Lea Baroudi weiß um die Macht der Künste. Sie ist Libanesin und lebt in Tripoli, der zweitgrößten Stadt und dem zweitgrößten Hafen des Libanon. Vor zehn Jahren gründete sie die Organisation MARCH: “Alles begann 2014 mit einer einfachen Idee. Ich beschloss, mit Hilfe des Theaters zu versuchen, Kämpfer:innen zweier gegnerischer Fraktionen in Tripoli zu versöhnen, die sich über ihre jeweiligen Interpretationen des Bürgerkriegs in Syrien stritten.”
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Die Menschen, die Baroudi damals mit ihrem Kunstprojekt ansprechen wollte, kämpften gegeneinander, mit Worten und mit Waffen. Die Vorurteile waren tief. Sie lebten im alawitischen Viertel Jabal Mohsen, das sich als loyal dem syrischen Regime gegenüber positioniert und dem sunnitischen Viertel Bab el Tabbaneh, das auf der Seite der Opposition steht. Viele von ihnen hatten an der Front in Syrien gekämpft, auf unterschiedlichen Seiten. Ihre Wohnquartiere sind nur durch eine Straße getrennt, die, wie Baroudi sagt, „ironischerweise“ Syrien-Straße heißt.
“Als ich beschloss, in einer der schwierigsten Regionen des Libanon zu arbeiten, dachten die meisten Menschen um mich herum, ich würde eine unmögliche Aufgabe angehen.” Nach vielen Hindernissen konnte Baroudi schließlich 16 junge Ex-Kombattant:innen davon überzeugen, in einem Theaterstück mitzuspielen, das von ihrem Leben inspiriert sein sollte.
„Der wahre Gegensatz von Frieden ist nicht der Krieg, sondern die Angst.“ – Dalai Lama
“Es ist nicht einfach zu verstehen, warum Menschen so extrem in ihrem Denken und Handeln werden”, sagt Baroudi. “Doch mittlerweile bin ich mir sicher, es sind keine ideologischen Gründe! Wir denken, es würde um Religionen gehen oder Nationalität. Das wäre die Motivation, warum Menschen sich Terrororganisationen wie ISIS anschließen. Doch ich denke, es ist im Grunde ein Mangel an Identität, eine erlebte Ungerechtigkeit, ein Mangel an Hoffnung. All dies geschürt durch Angst, die sie leicht manipulierbar macht. Sie erfahren dann in den extremistischen Gruppen plötzlich ein Gefühl von Wert. Außerdem erhalten sie dadurch ein kleines finanzielles Einkommen.”
Das Leben vieler Menschen in Tripoli ist von großer Armut geprägt. Ganze 15 Jahre – von 1975 bis 1990 – herrschte im Libanon ein Bürgerkrieg. Die Folgen dieser Zeit prägen bis heute das Leben vieler Einwohner:innen. In Tripoli sind fast 70 Prozent der Bevölkerung von Arbeitslosigkeit betroffen, ein Drittel lebt in extremer Armut und hat keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung. Viele junge Menschen besitzen nicht einmal einen Personalausweis oder eine Geburtsurkunde. “Das ist ein fruchtbarer Boden für extremistische Rekrutierung – eine Rekrutierung der Armen, der Frustrierten, der Hoffnungslosen.“
Sie wussten nicht, dass es unmöglich war, und deshalb haben sie es getan. – Mark Twain
Der Start des Kunstprojekts, das Lea Baroudi mit ihrem Team ins Leben gerufen hat, war holprig. Sie hielten ein Vorsprechen ab und die Menschen tauchten nur zögerlich auf. “Viele kamen aus purer Neugierde, weil sie sich fragten: Wer sind diese Verrückten aus Beirut?!”, erinnert sich Baroudi. So kam einer der ausgewählten Bewerber:innen am Ende des Vorsprechens zu ihr, legte seine Waffe auf den Tisch und sagte: “ Und jetzt erzählt mir, was ihr wirklich hier von uns wollt. Ich habe selbst noch nie ein Theaterstück gesehen und jetzt denkst du ernsthaft, ich könnte selbst ein Schauspieler sein?”
Immer mehr erkannte Baroudi die größte Hürde ihres Projekts: Die Menschen waren der tiefen Überzeugung, wertlos zu sein. Sie dachten, niemand würde sich für ihr Leben interessieren, geschweige denn kommen, um sie auf der Bühne zu sehen.
So begannen die Proben. Die angehenden Schauspieler:innen kamen am Anfang oft zu spät oder gar nicht. Das Team ging zu ihnen nach Hause und bestärkte sie unermüdlich in ihrem Vorhaben. “Ich erinnere mich noch lebhaft an die surreale Erfahrung, an der Tür des Proberaums zu stehen und sicherzustellen, dass sie unbewaffnet waren.” Nach und nach änderte sich die Stimmung. Die Teilnehmer:innen übernahmen immer mehr Verantwortung und Aufgaben. Durch Methoden des biografischen Theaters kamen sie in Bewegung, fingen an, einander ihre Geschichten zu erzählen, kanalisierten Ärger und Frust, weinten und lachten zusammen.
Es entstand eine Komödie: “Es gab Auf und Abs. Doch trotz anfänglicher Spannungen und Widerstände ermöglichte das Projekt ihnen, die Bar…