Die Ohren im Hamburger Zuhör-Kiosk bieten allen Menschen ein offenes Ohr – ob für Sorgen, Lebensgeschichten, Lieder oder Alltagsphilosophien. Wir haben zwei Ohren einen Tag begleitet.
Das ist ein Beitrag aus unserem dritten Printmagazin mit dem Thema „Perspektivwechsel“. Diesen und weitere exklusive Beiträge gibt’s im GNM+ Abo
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Mit einem satten Geräusch öffnen sich die Türen der U2 und ich werde mit einem Schwall anderer mehr oder wenig hastender Menschen in die Station Emilienstraße gespült. Die Wand gegenüber ist mintfarben gekachelt. Ich folge dem Menschenstrom in Richtung Stationsausgang. Zwölf Schritte, dann blicke ich direkt in Ilkas lächelndes Gesicht. Sie sitzt hinter der Glasscheibe des kleinen Kiosks links von mir, auf der Mitte des Bahnsteigs. Von außen ist das Häuschen mit zahlreichen Zetteln beklebt, hinter den Scheiben häuft sich allerlei spannender Krempel. Besonders ein großes Plakat fällt ins Auge: „Ich höre Ihnen zu“, steht da.
Denn das Häuschen in der U-Bahn-Station ist nicht irgendeines und Ilka Wulf weder Bahnmitarbeiterin noch Kioskbetreiberin. Sie ist ehrenamtlich Ohr, Anlaufstelle für alle Gesprächsbedürftigen. Wer reden will, ist im Zuhör-Kiosk willkommen.
Ein Besuch im Zuhör-Kiosk
Auch mich bittet Ilka mit einer einladenden Geste in das etwa drei Quadratmeter große Häuschen, bietet mir Stuhl und Kaffee an. Sie selbst sitzt auf einem Stuhl vor dem Schiebefenster, eingepackt in Skikleidung, Schal und Mütze. Es ist kalt an diesem Märztag und vor dem Eingang der U-Bahn-Haltestelle rieseln weiße Flocken als seltenes Naturspektakel auf den Boden des Hamburger Stadtteils Eimsbüttel. Heute darf ich sie bei ihrer ZuhörSchicht begleiten. In ihrer offenen Art, die mich sofort willkommen fühlen lässt, fängt sie sogleich an zu erzählen, wie sie selbst zum Ohr (so heißt es im Zuhör-Kiosk-Jargon) wurde.
Auf Facebook stieß sie im vergangenen September auf ein Foto des Zuhör-Kiosks. Zu diesem Zeitpunkt war sie schon länger auf der Suche nach einem Ehrenamt, besonders ihre Arbeit im Ahrtal 2021 hat den Wunsch nach einem Engagement mit sozialem Mehrwert verstärkt. „Aber nichts hat mich richtig angesprochen“, erinnert sie sich. Doch das Foto des Kiosks auf dem Profil einer Bekannten weckte sofort ihr Interesse: „Dann bin ich, weil ich mich informieren wollte, mal nach Feierabend hier vorbei. Das war aufn Montag, da war gerade Christoph da und eine halbe Stunde später hatte ich den Schlüssel in der Hand.“ Bereits am darauffolgenden Freitag hatte sie ihre erste Schicht, in der Gründer Christoph Busch ihr alles zum Zuhör-Kiosk und ihren Aufgaben erklärte und sicherstellte, dass sich Ilka tatsächlich als Ohr eignet. Seitdem sitzt die 44-Jährige jeden Freitag in dem Häuschen, das mit den Vorhängen und zahlreichen Gegenständen an diesem unerwarteten Ort überraschend genau das Maß an Anonymität und Gemütlichkeit schafft, das es für offene, tiefe Gespräche braucht. Die Gegenstände haben andere Gäste hiergelassen, als kleine Mitbringsel und um etwas von sich selbst an diesem „besonderen Ort“ zu lassen, wie sie ihn im Verlauf des Gesprächs mehrfach nennt.
