Dieser Artikel ist aus unserer Serie „B Corp: Verantwortung statt Greenwashing“ (Anzeige)
Das B Corp-Unternehmen Wildling stellt Minimalschuhe her. Die dahinterstehende Lieferkette hat durch ökologische wie soziale Aspekte Vorbildcharakter.
Stell dir vor, du lernst Laufen. Barfuß. Ganz frei, auf den Straßen eines kleinen israelischen Dorfs. Doch dann bist du in Deutschland, in einem neuen Leben – und sollst plötzlich einengende, unbequeme Schuhe tragen. So ging es den Kindern von Anna Yona. Die gebürtige Engelskirchnerin zog es 2001 zum Studieren nach Israel, wo sie schließlich ihren Mann kennenlernte und ihre Kinder zur Welt brachte.
Zurück in Deutschland brauchten die Kinder Schuhe, “liefen aber mit den Schuhen, die wir ihnen anzogen, ganz anders oder wollten die gar nicht tragen”, erinnert sich Anna. Als die Suche nach passendem Schuhwerk immer länger wurde und doch erfolglos blieb, fingen Anna und ihr Mann Ran an, sich damit zu beschäftigen, wie denn so ein perfekter Kinderschuh sein sollte: “Wir wollten einen Schuh für Kinder, der es ihnen ermöglicht, sich ganz frei zu bewegen und gesund entwickeln zu können. Dann haben wir entsprechend versucht, das Produkt zu entwickeln – ohne Ahnung davon zu haben, wie man Schuhe macht.”
Mittlerweile hat Anna nicht nur richtig Ahnung von Schuhen, sondern beschäftigt mit ihrem Minimalschuh-Label Wildling mehr als 200 Mitarbeitende. Das Besondere an den Kinder- und Erwachsenen-Schuhen von Wildling sind ökologische Naturfasern und eine innovative ultradünne Sohle, die beim Gehen maximale Bewegungsfreiheit ermöglicht. Doch noch mehr: Die Herstellung der Schuhe geschieht unter fairen Bedingungen in Portugal und ist eingebettet in einen umfassend gedachten, sozialunternehmerischen Ansatz, der durch die B Corp-Zertifizierung bescheinigt wird.
Wieso Minimalschuhe?
Zur Erklärung vorweg: Die Produkte von Wildling kennt ihr vielleicht auch unter dem Begriff Barfußschuhe, denn die Begriffe werden häufig synonym verwendet. Da der Begriff Barfußschuh allerdings suggeriert, dass die Schuhe ohne Socken getragen werden sollen oder durch die Form an die einzelnen Zehen angepasst sind, nennt Wildling diese stattdessen Minimalschuh.
Sie sollen sich dem Fuß anpassen – nicht andersrum. Denn der erhöhte Absatz in der Sohle herkömmlicher Schuhe, auch Sprengung genannt, verändert den Winkel zwischen Fuß und Boden, wodurch sich der Schwerpunkt im Körper verlagert und Rücken, Muskeln und Gelenke unnatürlich belastet werden. Minimalschuhe sollen stattdessen einen natürlichen Gang fördern und den Zehen durch eine breite Zehenbox ausreichend Platz bieten, um Fußschmerzen oder Fehlstellungen zu vermeiden. Zudem ermöglichen sie, den natürlichen Untergrund auf bewusste Weise wahrzunehmen.
Von der Idee zum Minimalschuh
Aber wie fängt man eigentlich an, wenn man Minimalschuhe herstellen will? Vor allem unbefangen, meint Anna. Doch gerade in dieser Unbefangenheit sieht sie heute einen großen Vorteil, denn: “Wenn man sich gut auskennt in einem Bereich, hat man auch direkt 1000 Sachen im Kopf, die nicht funktionieren.” Klar war: Das Material soll weich und flexibel sein und als Alltagsgegenstand Schuh funktionieren. Dass aus diesem neugedachten Alltagsgegenstand mal ein erfolgreiches, internationales Unternehmen werden würde, hätte das Paar anfangs nicht gedacht: “Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich echt Schiss gehabt”, meint Anna lachend. Stattdessen gab ihr der explorative Ansatz die Möglichkeit, mit der Zeit in die neue Aufgabe als Gründerin hineinzuwachsen.
