Good Clothes, Fair Pay

Aktivistin Nasreen Sheikh über die Potenziale einer nachhaltigeren Modeindustrie

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von | 5. Juli, 2023

Als Zehnjährige arbeitete Nasreen Sheikh in einer Textilfabrik, heute ist sie Aktivistin für eine nachhaltigere Modeindustrie. Im Interview spricht sie über ihr bewegtes Leben und darüber, wie die Initiative Good Clothes, Fair Pay helfen kann.

Nasreen kommt aus Rajura, einem kleinen, nicht dokumentierten Dorf an der Grenze zwischen Indien und Nepal. Ihren Nachnamen kennt sie nicht, ebenso wenig ihr Geburtsdatum, denn das spielt in Rajura keine Rolle. Umso besser lernt sie in ihrer Kindheit Gewalt kennen, die sich vor allem gegen Frauen richtet.

Im Alter von zehn Jahren reist sie mit ihrem Cousin nach Kathmandu, der Hauptstadt von Nepal. Der Sehnsuchtsort vieler wird für das Mädchen zum Ort der Arbeit. Bis zu 15 Stunden arbeitet sie dort täglich in der Art von Textilfabrik, die man unter dem Begriff Sweatshop kennt. Als der Sweatshop zwei Jahre später geschlossen wird, beginnt für Nasreen ein Leben auf der Straße. 

Mode ist Handarbeit: Nasreen an der Nähmaschine
Nasreen an der Nähmaschine. Foto: Nasreen Sheikh

Die Storyline ihres weiteren Lebenswegs erinnert dann vielmehr an einen Hollywoodfilm: Durch einen streunenden Hund lernt sie Leslie John kennen, der ihr schließlich Lesen und Schreiben beibringt. John war es auch, der ihr den Nachnamen „Sheikh“ gab – nicht wahllos, wie Nasreen erst Jahre später versteht. Denn im Arabischen ist „Sheikh“ Männern an der Spitze einer Hierarchie, etwa eines Stammes oder der Königsfamilie, vorbehalten.

John hilft ihr, eine Geburtsurkunde zu beantragen. Er schätzt ihr Geburtsdatum auf den 11.11.1991. Bis Nasreen Sheikh allerdings tatsächlich offiziell zu Nasreen Sheikh wird, dauert es elf Jahre. Die Mühlen der Bürokratie mahlen in Nepal besonders langsam. Als sie die Urkunde schließlich bekommt, ist sie voller Rechtschreibfehler und Datumsdiskrepanzen. 

All das hält Nasreen Sheikh nicht von einem beeindruckenden Tatendrang ab: Mit 16 wird sie Gründerin des ersten Sozialunternehmens in Kathmandu, mit 24 erzählt sie auf einer Konferenz für weibliche Führungskräfte in Chicago ihre Geschichte. Heute ist Nasreen Gesicht der Bewegung für eine nachhaltigere Bekleidungsindustrie. Im Interview erzählt sie mehr über ihr bewegtes Leben – und gibt damit einen Einblick in das Dahinter: hinter die Kulissen der Fast Fashion-Läden, die noch immer Innenstädte dominieren, aber auch hinter eine Initiative, die diesen Status Quo mit viel Engagement zu ändern versucht:

GNM: Du bist in Indien aufgewachsen, hast Zwangsheirat, Kinderarbeit und extreme Armut erlebt – eine Lebenswirklichkeit, die sich die meisten unserer Leser:innen kaum vorstellen können. Welche Beziehung hast du heute, wo dein Leben ganz anders aussieht, zu dieser Vergangenheit?

Nasreen Sheikh: Ich glaube, am besten verstehe ich im Rückblick meine Erfahrungen als Überlebende moderner Sklaverei täglich durch meine gemeinnützige Arbeit mit Empowerment Collective und Local Women’s Handicrafts. Den Kern der modernen Sklaverei zu verstehen, war für mich der Schlüssel, um meine eigenen Traumata als Überlebende zu überwinden und zu heilen.

Ich habe die Möglichkeit, mich stark mit dem komplexen Thema der modernen Sklaverei und der Transparenz der Lieferketten zu beschäftigen und kann so den verarmten Gemeinschaften dienen, aus denen ich stamme. Gleichzeitig kann ich Spender:innen, Unternehmer:innen und andere Menschen zusammenbringen, die verstanden haben, dass sie ihr Vermögen überhaupt erst durch moderne Sklaverei angehäuft haben und es nun dem System zurückgeben wollen. 

