Die Bildungschancen in Deutschland sind ungerecht verteilt. Dabei gibt es Möglichkeiten, Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Einige Bundesländer haben sich schon auf den Weg gemacht. Doch es wird Zeit, dass noch viel mehr passiert.
Bekannt ist es schon lange, aber noch hat sich nicht viel bewegt: Die Bildungschancen sind in Deutschland ziemlich ungleich verteilt. Wer Eltern hat, die selbst aufs Gymnasium gegangen sind und studiert haben, hat statistisch um ein Vielfaches bessere Chancen, ebenfalls Abitur zu machen und zu studieren als Kinder, deren Eltern beide kein Abitur haben. Natürlich muss nicht jeder studieren. Aber wer das Abitur schafft, hat später vielfältige Möglichkeiten – und verdient im Durchschnitt netto 42 Prozent mehr im Monat.
Hinter den Abschlüssen steckt aber noch mehr: Viel zu viele Kinder und Jugendliche in Deutschland lernen nicht gut genug lesen und schreiben. Man braucht nicht viel Fantasie, um zu verstehen, dass das auch für die Demokratie ein großes Problem ist, erst recht in Zeiten von Fake News, Verschwörungsmythen und gezielter Desinformation. Um letzteres zu bekämpfen, müsste zwar vor allem mehr Medienkompetenz vermittelt werden. Doch auch dafür braucht es zuerst einmal Lesekompetenz.
Was würde nun helfen, die Bildungschancen in Deutschland gerechter zu verteilen? Mit den folgenden vier Maßnahmen würde sich schon viel verbessern.
1. Grundschule bis zur sechsten Klasse
Ein Ansatz, der schon seit Jahrzehnten diskutiert wird, ist ein späterer Übergang von der Grundschule auf weiterführende Schulen. Im internationalen Vergleich ist es eher unüblich, dass sich die Wege der Kinder schon nach der vierten Klasse trennen, wie es in Deutschland meist der Fall ist. Studien zeigen immer wieder, dass sich die Chancen von Schülerinnen und Schülern aus benachteiligten Familienverhältnissen verbessern, wenn die Auswahl für das Gymnasium später erfolgt. Denn dadurch haben sie mehr Zeit, die Nachteile, die sie zu Beginn ihrer Schulzeit hatten, aufzuholen.
Allerdings ist die Verlängerung der Grundschulzeit bis zur sechsten Klasse in Deutschland nicht besonders populär. In Hamburg scheiterte 2010 ein Volksentscheid über diese Frage nicht zuletzt am Widerstand eher privilegierter Eltern, die fürchteten, dass ihre Kinder nach der sechsten Klasse womöglich schlechtere Chancen haben könnten, ein Gymnasium zu besuchen. Diese Befürchtungen sind zwar verständlich. Auf lange Sicht darf es aber nicht sein, dass die Angst vor dem Verlust eigener Privilegien eine grundsätzlich gerechtere Schulstruktur verhindert.
In Berlin und Brandenburg dauert die Grundschule dagegen schon lange grundsätzlich sechs Jahre. Ein Wechsel aufs Gymnasium ist zwar auch schon nach der vierten Klasse möglich. Die meisten wechseln jedoch später. Und siehe da: Eine neue Studie zeigt, dass die Bildungsgerechtigkeit hier deutlich stärker ausgeprägt ist als im Rest des Landes.
Die Süddeutsche Zeitung fasst die Ergebnisse so zusammen: “In Berlin und Brandenburg (…) ist es etwa halb so wahrscheinlich (zu 54 beziehungsweise 53 Prozent), dass Kinder aus benachteiligten Verhältnissen ein Gymnasium besuchen wie Kinder aus privilegierten Verhältnissen. Bundesweit liegt der Wert bei 45 Prozent. Am niedrigsten ist er in Bayern mit 38 Prozent und in Sachsen mit 40 Prozent.”
Es wäre also Zeit, dass noch mehr, wenn nicht alle Bundesländer den Kindern länger Zeit geben, gemeinsam zu lernen. Gerecht verteilt wären die Chancen auch dann noch lange nicht. Aber es wäre eine wichtige Verbesserung.
2. Ein verpflichtendes Vorschuljahr mit gezielter Sprachförderung
Der Blick auf die gemeinsame Schulzeit reicht aber nicht aus. Denn wichtige Weichen werden noch früher gestellt. Bei vielen Kindern, die in der Schule nicht ausreichend mitkommen, sind schlechte Deutschkenntnisse ein zentrales Problem. Ein Grund dafür kann sein, dass ihre Eltern selbst nicht gut Deutsch sprechen. Ein anderer, dass ihnen die Eltern kaum vorgelesen haben. Manchmal kommt auch beides zusammen. Wie aber sollen die Kinder in der Schule richtig lesen und schreiben lernen, wenn sie noch nicht einmal richtig Deutsch sprechen können?
Baden-Württemberg hat deshalb beschlossen, die Vorschule wieder einzuführen. Das Konzept mag altmodisch klingen, aber der Nutzen ist klar. Schätzungen des Kultusministeriums in Baden-Württemberg gehen davon aus, dass 30 Prozent der Kinder zu Beginn der Grundschule sprachlich nicht weit genug sind, um richtig loslegen zu können. In einem verpflichtenden Vorschuljahr sollen sie deshalb gezielte Sprachförderung erhalten.