Ohnehin sei so ein Schuh aufgrund der verschiedenen Materialien “nicht unkomplex”. “Ein Produkt zu bekommen, das funktioniert und nicht auseinanderfällt”, sei daher die größte Herausforderung zu Anfang gewesen. Gleichzeitig waren sich Anna und Ran einig, dass ein guter Kinderschuh nicht nur funktional, sondern auch einer ist, der nicht zulasten der Natur und damit der Zukunft ihrer Träger:innen geht.
Doch die Ambition ‘Nachhaltigkeit’ war eine Herausforderung: Bio-Baumwolle war kaum zu bekommen, von zertifizierten Schuhproduktionsstätten ganz zu Schweigen. “Deswegen mussten wir zu anderen Industrien gehen und deren Textilien adaptieren”, erinnert sich die Gründerin an die Anfänge von Wildling im Jahr 2015. Früher wie heute geht mit dem komplexen Thema Nachhaltigkeit ein ständiges Abwägen einher: “Mit einem Kunststoff kannst du oft zum Beispiel mehr Haltbarkeit erzeugen. Dann ist natürlich die Frage: Macht es Sinn, eine Hanffaser zu nutzen, wenn eine Plastikfaser doppelt so lange halten würde?” Immer wieder seien da zumindest temporäre Kompromisse notwendig. “Und deswegen ist man auch nie da, wo man hin möchte, sondern auf einem ständigen Weg”, schließt sie.
Ökosysteme zum Vorbild
Heute kümmert sich ein eigenes Team um die Nachhaltigkeit und Transparenz der Lieferkette von Wildling-Schuhen; unterstützt von Expert:innen, beispielsweise in den Rohstoff-Anbaugebieten. Diesen Bemühungen zugrunde liegt der Kernwert der Marke “Regenerative Nachhaltigkeit”. Doch was meint das eigentlich? Zuallererst beziehe sich Regeneration auf das Produkt selbst, “weil es ein Produkt mit einem hoffentlich regenerativen Effekt auf die Person ist, die den Schuh trägt, und eine positive Auswirkung auf die Entwicklung, auf die Gesundheit, auf das Bewegungs- und Lebensgefühl hat.” Größer gedacht meine Regeneration vor allem die dahinterstehende Haltung:
“Wir wollen mehr als Schadensbegrenzung betreiben. Bei Nachhaltigkeit kann man auch sagen: Wir versuchen, den Status Quo zu erhalten. Aber wir sind in vielen Fällen über den Punkt hinaus, wo das ausreichend wäre. Man muss sich ohne Frage um Chemikalienmanagement, Arbeitsrichtlinien und diese Dinge kümmern, aber ich finde es dann auch total inspirierend zu fragen: Wo können wir etwas zurückgeben?”
Anna Yona, Wildling-Gründerin
Für diese Logik nimmt sich Wildling Ökosysteme zum Vorbild, die ebenfalls durch einen Austausch, einen erneuernden Aspekt, funktionieren. Anders gesagt: durch ein Geben und Nehmen. Zentral ist für Anna die Frage: “Wie können wir als produzierendes Unternehmen, als Arbeitgeber, als Partner:in für viele andere Menschen, geben und so dazu beitragen, etwas nicht in einem schlechteren, sondern in einem besseren Zustand zu hinterlassen?”
Wichtig sei dabei etwa der Effekt, den der Anbau von Rohstoffen wie Bio-Baumwolle oder Hanf auf die Anbauregion inklusive der Menschen vor Ort hat. Gemeinsam mit Partner:innen arbeitet Wildling an der Umsetzung des regenerativen Anbaus, der zum Ziel hat, die Bodenqualität und Speicherfähigkeit des Bodens zu verbessern, und geht damit über den reinen Bioanbau hinaus. Neben dieser ökologischen Nachhaltigkeitsdimension erfüllt das B Corp-Unternehmen auch die soziale, indem es faire Preise für die Rohstoffe bezahlt, um den am Anbau beteiligten Menschen eine gute Zukunftsperspektive bieten zu können.
Dafür sucht das Unternehmen Partner:innen, die nach Maßstäben der regenerativen Landwirtschaft arbeiten. Allerdings erkennt die Gründerin auch: “Oft hat man den größeren Impact, wenn man zu einer konventionellen Farm oder Bio-Farm geht und versucht, die dazu zu bringen, auf regenerativ umzustellen.” Um den Umstieg attraktiv zu machen, unterstützt das Unternehmen die Farmen beispielsweise bei der Finanzierung einer Maschine oder versichert, die Ernte abzunehmen – “egal ob wir damit hinterher arbeiten können oder nicht.”
