Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat heute ein bedeutendes Urteil für den Klimaschutz gefällt: Die Richterinnen und Richter bestätigen, dass Staaten gegen Menschenrechte verstoßen, wenn sie zu wenig für den Klimaschutz tun. Der Menschenrechtsbeschwerde der KlimaSeniorinnen Schweiz wurde stattgegeben.
Der Verein KlimaSeniorinnen Schweiz errang am heutigen Dienstag vor dem EGMR einen historischen Sieg. Die Mitglieder klagten wegen einer Verletzung ihrer Menschenrechte durch ungenügende Klimaziele.
Die Große Kammer des Gerichtshofs urteilte heute Vormittag im Fall “Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland” (application no. 53600/20), dass die Schweiz die Menschenrechte der älteren Frauen verletzt, weil das Land nicht das Nötige gegen die fortschreitende Klimaerwärmung tut. Konkret stellt das Gericht eine Verletzung von Artikel 8 fest (Recht auf Privat- und Familienleben). Der Gerichtshof stellt außerdem fest, dass die Klage des Vereins, der derzeit über 2.500 Frauen im Alter von 64 Jahren und älter vertritt, Opferstatus hat. Dies ist ein großer Sieg nicht nur für alle älteren Frauen, sondern für den Zugang zur Justiz in ganz Europa. Jetzt muss die Schweiz ihre aktuellen Klima-Zielsetzungen nachbessern und diese auf Basis wissenschaftlicher Grundlagen definieren. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Schweiz ihren Verpflichtungen aus der Menschenrechtskonvention bezüglich des Klimawandels nicht nachgekommen sei. Die Schweizer Behörden hätten nicht rechtzeitig und in geeigneter Weise gehandelt, um Maßnahmen zur Abschwächung der Auswirkungen des Klimawandels zu treffen. Darüber hinaus hat die Schweiz ihre eigenen, ungenügenden Ziele zur Reduktion der Treibhausgasemissionen nicht erreicht.
Erstmals hat ein länderübergreifendes und auf Menschenrechte spezialisiertes Gericht direkt einem menschenrechtlich begründeten Anspruch auf Klimaschutz recht gegeben.
“Schweiz verletzt mit ungenügender Klimapolitik die Pflicht zum Schutz der Seniorinnen”
Der Gerichtshof bestätigt mit seinem Entscheid, dass die klimabedingt immer häufigeren und intensiveren Hitzewellen eine reale und ernsthafte Gefahr für die Gesundheit und das Privat- und das Familienleben (Artikel 8 EMRK) der Seniorinnen darstellen, und dass ein Zusammenhang besteht zwischen diesen negativen Auswirkungen auf die Seniorinnen und den Schweizer Klimaschutzmaßnahmen.
Der Gerichtshof macht damit auch klar, dass die Schweiz die Pflicht hat, die Seniorinnen vor den Folgen der Klimaerwärmung zu schützen. Und er macht klar, dass die Schweiz mit ihrer ungenügenden Klimapolitik diese Pflicht verletzt hat.
In seinem Urteil äußert sich der EMGR zu den Anforderungen, die erfüllt werden müssen, um die festgestellte Lücke beim Klimaschutz zu beheben.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zudem geurteilt, dass die Schweiz das Recht der KlimaSeniorinnen auf Zugang zu einem Gericht verletzt habe. Die Schweizer Behörden und Gerichte hätten die von den Seniorinnen geltend gemachten Menschenrechtsverletzungen inhaltlich prüfen müssen. Auch im Kontext der Klimakrise besteht eine Pflicht, begangene Menschenrechtsverletzungen zu überprüfen.
Dieses Urteil hat weitreichende Auswirkungen. Es ist ein Präzedenzfall für alle 46 Staaten des Europarates. Alle Europarat-Staaten können jetzt von ihren Bürger:innen aufgefordert werden, ihre Klimapolitik zur Wahrung der Menschenrechte anhand der vom EGMR erarbeiteten Grundsätze zu überprüfen und nötigenfalls zu verstärken. Dadurch hat dieses Urteil weltweit Signalwirkung.
