Sicherheit für alle stellt eine der größten Herausforderungen der Musik- und Festivalbranche dar. Was heute schon getan wird.
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Sommerzeit bedeutet für viele Menschen – mich eingeschlossen – vor allem: Festivalzeit. Heißt: tanzen, feiern, abtauchen in eine andere Welt. Möglich machen diesen Alltagseskapismus neben den Menschen auf den Bühnen und hinter den Turntables vor allem die Menschen im Hintergrund, die Organisationsherausforderungen meistern und sich bemühen, Festivals zu einem sicheren Ort für alle zu machen. Häufig verborgen bleibt nämlich vor allem männlichen Festivalbesuchern, was solche Veranstaltungen teils noch bedeuten: Catcalling, Belästigung und die Enttäuschung darüber, den Lieblingsact nicht genießen zu können, weil der Typ hinter dir seine Hand auffällig oft an deiner Hose hat. Und nein, so ein Unwohlsein löst sich mit einem Platzwechsel nicht unbedingt.
Umso hoffnungsfroher blickte ich dem diesjährigen Festivalsommer entgegen, denn neben Themen wie Nachhaltigkeit und Parität, also dem Bestreben um mehr nicht-männliche Acts, sehen sich Veranstaltungen auch zunehmend in der Verantwortung, Awareness [dt. Bewusstsein] als akute Aufgabe anzugehen.
„Awareness bezeichnet das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit für Situationen, in denen die Grenzen anderer überschritten werden oder wurden. Alle Formen von Diskriminierung und (sexualisierter) Gewalt können dabei eine Rolle spielen, es geht aber auch um Sensibilität für das Wohlbefinden einer Person. (Quelle: Awareness Akademie)
Ziel von Awareness-Arbeit ist es nach Angaben der Awareness Akademie, die sich als Teil eines Netzwerks von Initiativen und Organisationen im Bereich Awareness und Diversity sieht, dass sich alle Menschen möglichst wohl, frei und sicher fühlen können – unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung, Hautfarbe, Herkunft, Aussehen und körperlichen Fähigkeiten. Das Bewusstmachen von Strukturen wird dabei einerseits als Präventionsarbeit verstanden, andererseits soll geschultes Personal Betroffene im Falle grenzüberschreitender Situationen unterstützen können.
In diesem Jahr achtete ich, die Festivals bereits vor wie hinter den Kulissen erlebt hatte, mit besonderem Interesse darauf: Welche Rolle spielt Awareness auf Festivals? Was unternehmen Festivals, um Sicherheit auf Veranstaltungen zu garantieren? Und: Wie schafft man es wirklich, übergriffiges Verhalten zu verhindern?
Ich merkte schnell – und zerstöre nun die komplette Dramaturgie dieses Selbstversuchs: gar nicht. Doch positive Entwicklungen in der Festivalszene gibt es dennoch. Ein Blick dahin, wo bereits Bemühungen stattfinden.
Den eigenen Standpunkt klarmachen – bereits im Vorfeld
Awareness-Arbeit beginnt bereits lange vor dem eigentlichen Event. Dabei geht es vor allem darum, sich als Veranstalter:in klar mit den eigenen Werten zu positionieren und den Bemühungen um einen diskriminierungsfreien Raum Sichtbarkeit zu verschaffen. Schriftlich festgehalten und öffentlich kommuniziert werden diese meist durch den Code of Conduct, den Verhaltenskodex, dessen Kern meist lautet: Nein zu allen -ismen. Nein zu Sexismus, Rassismus, Homophobie und Transfeindlichkeit.
Um das auf der Veranstaltung selbst umzusetzen, sind mittlerweile auf vielen Veranstaltungen Awareness-Teams im Einsatz, die durch Schulungen auf den Umgang mit Personen, die Diskriminierung und Übergriffe erleben mussten, vorbereitet werden. Das Campus-Festival in Konstanz arbeitete dafür etwa mit nachtsam zusammen, einer durch das Baden-Württembergische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration geförderten Kampagne. Deren selbsterklärtes Ziel: „Gutes Feiern für alle durch Sensibilisierung zum Thema sexuelle Belästigung und Übergriffe”. Veranstaltende, Clubinhaber:innen und andere Menschen, die Events organisieren, können im Rahmen von nachtsam kostenlos Schulungen in Anspruch nehmen – wie es das Konstanzer Campusfestival tat. „In einer internen Konferenz haben wir dann alles nachbesprochen. Das Wichtigste ist, dass wir die Person zu nichts drängen“, resümiert eine Mitarbeiterin des Konstanzer Awareness-Teams.