Nasreen mit Tränen in den Augen während einer Rede vor den UN
Nasreen Sheikh bei einer ihrer internationalen Reden. Foto: Nasreen Sheikh

Der erste große Schritt zu diesem Engagement war die Gründung deines Sozialunternehmens. Wie hast du das geschafft und den Mut aufgebracht, diesen Schritt zu tun?

In meinem Fall war es eher blinder Mut. Mein Weg basierte auf dem Überleben und dem Versuch, in meiner Seele rein zu bleiben. Als ich sah, wie meine Schwester mit zwölf Jahren heiratete, rannte ich weg, als der Sweatshop schloss, floh ich auf die Straße, und als ich für die Heirat meiner eigenen Familie arrangiert wurde, wurde ich zu dem, was ich heute bin. Mein Leben basiert vor allem auf meinem Instinkt, zu überleben und dabei zu helfen, andere zu schützen. Der Rest war der Art und Weise geschuldet, wie die Natur aus Chaos Harmonie schafft und vielen freundlichen Menschen, die mich auf meiner Reise unterstützten.

Als ich 16 Jahre alt war, sah ich so viele Ungerechtigkeiten, die Frauen und Mädchen widerfuhren, dass ich mich entschloss, diesen Frauen und Mädchen zu helfen, die ebenfalls versuchten, zu überleben. Dies war die Geburtsstunde meines ersten bescheidenen sozialen Unternehmens Local Women’s Handicrafts.

Nasreen vor dem Geschäft von Local Women's Handicrafts

Seitdem hat sich viel getan, heute bist du Gesicht der Bewegung für eine nachhaltigere Bekleidungsindustrie. Was waren wichtige Meilensteine auf Ihrem Weg?

Die Konsumkultur hat lange die Ausbeutung der Ärmsten und Schwächsten vorangetrieben, indem internationale Arbeitsgesetze ausgenutzt wurden und Unternehmen gezwungen waren, ständig Kosten zu senken, um größere Gewinnspannen zu erzielen.

Ein neuer Bericht beleuchtet das überraschende Ausmaß des Problems und die Schuld einiger der reichsten Nationen der Welt: Laut dem Global Slavery Index 2023 der Menschenrechtsgruppe Walk Free leben fast 50 Millionen Menschen in moderner Sklaverei. Millionen von ihnen werden wegen des gesellschaftlichen Wunsches nach billigen Produkten ausgebeutet. 

Der Bericht zeigt, dass womöglich Waren im Wert von 468 Milliarden Dollar, die aus den G20-Ländern importiert werden, durch Zwangsarbeit hergestellt wurden. Darunter befinden sich Kleidungsstücke im Wert von 147 Milliarden Dollar. Wenn die Konsument:innen durch transparente Lieferketten die ganze Wahrheit darüber erfahren würden, wie sich ihr Konsum auf die Menschen und das Klima auswirkt, könnte dies tatsächlich ihr Konsumverhalten und ihre Geschäftspraktiken verändern. Das hätte auch eine gravierende Wirkung auf den Klimawandel. 

Als Organisatorin der Bewegung blicke ich sozusagen aus dem Zentrum des Geschehens. Heute werden von einigen der größten Modemarken bereits sichere und transparente Technologien eingesetzt, um die Authentizität und Herkunft von Produkten zu gewährleisten. Ich fordere alle großen Marken auf, dieselben Systeme für mehr Transparenz in der Lieferkette zu nutzen und so zu Vorbildern in der Modewelt zu werden, die sich für nachhaltige, langlebige Qualitätsprodukte einsetzen. Wir müssen der Wegwerfmode ein Ende setzen, wenn wir die moderne Sklaverei beenden wollen. Das sind die Meilensteine, auf die ich zusammen mit vielen anderen hinarbeite.

Nasreen mit Frau an einer Nähmaschine

Wie sieht diese Arbeit von dir genau aus? 

In den letzten acht Jahren habe ich einen Dokumentarfilm über moderne Sklaverei gedreht. Der Film ist eine Botschaft aus der Perspektive der Überlebenden. Er konzentriert sich nicht nur auf das Problem der 50 Millionen Menschen, die derzeit in Sklaverei leben, sondern auch auf die Lösungen, die weltweit gefunden werden müssen, um sie zu beenden. Empowerment Collective setzt sich für die Abschaffung der modernen Sklaverei ein, indem es marginalisierten Frauen in Nepal und Indien die Unterstützung und die Fähigkeiten gibt, die sie brauchen, um sich selbst zu versorgen. Außerdem spreche ich auf der ganzen Welt über diese Themen, um das Bewusstsein dafür zu schärfen.