“Ein Meilenstein im Kampf für ein lebenswertes Klima für alle”
“Dieses Urteil ist nicht nur ein Sieg für uns KlimaSeniorinnen. Unser Sieg ist ein Sieg für alle Generationen. Insbesondere für die portugiesischen Jugendlichen, deren Generation von einem langfristig verbesserten Klimaschutz profitieren wird. Die Anwesenheit der Jugendlichen im Gerichtssaal zeigte den Richter:innen das Gesicht der Menschenrechte für die Zukunft”, sagt Rosmarie Wydler-Wälti, Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen.
„Dieses Urteil ist ein Meilenstein im Kampf für ein lebenswertes Klima für alle. Und das Urteil ist eine Genugtuung. Seit neun Jahren kämpfen wir mit Unterstützung von Greenpeace für Klimagerechtigkeit. Nachdem uns die Schweizer Gerichte nicht angehört haben, bestätigt nun der EGMR: Klimaschutz ist ein Menschenrecht.“
Anne Mahrer, Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen
“Ich bin überwältigt und extrem stolz, dass die Seniorinnen nach neun Jahren intensiver Arbeit nun endlich zu ihrem Recht gekommen sind. Das ist ein unbeschreiblicher Moment. Die Bedeutung dieses Entscheids ist nicht zu unterschätzen. Er wird weltweit für weitere Klimaklagen gegen Staaten wie auch gegen Unternehmen von großer Bedeutung sein und deren Erfolgsaussichten erhöhen. Das Urteil zeigt Bürger:innen, Richter:innen und Regierungen in ganz Europa, was in Sachen Klimaschutz erforderlich ist, um die Menschenrechte einzuhalten.”
Cordelia Bähr, leitende Rechtsanwältin der KlimaSeniorinnen
“Der Kampf um Klimagerechtigkeit hört in Strassburg nicht auf. Wir bringen die Geschichte der KlimaSeniorinnen auch vor den Internationalen Gerichtshof, wo Anfang nächsten Jahres Anhörungen zu den Klimagerechtigkeitsverpflichtungen aller Regierungen – auch der Schweiz – stattfinden werden”, sagt Louise Fournier, Juristin bei Greenpeace International, die das Rechtsteam der KlimaSeniorinnen unterstützt hat.
Konsequenzen auch für Deutschland
Die Entscheidung des EGMR kann auch für Deutschland Konsequenzen haben, denn die Deutsche Umwelthilfe (DUH) unterstützt derzeit neun Jugendliche und junge Erwachsene, die vor dem EGMR auf ähnliche Weise gegen die Bundesregierung und für einen ambitionierteren Klimaschutz klagen. Der Gerichtshof hatte die Entscheidung in diesem Verfahren so lange ruhend gestellt, bis über das Verfahren der Schweizer Klimaseniorinnen entschieden ist.
Dazu sagt DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch:
„Der Erfolg der SchweizerKlimaSeniorinnen ist ein wegweisender Durchbruch für den Klimaschutz und zeigt, dass auch unsere im Oktober 2022 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereichte Klage gegen die Bundesregierung Aussicht auf Erfolg hat. Denn nach wie vor gefährdet das ungenügende Klimaschutzgesetz die Freiheit und Lebensgrundlagen der jungen Beschwerdeführenden und zukünftiger Generationen. Zwar beteuert die Bundesregierung, Deutschland auf einen 1,5-Grad-Pfad bringen zu wollen, neueste Untersuchungen des Sachverständigenrats für Umweltfragen belegen allerdings, dass das 1,5-Grad-Budget für Deutschland bereits aufgebraucht ist. Das ist nicht akzeptabel und widerspricht den Menschenrechten. Anstatt wie von den Ampelparteien geplant, sollte das bestehende Klimaschutzgesetz nicht entkernt, sondern umgekehrt konsequent umgesetzt und die Zielvorgaben verschärft werden.“
Beitragsbilder: © Shervine Nafissi / Greenpeace