Warum uns die Vergangenheit oft schöner erscheint, als sie war – und wie Nostalgie uns stärken kann, ohne dass wir uns in ihr verlieren.
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In Erinnerungen wohlfühlen
Wenn ich daran denke, was Nostalgie bedeutet, atme ich erst einmal hörbar laut aus und muss dann lächeln. So ging es auch allen, die ich danach gefragt habe, was Nostalgie für sie bedeutet. Es sind die Erinnerungen an alte Wohnorte, vergangene Lieben, spannende Fußballmeisterschaften an heißen Sommertagen, pappsüße Getränke aus der Jugend und geliebte, längst abgesetzte TV-Serien. Nostalgie ist ein warmes Gefühl, das Freude mit einer unbestimmten Sehnsucht verbindet. Und Nostalgie ist allgegenwärtig: Im eigenen Leben, in der Musikindustrie, in der Mode, in der Gesellschaft und vielem mehr.
Manchmal, wenn ich durch meine Heimatstadt gehe oder Bücher aus meiner Kindheit in den Händen halte, kommen diese Erinnerungen wie eine Welle der Wärme zurück. Es ist dann nicht nur das Gefühl von Freude, welches mich durchströmt, sondern meist auch eine tiefe Verbundenheit und Dankbarkeit für die Erlebnisse, die einmal waren. Fast schon wehmütig blicke ich dann auf Dinge aus meiner Kindheit und Jugend. Diese Momente tragen eine Leichtigkeit in sich, die ich in der Gegenwart oft vermisse – eine Leichtigkeit, die sich schwer in den heutigen Alltag übertragen lässt. Und dann frage ich mich: Warum ist es so schwer, diese Leichtigkeit auch im Jetzt zu spüren? Warum ist die Vergangenheit so verführerisch und die Gegenwart so unscheinbar?
In meinem alten Kinderzimmer habe ich zuletzt eine Kiste voller Kassetten entdeckt und dachte mir: Ach, das waren noch Zeiten. Als Kind suchte ich mir jeden Abend eine aus, legte sie in den Rekorder und ließ mich von der vertrauten Stimme des Erzählers in den Schlaf reden. Nach der Hälfte des Hörspiels musste ich aufstehen und die Kassette wenden, wenn ich noch den Rest hören wollte. War das wirklich besser, als heute einfach einen Track auf Spotify anzuklicken? Wohl kaum. Und doch verbinde ich diese kleinen Plastikhüllen mit einer scheinbar einfacheren Zeit. Sie sind für mich der Inbegriff von Nostalgie – genau wie meine Diddl-Blätter, die neben den Kassetten liegen. Ach, die unbeschwerte Kindheit!
Rosige Vergangenheit?
Dieses gängige Narrativ von „Früher war alles besser“ lässt sich durch eine kognitive Verzerrung, der sogenannten Rosy Retrospection, erklären. Der psychologische Effekt lässt Menschen die Vergangenheit im Rückblick oft positiver wahrnehmen, als sie tatsächlich war. In Wahrheit war die Vergangenheit aber meist nicht so rosig, wie wir sie in Erinnerung haben – unsere nostalgischen Gefühle tricksen uns aus. Objektiv betrachtet ist heute nämlich vieles besser als früher: höhere Lebenserwartung, medizinischer Fortschritt, bessere Bildung, größere Jobchancen. Und doch hält sich die Vorstellung, dass die Welt früher schöner, einfacher und lebenswerter war, wacker. In anderen Worten: Wir machen uns die Vergangenheit oft so, wie sie uns gefällt. In einer Studie des US-amerikanischen Psychologen Terence Mitchell beispielsweise wurden Menschen vor, während und nach einem Urlaubstrip nach ihren Erfahrungen befragt. Die Ergebnisse zeigten, dass viele von ihnen während des Urlaubs durchaus auch negative Aspekte wahrnahmen. Diese verschwanden jedoch rückblickend fast vollständig aus der Erinnerung – übrig blieb eine geschönte Version der Realität. Die negativen Aspekte verblassen also, während schöne Erinnerungen überwiegen.
Wozu kann das gut sein?
Doch warum empfinden wir Nostalgie überhaupt? Wozu dient diese Verzerrung? Die psychologische Forschung deutet darauf hin, dass nostalgische Gefühle unsere Grundbedürfnisse stärken. Dazu gehören Zugehörigkeit, Sicherheit und Kontrolle. Besonders in Krisenzeiten neigen wir dazu, uns an vermeintlich bessere Zeiten zu klammern – Nostalgie vermittelt uns dann die herbeigesehnte Geborgenheit. Auch in einsamen Lebensphasen, flüchten wir oft in nostalgische Erinnerungen, denn sie geben uns ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Die Erinnerungen an die Jugend und Kindheit agieren als Anker in einer schnelllebigen Zeit und prägen obendrauf noch unsere Identität bis in die Gegenwart. Die einschneidenden “ersten Male” in unserem Werdegang passieren nämlich zum Großteil in den ersten Abschnitten unseres Lebens: Der erste Urlaub, das erste Mal im Kino, das erste Mal Verliebtsein, der erste Erfolg. Momente und Erinnerungen wie diese bilden ein Fundament für den Rest unseres Lebenswegs. Die meisten nostalgischen Erinnerungen sam…