Vom Kiosk zur Schreibstube zum Zuhör-Kiosk
Doch wie kam es überhaupt zu diesem Ort? 2018 stand der Kiosk zu vermieten, erzählt Ilka. Christoph Busch, der ganz in der Nähe wohnt, war sofort interessiert. Der Plan des Drehbuchautors war es allerdings nicht, Kippen und Schokoriegel zu verkaufen, sondern zu schreiben, denn im Trubel der Vorbeigehenden sah er großes Potenzial für gute Geschichten. So kam es, dass er schon wenig später seinen Arbeitsplatz im Hamburger Untergrund einrichtete. Draußen hängte er ein Schild auf: Ich höre Ihnen zu. Immer häufiger blieben die Passant:innen am Kiosk, der kein Kiosk mehr war, stehen und fingen an zu erzählen. Die Gespräche, die über das große geöffnete Fenster auf der linken Seite der Schreibstube stattfanden, gingen schon bald über den üblichen „Was ein Wetter“-Schnack hinaus.
„Und irgendwann kam es, dass er mehr gesprochen als geschrieben hat. So kam die Idee auf, das Projekt weiter voranzutreiben“, berichtet Ilka. Seitdem ist Busch nicht mehr der einzige Zuhörer im Haltestellenhäuschen: Fast 30 Ehrenamtliche gehören mittlerweile zum Zuhör-Kiosk e.V. und decken mit unterschiedlichsten Charakteren, Professionen und einer Altersspanne von mehr als 50 Jahren verschiedene Bedürfnisse der Gäste ab.
Immer wieder fragen außerdem weitere Menschen an, die ebenfalls zuhören wollen. Sukzessive überlässt der mittlerweile 75-Jährige darum seinem Team diese Aufgabe, seine Rolle als Springer und Organisator behält er dennoch mit Stolz.
Auch anderswo ist man von der Idee des Gesprächsangebots begeistert: Im Hamburger Stadtteil Bramfeld gibt es mittlerweile einen zweiten Zuhör-Kiosk, weitere stehen unter anderem in Berlin, München und dem holsteinischen Neustadt. Zwar haben diese nichts direkt miteinander zu tun, doch der Wunsch für einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs vereint die Projekte.
Fluchterfahrung, Einsamkeit und Liebeskummer
Gemeinsam mit Ilka beobachte ich durch das Schiebefenster, das an diesem Tag aufgrund der Temperaturen geschlossen bleibt, das Treiben der kleinen Menschengruppen. Beinahe im Minutentakt betreten und verlassen die Vorbeigehenden den Bahnsteig. Die Schichten, erzählt sie mir, sähen immer ein wenig anders aus: „So ein paar Fenstergespräche hat man immer und es kommen immer Leute vorbei, die sagen ‘Ist ja toll, was ihr da macht’ – also man kommt immer ins Gespräch.“ An manchen Tagen sei das Häuschen durchgängig belegt, andere der dreistündigen Schichten verliefen aber auch ohne Gäste, die das Sprechangebot im Kiosk-Inneren wahrnehmen.
Im vergangenen halben Jahr war Ilka bereits Ohr für viele verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Themen. Ihr erster Gast im Kiosk war ein Iraner, der von seiner Fluchterfahrung berichtete, erinnert sie sich. Auf ihn folgten ältere Menschen, die von Einsamkeit sprachen, junge Mädchen, die der 44-Jährigen ihren Liebeskummer anvertrauten, und immer wieder auch Gäste, die in dem geschützten, kleinen Raum gesellschaftlichen Zusammenhalt und die soziale Situation zum Thema machten. In dieser Zeit hat sie vor allem eines gelernt: „Ich weiß, dass ich nie weiß, was kommt. Darauf muss oder darf ich mich entsprechend einstellen.“ Diese Haltung ist sie auch in ihrem Job als psychologische Beraterin und Coach gewöhnt, parallel macht sie eine Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie.