“Unser Ziel ist, durch unsere wirtschaftliche Tätigkeit Projekte zu fördern, Partnerschaften aufzubauen und eine bestimmte finanzielle Sicherheit und Stabilität zu geben, die eine Transformation braucht. Das betrifft den Anbau der Rohstoffe, aber auch die Zusammenarbeit mit unseren Fabriken. Leute aus unserem Team sind immer wieder vor Ort und schauen, dass Arbeitsbedingungen und Arbeitsverträge stimmen und alle Sicherheitsvorkehrungen erfüllt sind.”
Anna Yona, Wildling-Gründerin
B Corp: Für eine gerechtere Wirtschaftswelt
Wirtschaft ist ein Tauschgeschäft, das ist evident. Bei diesem Tauschgeschäft einen Mehrwert für beide Parteien anzustreben, das ist allerdings fernab der kapitalistischen Realität. An dieser Stelle setzt Wildling an – und will es anders machen. Von den Herstellenden fordern sie Qualität, im Sinne des verantwortlichen Ressourcenmanagments sowie der Kund:innenzufriedenheit, und fragen im Gegenzug: “Was sind eure Bedürfnisse? Was würde euch das Arbeitsleben vereinfachen?”
Um die Aktionen, die das Unternehmen daraufhin unternimmt, sichtbar und nachvollziehbar zu machen, hat sich das Unternehmen für die B Corp-Zertifizierung entschieden – auch, weil diese bereits in ihren nordamerikanischen Wachstumsmärkten etabliert ist. Das Assessment, also das Prüfverfahren, sei ein wertvolles Tool gewesen, um den Status Quo und mögliche Optimierungsmöglichkeiten auszumachen. Geprüft werden dabei die Impact-Bereiche Kund:innenschaft, Umwelt, Community und Mitarbeitende, wobei etwa auch die Frage nach dem verantwortungsvollen Umgang mit dem erwirtschafteten Profit unter die Lupe genommen wird.
Die Wildling-Gründerin versteht Finanzen in diesem System lediglich als Nährstoff, der über die Lieferkettentransaktionen hinaus einen positiven Beitrag leisten soll. Aus diesem Grund unterstützt das Unternehmen monatlich Projekte wie Alley Runners – eine israelische Organisation, die Geflüchtete über Sport und Bildung integriert. Lässt es die finanzielle Stabilität zu, folgen zu Jahresende Spenden in weitere Bereichen, die nicht direkt über die Lieferkette abgedeckt werden, etwa Rewilding Europe, die die Schaffung vielfältiger und klimaresilienter Lebensräume zum Ziel haben. Im Rahmen der Themenreihe “Belonging“ mit der Organisation tbd folgte zudem eine finanzielle Unterstützung für das Mentoringprojekt „Vorbilder„.
Mehr Schach als Roulette
Zwar hat Anna gemeinsam mit ihrem Mann Ran gegründet, doch mit ihrem ausgeprägten Fokus auf eine nachhaltige Wirtschaftsweise entspricht sie doch dem Trend, den der Female Founder Monitor im Vorjahr ausmachte. Demnach gewichteten Gründerinnen den Wert Nachhaltigkeit wesentlich höher und Frauen-Teams ordneten sich wesentlich häufiger dem Bereich Social Entrepreneurship zu als männliche Teams (61 vs. 34 Prozent). Zugleich erfolgten lediglich 20 Prozent der Gründungen allein durch Frauen, 37 Prozent in gemischten Teams. Daraus ableiten könnte man ein verpasstes Potenzial für eine ökologische Transformation, das von diesem Ungleichgewicht ausgeht.
Die dreifache Mutter selbst meint von sich, sehr privilegiert gegründet zu haben, weil “wir uns alles, was angefallen ist, aufgeteilt haben – auch das Familienmanagement”. Dennoch sieht sie für Gründerinnen ein strukturelles Problem. Frauen dazu aufzufordern, “einfach zu gründen” sei zu kurz gedacht, denn “wir haben häufig per Geburt auch die Care-Arbeit an den Hacken.” Neben dieser zusätzlichen Belastung aufgrund internalisierter Rollenbilder müssten Frauen zudem härter dafür arbeiten, die gleiche Anerkennung oder auch Finanzierungen zu bekommen, so die Gründerin.