Auch Berlin hat vor Kurzem bekannt gegeben, weiter in diese Richtung zu gehen und ein “Kita-Chancenjahr” einzuführen. Kinder, die keine Kita besuchen, sollen dabei gezielte Sprachförderungsangebote erhalten. Schon jetzt müssen Kinder in Berlin 15 Monate vor ihrer Einschulung einen Sprachtest absolvieren. Wenn dort Defizite festgestellt werden, müssen sie verpflichtend ein Jahr vor Schulbeginn einen Sprachkurs in einer Kita besuchen. Diese Förderung soll nun noch besser umgesetzt werden. Auch Hamburg hat ein spezielles Programm zur Sprachförderung in Kitas.
Dass alle Kinder bei der Einschulung gut Deutsch sprechen müssen, ist klar. Programme, die das fördern, müsste es in ganz Deutschland geben. Wichtig ist das nicht nur für die Chancengleichheit, sondern auch für das Funktionieren von Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie.
3. Kita für alle
Die Frage ist nur: Warum die Kita-Pflicht auf Kinder mit besonderen Sprachschwierigkeiten im Alter von vier oder fünf Jahren beschränken? Am besten und schnellsten lernen Kinder eine Sprache im Krippenalter. Und eine Studie hat gerade bestätigt: Ein Kita-Besuch kann soziale Unterschiede angleichen. Da Ängste vor einem frühen Krippenbesuch in Deutschland weit verbreitet sind, könnte man zunächst mit einem Alter ab drei Jahren anfangen. Aber warum nicht den Kita- oder Kindergartenbesuch ab diesem Alter zur Regel machen, so dass alle Kinder ausgiebig Zeit haben, vor Schulbeginn ihre Sprachfähigkeiten zu entwickeln? Die aufwändigen Screening-Verfahren würden damit wegfallen. Zudem ist der Besuch einer Kita auch sehr förderlich für die sozialen Kompetenzen. Auch das wird in der Studie erwähnt.
Man müsste die Kita-Pflicht auch nicht so streng auslegen wie derzeit die Schulpflicht. Wahrscheinlich würde es schon reichen, den Kita-Besuch zum Standard zu machen und Familien, die dem nicht nachkommen wollen, dazu zu verpflichten, überzeugend nachzuweisen, warum dies nicht notwendig ist. 92 Prozent der Kinder ab drei Jahren besuchen ohnehin schon einen Kindergarten oder eine Kita. Doch auch die übrigen acht Prozent sollten so früh wie möglich Deutsch lernen.
Ein Hindernis ist zurzeit natürlich noch, dass es nicht genügend Kita-Plätze gibt. Allerdings betrifft das in erster Linie die Krippen. An der Notwendigkeit, auf allen Ebenen genügend Plätze zu schaffen, führt aber auf lange Sicht ohnehin kein Weg vorbei. Auch dann bleibt zwar noch die Herausforderung des Fachkräftemangels. Aber auch hier gibt es Lösungsansätze wie eine bessere Bezahlung, flexiblere Arbeitszeiten und praxisnahe, bezahlte Ausbildungen.
4. Mehr Ganztagsangebote an Schulen
Noch einmal zurück an die Schulen: Neben der Länge der gemeinsamen Schulzeit in Jahren ist ein weiterer Hebel für Bildungsgerechtigkeit die Zeit, die die Schüler:innen pro Tag zusammen verbringen. Schon in den Sommerferien fallen Kinder aus benachteiligten Verhältnissen oft zurück, weil sie in der Zeit weniger Neues aufnehmen als andere. Ebenso macht es am Nachmittag einen Unterschied, ob sich die Eltern kümmern, kompetent bei den Hausaufgaben helfen und vielleicht noch Vereinssport oder Musikunterricht ermöglichen – oder ob sie ihre Kinder weitgehend sich selbst und ihren Handys und Konsolen überlassen. (Ich erlebe diesen Unterschied Woche für Woche ziemlich drastisch im Freundeskreis meiner Tochter). Eine Möglichkeit gegenzusteuern, ist der flächendeckende Ausbau von Ganztagsschulen. Allerdings gibt es in den meisten Städten noch nicht genügend Angebote. Auch Sportvereine sind heute nicht mehr automatisch der Sammelpunkt, wo sich verschiedene Kulturen und Klassen treffen und gemeinsam einen Teil ihrer Freizeit verbringen. Gerade Kinder aus Gegenden mit vielen sozialen Problemen finden oft keinen Weg in einen Sportverein.
Der Verein Alba Berlin hat deshalb ein Programm mit Sport- und Bewegungsangeboten für diese Kinder entwickelt, und zwar nachmittags, an Schulen in ganz Deutschland. Das Programm wird wissenschaftlich begleitet. Im Mittelpunkt steht nicht nur Bewegung, was angesichts oft schlechter Ernährung, zu viel Zucker und zunehmendem Übergewicht bei Kindern schon reichen würde, sondern auch soziale Teilhabe. Oft arbeiten deshalb nicht nur klassische Sporttrainerinnen, sondern auch mit Sozialpädagogen mit den Kindern und Jugendlichen zusammen. Und ganz abgesehen davon, dass regelmäßige Bewegung allein schon dabei hilft, konzentriert zu lernen, können solche Programme auch dabei helfen, soziale Probleme in der Familie noch etwas mehr hinter sich zu lassen – und sozial und körperlich gestärkt in den nächsten Schultag zu gehen.