Dann bist du also durch deine Arbeit noch immer mit deiner Heimat eng verbunden. Welche Bedeutung spielen Indien und Nepal heute für dich?

Mein Dorf ist eine einzigartige Gemeinschaft von Menschen, die in einem gemischten Religions- und Kastensystem leben und alte Kunst- und Kulturtraditionen bewahren. In Kathmandu kam ich in Kontakt mit den Arbeitsgemeinschaften und mit all den Kunsthandwerker:innen, die Teil der Tourismusindustrie in Thamel [touristisches Viertel in Kathmandu] sind. Ich liebe Nepal und seine Menschen, es ist so vielfältig, mit unglaublicher Kultur, Kunst und Tradition. Und ich glaube, dass Nepal die Möglichkeit hat, voranzugehen und zu zeigen, wie die ärmsten Länder der Welt gemeinsam das globale System verändern können.

Um diesen globalen Wandel voranzutreiben, unterstützt du auch die Kampagne #goodclothesfairpay der Initiative Solidaridad. Was willst du damit genau erreichen?

Mein Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass die EU-Länder nur noch Produkte mit komplett transparenten Lieferketten importieren und den Arbeiter:innen existenzsichernde Löhne bezahlt werden. Derzeit kann sich die Mehrheit der Textil- und Bekleidungsarbeiter:innen kein sicheres Leben leisten und verfügt nicht einmal über grundlegende Menschenrechte. Ihre Kinder wiederholen denselben Kreislauf.  

Nasreen mit Frauen aus ihrer Heimat. Foto: Foto: Nasreen Sheikh
Nasreen mit Frauen aus ihrer Heimat. Foto: Foto: Nasreen Sheikh

Die Kampagne „Good Clothes, Fair Pay“ [Gute Kleidung, gerechte Entlohnung], der mehr als 57 Organisationen in der ganzen Welt angehören, fordert eine Gesetzgebung für existenzsichernde Löhne in der Bekleidungs-, Textil- und Schuhindustrie. Die Kampagne möchte, dass Unternehmen, die Produkte in den Mitgliedsländern der EU herstellen und verkaufen, gesetzlich verpflichtet werden, bestimmte Anforderungen in Bezug auf existenzsichernde Löhne, Menschenrechte und Nachhaltigkeit zu erfüllen.

Ihr Ziel ist es, die Unterschriften von einer Million EU-Bürger:innen zu sammeln. Das ist das Minimum, das erforderlich ist, um die Kampagne als europäische Bürger:inneninitiative zu registrieren und die Europäische Kommission aufzufordern, einen Gesetzesvorschlag zu machen.

Wie schaffen wir es, trotz all der Missstände in der Modeindustrie optimistisch zu bleiben?

Einerseits steigt der Modern Slavery Index – auf dem Rücken von Kinderarbeiter:innen wie mir und einer Konsumkultur, die sich des Leids, das sie verursachen, nicht bewusst ist. Andererseits wächst aber auch eine weltweite Stimme des sozialen Bewusstseins und der Verantwortlichkeit, die es so noch nie gab. Um eine gewaltige Aufgabe wie die Abschaffung von Fast Fashion oder moderner Sklaverei in der Lieferkette anzugehen, ist es sehr wichtig, positiv zu bleiben und diese Entwicklung zu sehen.

Das Unglaubliche und Inspirierende an meiner Aufgabe ist vor allem, mehr und mehr die breite Unterstützung zu spüren. Jeden Tag wachen Menschen auf und erkennen, dass Sklaverei in Form von Fast Fashion existiert. Die Good Clothes-Kampagne hat bis heute bereits 208.826 Unterschriften erreicht. Ihr Erfolg würde allen zugutekommen.

Beitragsbild: Nasreen Sheikh

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    Nina Kegel

    Nina ist stellvertretende Chefredakteurin beim Good News Magazin und vor allem eins: Neugierig. Immer auf der Suche nach Good News beschäftigt sie sich am liebsten mit Themen rund um einen nachhaltigen Wandel – egal ob kreatives Bauprojekt, ökologische Initiative oder innovatives Unternehmenskonzept, sie lässt sich für vieles begeistern. Außerdem studiert sie im Master Medienkultur und Globalisierung.

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