Nein bedeutet Nein

Frankreich startet Aufklärungsunterricht für mehr Geschlechtergerechtigkeit

von | 7. April, 2025

Frankreich will in diesem Jahr Aufklärungsunterricht schon ab dem Kindergarten einführen.

Ab September steht in Frankreich eine bedeutende Änderung im Bildungssystem an: Öffentliche und private Schulen werden verpflichtende Unterrichtseinheiten zu Geschlechtergleichstellung, Einvernehmen und Sexualerziehung einführen. Die Reform, initiiert von Bildungsministerin Élisabeth Borne, soll dazu beitragen, sexuelle Gewalt sowie Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu bekämpfen.

Während die Maßnahme von vielen als wichtiger Schritt für mehr Aufklärung und Prävention begrüßt wird, stößt sie insbesondere bei konservativen Gruppen auf Kritik. Die Debatte zeigt, wie kontrovers das Thema in der französischen Gesellschaft diskutiert wird.

Sexualkunde von klein auf: Ein altersgerechter Ansatz

Das neue Curriculum sieht vor, dass Schüler:innen aller Altersgruppen eine altersgerechte Sexualerziehung erhalten. Geplant sind drei verpflichtende Unterrichtseinheiten pro Jahr für Grundschulen, Mittelstufen- und Oberstufenklassen.

Laut Bildungsministerin Élisabeth Borne ist „Bildung über Liebe, über Beziehungen und Sexualität absolut essentiell“. Sie betont, dass das Programm „sehr sorgfältig darauf achtet, qualitativ hochwertige Informationen bereitzustellen, die an das Alter der Schüler angepasst sind“.

  • Im Vorschulalter (ab 4 Jahren) sollen Kinder die wissenschaftlichen Begriffe für Genitalien kennenlernen und grundlegende Konzepte wie Gleichberechtigung und Einvernehmen verstehen. Dazu gehören Rollenspiele, in denen Fragen wie „Darf ich deine Hand halten?“ gestellt werden, um zu vermitteln, dass es in Ordnung ist, „Nein“ zu sagen.
  • Ab 13 Jahren werden Schüler:innen mit den Unterschieden zwischen biologischem Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung vertraut gemacht.
  • Mit 14 Jahren sollen Jugendliche ein tieferes Verständnis für Sexualität entwickeln, wobei Aspekte wie Lust, Liebe und Fortpflanzung thematisiert werden.
  • Ab 16 Jahren werden „die biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen“ behandelt, allerdings mit der Klarstellung, dass diese Unterschiede „keinen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung, das Verhalten und die Rollen haben, die Menschen in der Gesellschaft einnehmen“.

Die Soziologin Kristen Barber, Professorin an der University of Missouri-Kansas City, unterstützt diesen Ansatz: „Sich von klein auf auf Einvernehmen zu konzentrieren, ist der Schlüssel zur Bekämpfung weit verbreiteten sexuellen Missbrauchs und zur Förderung der Menschenrechte.“

Hintergrund: Gesetzliche Verpflichtung, die bisher kaum umgesetzt wurde

Bereits seit 2001 sieht die französische Gesetzgebung drei verpflichtende Unterrichtseinheiten zur Sexualerziehung pro Jahr vor – doch in der Praxis wurden diese kaum umgesetzt. Nun soll die Vorgabe konsequenter durchgesetzt werden.

Der Unterricht ist altersgerecht aufgebaut: In der Grundschule stehen Emotionen, Körperwahrnehmung und verschiedene Familienstrukturen – darunter alleinerziehende, gleichgeschlechtliche und Patchwork-Familien – im Mittelpunkt. In der Mittelstufe wird der Fokus auf Pubertät, Geschlechterrollen und die Risiken von Online-Pornografie gelegt. In der Oberstufe rücken Themen wie Einvernehmen, Selbstbild und die gesellschaftliche Wahrnehmung von Geschlecht in den Vordergrund. Zudem werden Diskriminierung und Gewaltprävention thematisiert.

Bildungsministerin Élisabeth Borne betont, dass das Programm an die Reife der Schüler:innen angepasst sei und nicht die Rolle der Eltern ersetzen solle, sondern eine ergänzende Aufklärung biete.

Heftige Kritik: Konservative Gruppen laufen Sturm gegen die Reform

Die geplante Sexualkunde stößt insbesondere bei konservativen Gruppen auf Widerstand. Die katholisch geprägte Organisation SOS Education argumentiert: „Sexualerziehung liegt nicht im besten Interesse der Kinder.“ Ihrer Meinung nach sollten Schulen stattdessen „jedem Kind zunächst beibringen, zu lesen, zu schreiben, nachzudenken, Autoritäten zu respektieren und zu akzeptieren, dass andere Menschen anders denken und anders sind als sie selbst“.

Eine Petition gegen die Reform sammelte mehr als 80.000 Unterschriften. Kritiker:innen befürchten, dass die Inhalte zu früh eingeführt werden und in die Werteerziehung der Eltern eingreifen.

Um der Kritik entgegenzukommen, wurde der ursprüngliche Lehrplan angepasst: Die Anzahl der Erwähnungen von Geschlechtsidentität wurde von 15 auf 7 reduziert, und Diskussionen über dieses Thema werden erst in der Oberstufe stattfinden.

Frankreich politisch gespalten: ein umstrittenes Reformprojekt

Die geplante Reform sorgt nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der französischen Politik für Diskussionen. Der frühere Minister für akademischen Erfolg, Alexandre Portier, sprach sich im vergangenen Jahr öffentlich gegen einen früheren Entwurf des Programms aus. Seine Kritik wurde später von hochrangigen Regierungsvertretern zurückgewiesen.

Am Mittwoch wird die finale Version des Curriculums dem Höheren Bildungsrat (CSE) vorgelegt, einem Gremium, das Vertreter:innen von Lehrerverbänden und Elternorganisationen umfasst. Trotz der anhaltenden Debatte hält Bildungsministerin Élisabeth Borne an der Notwendigkeit der Reform fest: „Dieses Programm ist unverzichtbar.“

Fortschritt oder ideologische Bevormundung?

Die Einführung einer verpflichtenden Sexualerziehung in Frankreich markiert einen wichtigen Schritt in Richtung Aufklärung und Prävention. Während Befürworter:innen betonen, dass die Reform essenziell sei, um Einvernehmen und Gleichberechtigung zu stärken, äußern Kritiker:innen die Sorge, dass sie traditionelle Werte infrage stelle.

Doch eines steht fest: Der Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt ist immer auch eine politische Frage. Mädchen müssen lernen, dass sie eine Stimme haben – dass sie das Recht haben, „Nein“ zu sagen. Ebenso wichtig ist es, dass Jungen verstehen: Ein „Nein“ ist ausreichend.

Viel zu oft liegt der gesellschaftliche Fokus darauf, Mädchen und Frauen zu ermahnen, sich vor Gewalt zu schützen – durch Kleidung, Verhalten oder Vorsicht. Doch was viel seltener mit derselben Nachdrücklichkeit gesagt wird: „Männer dürfen nicht vergewaltigen.“

Ein nachhaltiger Wandel beginnt früh – nicht erst, wenn es zu spät ist. Das Bildungssystem und die Gesellschaft müssen die Verantwortung neu denken: Nicht die Betroffenen sollen sich schützen müssen, sondern die Täter müssen lernen, dass nur ein klares „Ja“ Zustimmung bedeutet. Auch ein leises, unsicher geflüstertes „Nein“ muss gehört und respektiert werden.

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