Umso wichtiger sei Anna der solidarische Austausch mit anderen Gründer:innen – gerade, weil die in ihrem Umfeld rar waren – sowie mehr Wissensangebote: “Ich hätte super gerne schon als Schülerin viel mehr Einblicke in Unternehmensführung bekommen. Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen soll, weil ich alles nicht passend fand. Bei der Berufsberatung meinte ich, ich finde Tiere ganz toll. Dann kam: Dann kannst du ja Metzgerin werden. Vielen Dank auch! Da bin ich ganz inspiriert nach Hause”, erinnert sich Anna lachend an die Anfänge ihrer beruflichen Laufbahn.
Dass die Gründerin durch Wildling ihren Traumjob gefunden hat, sei darum “totaler Zufall” gewesen – und stimmt sie zugleich nachdenklich: “Wie viele gibt es, für die das ein Traumjob wäre, die aber gar nicht die Chance bekommen? Ich glaube, es hat viel damit zu tun, dass man mit Unternehmer:innentum nicht in Berührung kommt oder nur auf eine klischeehafte Art.”
Mit umso mehr Freude und leuchtenden Augen gibt sie darum ihre Learnings weiter: “Das Wichtigste ist, etwas zu finden, was einen total begeistert und überhaupt nicht mehr loslässt – dieser Funke irgendwie.” Zwar könne man auch aus anderen Gründen gründen, aber es sei vor allem Leidenschaft und Spaß, die sie durch die Gründungszeit getragen und vor übermäßigen Sorgen wegen Schulden und Verantwortung bewahrt haben.
“Ich habe mal in einem Buch gelesen: Gründen ist viel mehr wie Schach als wie Roulette. Und so ist es auch: Du kannst nicht alles vorhersehen, aber das ist okay. Du musst auf das reagieren, was kommt und dich immer wieder neu ausrichten. Aber wenn du Leidenschaft hast und es okay ist, nur bis zur nächsten Kurve gucken zu können, dann kann das sehr viel Spaß machen!”
Anna Yona, Wildling-Gründerin
Kollaboration statt Einzelkampf
Würden alle diesen Sinn ihrer Arbeit in den Vordergrund stellen, könnte sich die Wirtschaftswelt extrem verändern, so Anna. Gleichzeitig stößt das ambitionierte Gründer:innenpaar im kapitalistischen System immer wieder auf Grenzen: “Wir können mit Wildling ein Mini-Ökosystem schaffen und sind doch in dem System gefangen.” Was es braucht, seien daher vor allem neue Rahmenbedingungen, ein neues System, allem voran: neue Steuergesetze.
“Der Kapitalismus führt dazu, dass man glaubt, in einem ständigen Wettbewerb miteinander sein zu müssen. Das ist unglaublich anstrengend! Stattdessen wollen wir uns mit anderen so zusammenzutun, sodass wir aus der Wirtschaft heraus auf die Politik Druck ausüben können, die Rahmenbedingungen zu ändern. Dieser Wandel muss auf ganz vielen Ebenen starten, um zu funktionieren.”
Anna Yona, Wildling-Gründerin
Von dieser gemeinschaftlichen Zusammenarbeit würden am Ende alle profitieren, denn: “Wir wollen die Arbeit teilen – und hinterher die Ergebnisse.” Doch sie gibt sich optimistisch. Momentan sei schon viel in Bewegung. Jetzt gehe es darum, diese Kräfte an der richtigen Stelle zu bündeln.
Ein sinnvolles, langlebiges, hochwertiges Produkt war nur der anfängliche Antrieb hinter Wildling. Mittlerweile steckt dahinter sehr viel mehr. Für Anna essentiell sei dabei “das Gefühl haben zu dürfen, irgendwas Sinnvolles zu machen – also etwas zu machen, das irgendwie einen Mehrwert kreiert.” Dieser Mehrwert erstreckt sich heute von den gesunden Füßen ihrer Kinder, dem anfänglichen Impetus, hinaus auf die Menschen auf den regenerativen Bio-Baumwollplantagen von Wildling. Bis hin zu den etwa eine Million Menschen, die auf der ganzen Welt Wildlinge tragen und diesen Mehrwert spüren. Bei jedem Schritt.
Beitragsbild: Nora Tabel