Allerdings zieht sie klare Unterschiede zwischen ihrer Arbeit als Zuhörerin und der in der Praxis. Während sie dort das Gespräch sehr viel mehr lenke, um das, „was unter der Geschichte liegt“, zum Vorschein zu bringen, nähme sie sich als Zuhörerin ganz klar zurück: „Die Leute erzählen einfach, was sie erzählen wollen. Es geht nicht um uns, das darf man nicht vergessen. Es geht um die Leute, die sich die Sorgen von der Leber reden wollen, die sich austauschen wollen, die ein nettes Gespräch wollen.“ Manche der Gäste kommen dafür auch mehrfach. Wie Ilkas Stammgast, ein älterer Herr, der bei ihr regelmäßig seine Freude am Philosophieren zum Ausdruck bringt: „Wir reden dann über Gott und die Welt, duzen uns, sagen dann ‘schön, dass du da bist’ und so. Ich würde nicht sagen, dass eine Freundschaft entstanden ist, aber das ist schon eine ganz andere Verbindung als zu jemandem, der nur einmal da ist.“ Sie lächelt, als sie von diesem Stammgast erzählt, und erneut wird mir die positive Ausstrahlung bewusst, mit der sie den kleinen Raum voll und ganz ausfüllt. Ich kann verstehen, wieso er so gerne vorbeikommt. Klar wird bei ihren Ausführungen auch: Es geht den Menschen hier nicht nur darum, kurz das eigene Leid zu klagen. Es geht auch ganz banal um Zwischenmenschliches, um soziale Kontakte und ums Gehörtwerden. Auf welche Weise auch immer. Ein Stammgast von Gründer Christoph Busch sei etwa immer zum Singen vorbeigekommen.
„Die Leute erzählen einfach, was sie erzählen wollen. Es geht nicht um uns, das darf man nicht vergessen. Es geht um die Leute, die sich die Sorgen von der Leber reden wollen, die sich austauschen wollen, die ein nettes Gespräch führen wollen.”
Ilka Wulf
Jedes Ohr ist anders
Von sehr unterschiedlichen Themen und Bedürfnissen erzählt mir auch Ilkas Kollegin Yeshe Fuchs, die ich wenig später kennenlerne. Denn um 15 Uhr ist Schichtwechsel bei den Ohren. Yeshe wohnt ganz in der Nähe, ist darum häufiger in der Emilienstraße einund ausgestiegen. Die Idee des Kiosks fand sie von Anfang an super. Darum begründet sie ihre Motivation für das Ehrenamt ganz simpel: „Ich finde es wichtig heutzutage, dass Menschen mal zuhören. Das ist auch für mich total wertvoll.“
Als ich mit Yeshe ins Gespräch komme, merke ich schnell, was Ilka meinte, als sie sagte, jedes Ohr sei anders. Die 82-Jährige ist in ihrem Auftreten ruhig und spricht langsam, mit einer Bedachtheit, die simple Schlussfolgerung ihrer (Lebens-)Erfahrung zu sein scheint. Dabei bietet sie mir in derselben Nüchternheit Bonbons an, wie sie von den teils schweren Themen bei ihrer Arbeit berichtet. Auch für sie ist es nicht der erste Berührungspunkt mit aktivem Zuhören, bei ihren Meditations-Seminaren spiele das ebenfalls eine Rolle. Allerdings betont sie auch: „Man macht klar, dass man nicht zur Reparatur da ist.“
Ihre weiteren Ausführungen werden jäh von einem entschlossenen Klopfen unterbrochen: Durch die Glastür sehe ich eine etwa sechzigjährige, unauffällige Frau. Umso überraschter bin ich von ihrer festen, nachdrücklichen Stimme: „Hallo, ich möchte bitte mit jemandem sprechen.“ Ich verlasse den Kiosk und die Frau tritt ein. Eine dreiviertel Stunde dauert das Gespräch, in dem die Frau dem Ohr ihre verzwickte Lebenssituation schildert. Für Yeshe (links) ein Beispiel für die Unterschiede in den Themen, die unterschiedliche Generationen mitbringen:
„Die Jungen stehen im Leben, sind mit Ausbildung und Studium beschäftigt. Bei Älteren geht es viel um Einsamkeit, besonders während der letzten Jahre sind viele Beziehungen auseinandergebrochen. Außerdem geht es viel um die Sehnsucht, dass alles nochmal so sein könnte, wie es mal war, und dass es schwer ist, mit sich selbst zu sein.”
