Forschende der Universität Cambridge haben gezeigt, dass es möglich ist, Anzeichen für eine Demenzerkrankung bereits neun Jahre vor der Diagnose zu erkennen.
In der Mitte Oktober in der Zeitschrift Alzheimer’s & Dementia: The Journal of the Alzheimer’s Association veröffentlichten Studie analysierten Forschende der Universität Cambridge Daten aus der britischen Biobank und stellte bei einer Reihe von Erkrankungen Beeinträchtigungen in verschiedenen Bereichen fest, z.B. beim Problemlösen oder beim Erinnern von Zahlen.
Was bedeutet diese Erkenntnis?
Derzeit gibt es nur sehr wenige wirksame Behandlungen für Demenz oder andere neurodegenerative Erkrankungen wie die Parkinson-Krankheit. Das liegt zum Teil daran, dass diese Krankheiten oft erst dann diagnostiziert werden, wenn Symptome auftreten, während der zugrunde liegende Funktionsverlust von Nervenzellen möglicherweise schon Jahre – oder gar Jahrzehnte – früher eingesetzt hat. Das bedeutet, dass es zu dem Zeitpunkt, zu dem Patienten an klinischen Studien teilnehmen, bereits zu spät sein kann, um den Krankheitsverlauf noch zu ändern.
Die Ergebnisse eröffnen nun die Möglichkeit, dass in Zukunft Risikopatienten weit im Voraus gescreent werden könnten. Mithilfe des Screenings könnten diejenigen identifiziert werden, deren Erkrankungsrisiko durch geeignete Maßnahmen vermindert werden könnte. Zugleich könnten Patienten identifiziert werden, die für eine Teilnahme an klinischen Studien für neue Behandlungen geeignet sind.
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Wie gingen die Forschenden vor?
Bislang war unklar, ob es möglich ist, Veränderungen der Gehirnfunktion vor dem Auftreten von Symptomen zu erkennen. Um diese Frage zu beantworten, wandten sich die Forschenden der Universität Cambridge und des Cambridge University Hospitals NHS Foundation Trust an die UK Biobank. Die UK Biobank ist eine biomedizinische Datenbank und Forschungsressource, die anonymisierte genetische, Lebensstil- und Gesundheitsinformationen von einer halben Million britischer Teilnehmenden im Alter von 40 bis 69 Jahren enthält.
UK Biobank sammelte nicht nur Informationen über den Gesundheitszustand und die Krankheitsdiagnosen der Teilnehmenden, sondern auch Daten aus einer Reihe von Tests. Auf diese Weise konnte rückblickend festgestellt werden, ob zu Beginn der Studie, d. h. bei der ersten Erfassung der Teilnehmenden (fünf bis neun Jahre vor der Diagnose), bereits Anzeichen vorhanden waren.
Menschen, die später an Alzheimer erkrankten, schnitten bei Problemlösungsaufgaben, Reaktionszeiten, dem Erinnern von Zahlenlisten, dem prospektiven Gedächtnis (unserer Fähigkeit, uns später an etwas zu erinnern) und der Paarbildung schlechter ab als gesunde Personen. Dies war auch bei Menschen der Fall, bei denen eine seltenere Form der Demenz, die sogenannte Frontotemporalen Demenz, diagnostiziert wurde.
Bei Menschen, die später Alzheimer bekamen, war die Wahrscheinlichkeit höher als bei gesunden Erwachsenen, dass sie in den vorangegangenen zwölf Monaten einen Sturz erlitten. Bei Patient:innen, die später an einer seltenen neurologischen Erkrankung, der Progressiven supranukleären Blickparese (PSP), erkrankten, die das Gleichgewicht beeinträchtigt, war die Wahrscheinlichkeit eines Sturzes mehr als doppelt so hoch wie bei gesunden Personen.
Bei jeder untersuchten Erkrankung – einschließlich der Parkinson-Krankheit und der Demenz mit Lewy-Körperchen – berichteten die Patient:innen bei Studienbeginn über einen schlechteren allgemeinen Gesundheitszustand.
Chance für Risikosenkung und Medikamentenbehandlung
Nol Swaddiwudhipong, ein Assistenzarzt an der Universität Cambridge und Erstautor der Studie, sagte:
„Als wir uns die Krankengeschichte der Patienten ansahen, wurde deutlich, dass sie bereits mehrere Jahre vor dem Auftreten ihrer Symptome kognitive Beeinträchtigungen aufwiesen, die eine Diagnose erforderlich machten. Die Beeinträchtigungen waren oft subtil, betrafen aber eine Reihe von kognitiven Aspekten. Dies ist ein Schritt in die Richtung, dass wir in der Lage sein werden, Menschen mit dem größten Risiko zu untersuchen – zum Beispiel Menschen über 50 oder solche, die Bluthochdruck haben oder sich nicht ausreichend bewegen – und in einem früheren Stadium einzugreifen, um ihnen zu helfen, ihr Risiko zu verringern.”
Der Hauptautor der Studie, Dr. Tim Rittman von der Abteilung für klinische Neurowissenschaften an der Universität Cambridge, fügte hinzu:
„Die Menschen sollten sich nicht übermäßig Sorgen machen, wenn sie sich zum Beispiel Zahlen nicht gut merken können. Auch einige gesunde Menschen werden natürlich besser oder schlechter abschneiden als ihre Altersgenossen. Aber wir würden jeden ermutigen, der Bedenken hat oder bemerkt, dass sein Gedächtnis oder sein Erinnerungsvermögen schlechter wird, mit seinem Hausarzt zu sprechen.”
Dr. Rittman sagte, die Ergebnisse könnten auch dabei helfen, Menschen zu identifizieren, die an klinischen Studien für potenzielle neue Behandlungen teilnehmen können:
„Das Problem bei klinischen Studien ist, dass sie zwangsläufig oft Patienten mit einer Diagnose rekrutieren, von denen wir aber wissen, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten sind und ihr Zustand nicht mehr aufgehalten werden kann. Wenn wir diese Menschen früh genug finden können, haben wir eine bessere Chance zu sehen, ob die Medikamente wirksam sind.“