Lokale Arbeitsgruppen für mehr Sichtbarkeit
Auch dem Kölner c/o pop-Festival ging in diesem Jahr mit Unterstützung der Initiative Act Aware ein Tagesworkshop voraus, der für ein tieferes Verständnis der Thematik bei allen Beteiligten sorgen sollte. Denn: „Wenn die Leute im Team das nicht mittragen, funktioniert das nicht”, so Ralph Christoph, Mitgründer des Kölner c/o pop-Festivals. Anders als bei anderen Festivals, die auf einem großen Gelände stattfinden, verteilen sich die Bühnen der c/o pop auf viele verschiedene Venues, also Clubs und andere Veranstaltungsorte, im angesagten Stadtteil Ehrenfeld. In Sachen Awareness eine Herausforderung, denn überall gilt jeweils das eigene Hausrecht. Awareness vollständig und flächendeckend zu garantieren, sei daher nach Ralph ein „schweres Unterfangen“. Seiner Meinung nach brauche es einen einheitlichen Leitfaden und eine entsprechende Schulung für das Personal in allen Kölner Clubs. „Deshalb braucht es vor allem starke Partner:innen”, ist er sich sicher.
Einen besonderen Stellenwert nimmt das Thema Awareness auch auf dem snntg Festival in Hannover ein. Seit letztem Jahr ist das junge Festival Teil der Arbeitsgruppe We Take Care, die sich gemeinsam mit verschiedenen Hannoveraner Beratungsstellen und Verbänden wie dem Frauennotruf Hannover und dem Landesverband Soziokultur für mehr Sicherheit im Nachtleben einsetzt. Unterstützt und finanziell gefördert wird das Projekt vom Referat für Frauen und Gleichstellung der Landeshauptstadt Hannover, wodurch der Zugang zu Schulungen und Weiterbildungen erleichtert wird. Ähnliche Zusammenschlüsse, Arbeitsgruppen und Initiativen gibt es mittlerweile in fast jeder größeren Stadt, etwa in Berlin, Hamburg und Freiburg. Sie alle sprechen mit ihrer Bildungsarbeit Veranstaltende wie auch Besuchende an, um eine größere Sichtbarkeit für die Thematik zu schaffen.
Die Arbeit vor dem snntg selbst habe vor allem aus viel Konzeptarbeit sowie einer Schulung bestanden, so Alicia Reitze. Sie ist gemeinsam mit Tanja Klause und Gwendolyn Patzer Hauptverantwortliche des snntg-Awarenessteams. Außerdem haben sie durch die Arbeit auf anderen Veranstaltungen Erfahrung im Umgang mit Krisensituationen sammeln können. Während der Schulung habe das fast 40-köpfige Awareness-Team Situationen und Probleme besprochen, die während des Festivals auftreten können – nicht nur bezüglich sexualisierter Gewalt. Alicia beschreibt, dass Formen rassistischer Diskriminierung sowie Queer- und Transfeindlichkeit zu den besprochenen Themen zählen – auch, wenn sie damit noch am Anfang stehen.
„Es können immer blöde Situationen passieren, aber wir wissen zumindest, dass wir etwas haben, worauf wir zurückgreifen können.“ Und: „Wenn man sich auf eine Handlungsleitlinie berufen kann, ist es weniger eine persönliche Entscheidung in der Situation. Das nimmt den Leuten im Awareness-Team den Druck.”
Präsenz auf dem Festival
Klar ist: Das Thema Awareness muss auf der Veranstaltung präsent sein – um Täter:innen abzuschrecken und Betroffenen das Hilfesuchen so einfach wie möglich zu machen. Umgesetzt wird das einerseits durch feste Awareness-Points, wie auf dem Deichbrand, an denen das Awareness-Team, meist mit pinken Warnwesten, auffälligen As auf den Oberteilen oder entsprechenden Aufdrucken gekennzeichnet, anzutreffen ist.
Zudem werden beispielsweise die Besuchenden des Habitats, einem Hamburger Festival für elektronische Musik, am Einlass persönlich über die Arbeit des Awareness-Teams informiert. Das snntg verteilt am Eingang kleine Kärtchen mit der Nummer des Awareness-Teams sowie weiteren Informationen. Und neben der Hauptbühne des Campusfestivals in Konstanz machen zudem Plakate und digitale Anzeigen klar: Hier ist kein Platz für Sexismus, Rassismus und Gewalt. Darüber hinaus gehören Plakate mit der Awareness-Nummer auf zahlreichen Festivals bereits zum Standard, um Besuchenden den Kontakt zum Awareness-Team zu erleichtern. Diese Bemühungen würden vor allem auf sehr viel positives Feedback stoßen, so Alicia vom snntg: „Und einige sagen, sie fühlen sich so wohler und haben ein gutes Gefühl.“
Ein sicherer Ort für ALLE
Ein sicherer Ort für alle wollen Festivals sein. Mitgedacht werden alle aber nur selten. Vor allem nicht Menschen mit Behinderung. Laut einer Studie des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2019 sind etwa 1,4 Millionen Menschen, also etwa 1,7 % der Weltbevölkerung, mit dem Rollstuhl unterwegs. Wenn ich da so an die Festivals in diesem Jahr denke, waren dort gerade eine Hand voll. Und ich bin mir sehr sicher, dass diese Diskrepanz nicht darauf beruht, dass Menschen im Rollstuhl keine Live-Musik mögen.
