weizen und Gerste aus dem Pamir-Gebirge, dem Dach der Welt. Gleich daneben finden sich stabile Kunststoffboxen aus Aserbaidschan und über hundert gelbe Postpakete aus Zambia. Alle Nationen der Welt haben hier Platz. Dicht an dicht. Zusammengehörig.
Die dritte Kammer ist noch leer, ein paar Regale stehen verloren am Ende des langen Raumes. Noch ist genügend Platz für kommende Sendungen.
Anmerkung:
Svalbard galt auf Grund der klimatischen Verhältnisse als idealer Ort für die Konservierung von Saatgut. Doch 2017 hat sich gezeigt, dass gerade hier auf Spitzbergen der Klimawandel stärker und schneller voranschreitet als anderswo. Sintflutartige Regenfälle führten dazu, dass Wasser in den Eingangstunnel des Seed Vault eindrang. Bis zu den Lagerhallen mit dem Saatgut kam das Wasser glücklicherweise nicht. Dennoch wurde der Seed Vault in Folge umfassend modernisiert, besser abgedichtet und durch das Graben von Entwässerungskanälen gegen die veränderten Umweltbedingungen geschützt.