Es sind Themen, die viele womöglich sonst mit einer Freundin oder einem Freund besprechen würden. Doch was, wenn es genau daran fehlt? In den Zuhör-Kiosk kommen deshalb häufig Menschen, die neu in Hamburg sind und noch kein soziales Umfeld haben, gerade anfangen zu studieren oder geflüchtet sind. „Dann geht es darum, Mitgefühl zu zeigen. Auch das ist schon unglaublich wertvoll.“
Niedrigschwelliger Zugang
Das Gesprächsangebot wahrzunehmen, klingt so leicht: In der Emilienstraße aussteigen und die Ohren ansprechen.
Doch für viele ist auch das eine große Hürde: Die eigenen Probleme scheinen zu unbedeutend, das Stigma des ‘Hilfe brauchen’ zu groß. Yeshe erzählt, dass viele derjenigen, die zum Reden kommen, im Vorfeld schon mehrfach am Kiosk vorbeispaziert seien. Mehrere Anläufe bräuchte es oft, bis sie es schaffen, über ihren Schatten springen.
Auch Ilka erzählte mir zuvor von ihren Bemühungen, den Gästen das Ansprechen zu erleichtern: Manche, die interessiert scheinen, spreche sie vorsichtig an, stets mit einer gewissen Zurückhaltung, um die Entscheidung der Person zu überlassen. Auch an diesem Tag blieb eine Frau eine ganze Weile in der Nähe des Kiosks stehen. Ilka lächelt erst freundlich, dann winkt sie der Passantin zu. Langsam tritt die Frau näher und erzählt, dass sie schon häufiger an dem Kiosk vorbeigegangen war, fragt, wie ein Gespräch abläuft. Schließlich verabredet sie sich mit der Zuhörerin. Nächsten Freitag will sie wiederkommen.
Ihr fällt dabei auch ein älterer Mann aus der Nachbarschaft ein, ein häufiger Gast, der trotz tieferer Themen immer darauf besteht, es bei einem Fenstergespräch zu belassen. „Er steht dann auch im Winter eine Stunde lang hier, aber würde sich nie hier hineinsetzen. Das ist ihm zu psychologisch – auch, wenn es das eigentlich gar nicht ist. Ich habe ihm angeboten, mal im Sommer im Park spazieren zu gehen. Da war er dann total begeistert“, erzählt die Zuhörerin lachend. Man merke deutliche Vorurteile, die insbesondere in den Köpfen älterer Männer noch immer stark verankert sind. Die daraus resultierende Mehrzahl weiblicher Gäste bemerkt auch Yeshe: „Ich glaube, die Herren der Schöpfung sind da ein bisschen scheu. Die wissen nicht mit ihren Emotionen umzugehen.“
Während meines Besuchs im Kiosk beobachte ich immer wieder Menschen, nicht nur Männer, die unauffällig die zugeklebte Fassade des Häuschens mustern. Der junge Mann in der indigofarbenen Jacke, ‘würde ihm vielleicht ein Gespräch guttun?’, frage ich mich unwillkürlich. Oder was ist mit der älteren Dame mit dem kleinen Hund, die den Zettel mit den Öffnungszeiten (Mo – Fr: 12 – 18 Uhr) studiert? Hat sie zu Hause jemanden, mit dem sie über ihre Sorgen, aber auch ihre glücklichen Momente sprechen kann?
Diese Gedanken begleiten mich auch dann noch, als ich wieder in die U2 steige und den Zuhör-Kiosk durch die verschmierte Scheibe an mir vorbeiziehen sehe. Während ich die Menschen um mich betrachte – die meisten davon in Handy, Gespräch oder eigene Gedankenwelt vertieft –, muss ich an einen Gast denken, von dem Ilka am Ende erzählte. Er sei mit der Intention gekommen, an diesem Tag mit fünf neuen Menschen zu sprechen. „Ich finde das gut, insbesondere in der Anonymität einer Stadt wie Hamburg“, kommentierte sie. Wieso eigentlich nicht, überlegte ich. Mir schien das spannend: Die Komfortzone verlassen, neue Menschen kennenlernen, die Perspektive wechseln. Ich verspreche mir, es auch zu probieren. Direkt heute.
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Bilder: Linnea Schüch