Die gegebenen Outdoor-Voraussetzungen der meisten Festivals machen Barrierefreiheit zu einer großen Herausforderung, doch die Bemühungen dahingehend nehmen auch auf den größten Festivals wie dem Wacken Open Air zu. Dort ermöglichen Bühnenpodeste Rollstuhlfahrer:innen eine bessere Sicht und es stehen Physiotherapeut:innen bereit, um den Festivalbesuch so unbeschwert wie möglich zu gestalten. Auf Festivals wie dem snntg verstärken außerdem Hörinduktionsschleifen akustische Signale und ermöglichen es hörgeschädigten Musikfans, diese über das Hörgerät zu empfangen.
Auf dem Weg statt am Ziel
Selten hat ein Artikel für mich zu so vielen Gesprächen geführt wie dieser. Ich habe mit zahlreichen Menschen gesprochen, die auf Festivals gehen, selbst welche organisieren und die sich intensiv mit Awareness-Arbeit beschäftigen. Alle hatten etwas zu Awareness zu sagen, einem Terminus, der durch Rammstein (und damit soll der Fall keineswegs positiv konnotiert werden) aus dem Kulturjargon in die breite Öffentlichkeit lancierte. Rausgestoßen aus der Ecke kleiner alternativer Musikveranstaltungen. Reingestoßen in einen Mainstream, womit gleichermaßen die Freude über mehr Sichtbarkeit wie auch die Angst um eine Verwässerung, einem Falschverstehen der Thematik wächst.
Doch meine Gesprächspartner:innen einte vor allem eins: ein Tatendrang und eine Haltung, die mit dem Postulat gefasst werden kann, mit dem Rapper Ansu im Vorjahr seine Kampagne gegen Übergriffe betitelte. Irgendwas muss sich verändern. Gleichzeitig ist da die nüchterne Feststellung von Festivalgründer Ralph Christoph: „Awareness erfordert sowohl zeitliche als auch monetäre Kapazitäten.” So hart es klingt: In Zeiten, in denen Ticketpreise um durchschnittlich 30 Prozent gestiegen sind, stellt sich damit insbesondere bei kleineren Veranstaltungen die Frage, wie viel Bemühungen um Sicherheit nötig und wie viel wirtschaftlich vertretbar sind.
Ohnehin: Der vollkommene safe space ist auf Festivals leider noch immer eine Utopie. Nicht ohne Grund sprechen darum mittlerweile viele Festivals von dem Anspruch, die eigene Veranstaltung zu einem safer space zu machen. In Köln geht man ehrlich mit den Herausforderungen um: „Ich sage lieber, dass wir auf dem Weg sind“, so Ralph. Auch in diesem Jahr sei das Team mit „vielen learnings“ aus der Veranstaltung gegangen – und wisse nach einem ausführlichen Feedbackgespräch umso besser, was im nächsten Jahr weiter verbessert werden kann. Ähnliches berichtet Alicia in Hannover: „Das ist Work in Progress und man wird auch nie fertig damit sein. Und dass man weiß, man muss noch was machen, ist ja auch Teil des Ganzen.“
Awareness geht uns alle an
Wer Awareness-Konzepte – wie einige Rammstein-Fans – noch immer als woke Nutzlosigkeit abstempelt, hat eins nicht verstanden: Im Grunde will keiner der Menschen in den pinken Westen diese Arbeit machen müssen. Allen wäre lieber, wenn es keinen Bedarf dafür geben würde, Betroffenen von sexueller Gewalt und Diskriminierung Unterstützung anzubieten. Doch in der Realität ist eben genau das nötig. Und das vielleicht Erschreckendste: Diese Realität herrscht sogar dort, wo Menschen der ‚normalen‘ Realität entfliehen wollen. Dort, wo Veranstaltende die Illusion einer Parallelwelt erschaffen. Wo Eskapismus in Mikrokosmen gelebt wird. Zumindest bis der letzte überfüllte Shuttlebus die zu diesem Zeitpunkt Erschöpften zum Bahnhof in der nächsten egalen Stadt bringt.„Gerade wenn die Freiheit schier grenzenlos scheint, ist die Achtsamkeit auf das, was um euch herum passiert, unerlässlich“, heißt es von der Fusion. Das größte elektronische Musikfestival in Deutschland ruft zu Solidarität und zum achtsamen Miteinander auf. Denn: „Nur durch gemeinsame Verantwortung kann sich Awareness für alle entwickeln.“ Das gilt selbstverständlich auch abseits von Beats und Drops und überhaupt immer. Die gute Nachricht: Diese Awareness entwickelt sich. Und trägt so dazu bei, dass Festivals vielleicht irgendwann zu dem werden, was sie sein sollten. Ein Ort der Freude – für alle Menschen.
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